"Bei der Verabreichung von Medikamenten werden Kinder oft wie kleine Erwachsene behandelt. Aber nicht einmal 50 Prozent der Medikamente sind auch für Kinder zugelassen.
Besonders Frühgeborene oder Kinder mit seltenen bzw. schwerwiegenden Erkrankungen sind von dem Mangel an kindgerechten Medikamenten betroffen. Denn sie bekommen unter Umständen große Mengen, die nur an Erwachsenen getestet wurden und über deren Nebenwirkungen bei Kindern nichts bekannt ist. Auch bezüglich der kindgemäßen Dosierung können sich die Ärzte häufig nur auf ihre Erfahrung verlassen. Denn die Dosierung lässt sich nicht einfach auf das Alter der Kinder "herunterbrechen". Es besteht ständig die Gefahr einer Über- oder Unterdosierung und heftiger Nebenwirkungen. Das bestätigen Untersuchungen aus Großbritannien und Frankreich. Im Vergleich mit bestimmungsgemäßen Anwendungen kommen schwere Nebenwirkungen bei Kindern doppelt so oft vor.
Was an Kindern anders ist
Es dauert bis zur Pubertät, bis Medikamente bei Jugendlichen ähnlich wie bei Erwachsene wirken. Davor sind die Unterschiede groß. Bei Früh- und Neugeborenen z.B. geschieht die Medikamentenaufnahme aus dem Darm noch sehr langsam, weil ihr Magen weniger Säure produziert und Gallenfluss sowie Darmbeweglichkeit geringer sind. Auch die Arzneimittelverteilung im Körper gestaltet sich aufgrund des höheren Wassergehalts und der geringeren Muskelmasse anders als bei älteren Kindern.
Am gravierendsten aber sind die Unterschiede in der Verarbeitung in der noch unreifen Leber und in den Nieren. Im Säuglings- und Kleinkindesalter sind die beiden Organe in der Wachstumsphase. Sie verarbeiten Arzneimittel sehr viel schneller als Neugeborene und scheiden sie auch schneller wieder aus.
Vor allem chronisch kranke Kinder brauchen sichere Medikamente.Weitgehend unerforscht ist derzeit noch, wie einzelne Medikamente auf bestimmte Organe und Organsysteme (z.B. Immunsystem, Geschlechtsorgane) bzw. das Gehirn einwirken. Bei Kindern, die noch wachsen, könnten falsch dosierte Medikamente derzeit noch nicht absehbare Entwicklungsschäden verursachen.
Studien an Kindern - ein ökonomischer Faktor?
Tatsächlich rechnen sich Medikamente für Kinder bei der Pharmaindustrie kaum. Denn Kinder sind seltener und weniger schwer krank; manche Krankheiten treten bei Kindern fast gar nicht auf. Noch dazu sind Studien teuer, denn es muss für verschiedene Altersstufen getrennt getestet werden.
Da die Studien an Kindern freiwillig sind, finden sich auch zu wenige Eltern, die ihre Kinder teilnehmen lassen. Die Motivation ist nur dann hoch, wenn die Kinder chronisch krank oder besonders schwer erkrankt sind.
Was die EU fordert
Arzneimittelstudien an Kindern - ein Thema, das heiß diskutiert wird und heftig umstritten ist. Denn mit klinischen Studien an nicht-einwilligungsfähigen Kindern wird an einem Tabu gerührt. Mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes wurden 2004 enge Vorgaben für solche Studien gemacht. Aus ethischen Gründen dürfen nach wie vor nur kranke Kinder an Arzneimittelstudien teilnehmen. Unter der Bedingung allerdings, dass die Anwendung des zu prüfenden Arzneimittels geeignet ist, das Leben der betroffenen Person zu retten, ihre Gesundheit wiederherzustellen oder ihr Leiden zu erleichtern.
Neu ist allerdings, dass die kleinen Patienten nicht direkt von der klinischen Studie profitieren müssen. Ausreichend ist es, wenn für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden, die Prüfung von Nutzen ist.
In Zukunft (voraussichtlich Herbst 2006) will die Europäische Union Pharmahersteller verpflichten, neue Arzneien, die für Kinder nützlich sein können, grundsätzlich auch vorher an Kindern und Jugendlichen zu erproben.