Ich weiß nicht, welche Schulen die Menschen besucht haben. Ich habe bereits in den 80er Jahren in der Schule gelernt, daß mehrere Flüchtlingswellen zu erwarten sind und daß Europa darauf wird reagieren müssen und daß für diese zu erwartende Flüchtlingsaufnahme eine weitreichende europäische Einigung notwendig werden wird. Ich war auf einem humanistischen Gymnasium und wir hatten die Geschichte im Leistungskurs auf diese Weise analysiert. Nicht nur wir dummen Schüler wussten das in den 80er Jahren schon, sondern auch gebildete Erwachsene.
Ich bin persönlich unendlich grellig über das momentane Politikversagen lange nicht nur in der Flüchtlingsaufnahmepolitik (das Wort verwenden sie ja noch nicht mal, die Idioten.). Aber: wenn ich es objektiv betrachte dann können die Menschen mal wieder nix dafür. Daß sie gar nichts dafür können kann man nicht sagen. Sie haben es gewusst und sind in den Bemühungen sich europäisch zu einigen, wie man mit den Flüchtlingsströmen umgehen muß gescheitert. Bisher. Aber: sind sie das schuld, daß die europäische Einigung so langsam vorangeschritten ist? Nein, sind sie eher nicht. Menschen sind Geschichte im Allgemeinen nicht "schuld", sie passiert einfach.
Und mitten in dieser Katastrophe stecken wir hier, mit unseren Luxusproblemen, während weltweit eine Menge der momentan in Deutschland Lebenden an Unterernährung stirbt.
Man sieht: Luxus verursacht nur Probleme. Er unterminiert die Werte einer Gesellschaft, höhlt sie aus und ersetzt wertegebende Aspekte durch Geld. Durch konsumierbare Artikel, deren Endprodukte Müll sind, der die Umwelt verschmutzt und in Afrika auf grossen Haufen abgeladen wird. Er verpestet die Weltmeere, zerstört Biotope, verursacht Krankheit, Leid und Tod. Warum? Weil ich hier im Luxus lebe, letztlich. Selbst als Selbständiger an der Armutsgrenze lebe ich hier im Luxus und werde mit Luxusproblemen beschäftigt.
Mich kotzt das an und ich bin das sausatt. Und daher habe ich die Entscheidung getroffen, weg zu gehen. Schon vor sieben Jahren. Ich bereite seither mein Leben so darauf vor, daß ich zurück kommen kann und sicher Arbeit habe, und wieder gehen kann wann ich will, eine Bleibe zu haben in die ich kommen kann und an der ich meine Heimat empfinde - rein örtlich und familiär - und ansonsten ein angstfreier Mensch zu werden. Beziehungsweise ein Mensch, der eben Ängste toleriert. Denn es macht mir schon Angst, dahin zu gehen, wo die Menschen bleiben sollten und dort so wie ich als Einzelner es eben kann mit dafür zu sorgen, daß das besser möglich ist. In diesen Ländern ist Armut, Terror, Krieg, die Sicherheit ist geringer und es sind im vergangenen Jahr immerhin 159 Menschen in dem bemühen, dort zu helfen wo Hilfe am meisten Sinn macht, umgekommen. Das macht Angst.
Ich kann wählen: will ich die Wut, die ich habe, wenn ich hier tagtäglich lebe und dieses System dabei auch noch fördern muß, weiter täglich haben, oder will ich die Angst haben, die es macht, die Heimat zu verlassen und dort zu arbeiten, wo Armut, Krieg und Terror ist? Ich kann wählen zwischen Wut und Angst. Ich das nicht letztlich grauenhaft? (und: Nein, meine Gefühle müssen nicht therpiert werden, denn sie sind die Grundlage meiner Wahrnehmung. Ich bin ein Mensch und in Gesprächen kein Versuchs- und Veränderungsobjekt.)
Wer mich kennt, der weiß, daß ich gründlich in Klausur gegangen bin, vor allem im vergangenen Jahr, um mit mir über diese Wut-Angst-Frage ins Reine zu kommen und die richtige Motivation für mein Vorhaben zu finden. Ich hatte das so geplant, daß ich nach meiner Entscheidung, nur noch sieben Jahre diesen sinnlosen Luxuszirkus mitzumachen, sechs Jahre nicht weiter drüber nachdenke und dann meine Entscheidung in einem Klausurjahr entweder revidiere und eine gänzlich andere Richtung einschlage oder die Entscheidung dann umsetze. Meine Familie, mit meiner Mutter waren viele Gespräche nötig, ihre Angst ist meine Angst, ich weiß genau was sie fühlt, wenn ich das mache, aber sie hat es mir heute erlaubt, weil ich sie darum gebeten habe das zu tun. Denn es ist überhaupt kein schönes Gefühl, die eigene Mutter, die für mich eine ganz andere Bedeutung hat als für andere die ich so kenne, hier ohne mich zu lassen. Sie ist ein Teil von mir, ich bin ein Teil von ihr und uns ist das beiden bewusst, anders als das bei anderen Söhnen und Müttern so der Fall ist. Wegen meiner kranken Kindheit und dem frühen Tod des Vaters bin ich emotional einfach sehr mit ihr verwachsen. Man mag darüber lachen, aber es kommt eben vor, daß ein Mann in den Mittvierzigern sich noch immer schwer tut, seine Mutter "zu verlassen". Skype hin oder her.
Aber: diese Klausur, die das alles beinhaltet hat, ist nun abgeschlossen. Ich danke Gott, daß ich bin, und zwar als freier Mensch, mit freiem Geist, klarem Gedanken und Würde. Wollen wir mal sehen, ob sich das mit der Würde verbreitet. Hierzulande ist die Chance auf jeden Fall gering, denn die Lebensbedingungen sind ja schon würdelos. Also breche ich eben auf in noch würdelosere Bedingungen. Mag paradox sein, ist aber logisch.