Hallo Kniesebein,
zuerst mal alles Gute für Deine OP und ein gelösteres Danach!
Natürlich kann ich die Vergangenheit nicht umschreiben, sie existiert nicht nur in meinem Gehirn. Das was ich versuchen kann ist, dass ich verzeihen lerne oder besser es versuche. Es ist halt nur sehr schwer. Wie soll man Menschen verzeihen die einem missbraucht oder misshandelt haben. Therapie hilft ein bisschen es im Kopf verstehen zu lernen, aber solange es nicht im Herzen geschieht, hilft alles nichts.
Letzteres sehe ich auch so die Dinge bewegen sich, wenn sich der Mensch gesamthaft bewegt, mit "Herz und Hirn", mit Verstand und Emotion und Aktion. Meine persönliche Einstellung zu Therapieformen, die sich rein aufs Mentale konzentrieren, ist ziemlich hinterfragend ... zum Glück werden jene Verfahren zunehmend stärker repräsentiert, die den ganzen Menschen sehen und ihn nicht nur auf ein verkürztes Verständnis von Bewusstsein reduzieren.
Was nun die Vergangenheit anlangt: Nach meiner Sicht besteht Vergangenes aus zwei Komponenten: Das eine ist die Faktizität, und die ist vorbei. Das andere ist das, was sich eh schon in der Sprache ausdrückt: Das Faktische ist Geschichte geworden. Eine Geschichte, die aus dem besteht, woran ich mich erinnere (auch das wieder "mit Haut und Haaren", im emotionalen Gedächtnis ebenso wie im mentalen). Auch das, woran wir uns gemeinsam erinnern ... die Erinnerung einer Familie oder einer Lebensgemeinschaft an ihre Geschichte, die Erinnerung einer Nation an ihre Geschichte ... und solche Geschichte

sind in hohem Maße Identität stiftend. Darum werden Kriege geführt. Und in vielen Bereichen treten enorme Widerstände auf, wenn an solche Geschichte

gerührt werden soll ... weil es scheinbar die Identität gefährden würde.
Wenn ich davon rede, dass solche Konstrukte von Vergangenheit auch geändert werden könnten, dann geht es mir selbstverständlich nicht darum, sich in die eigene Tasche zu lügen oder andere über Geschichte zu belügen, indem andere Geschichten aufgetischt werden. Ich nehme mal das von Dir gewählte Beispiel des Missbrauchs. Ich kenne einige Menschen, die in ihrem Leben Missbrauch erlitten haben, und die meisten von ihnen haben es "gelernt", ihre Identität ganz stark rund um diesen Missbrauch zu konstruieren, als Opfer. Das tief sitzende Trauma strahlt so in alle möglichen Lebensbereiche hinein, auch in solche, die kaum etwas damit zu tun haben können, das gesamthafte Bewusstsein, Missbrauchsopfer zu sein, wird zum konstituierenden Lebensgefühl (das ist selbstverständlich sehr verkürzt und allgemein dargestellt als Modell). Damit hat das Schlimme weiterhin und nachhaltig Macht über das Opfer.
Ist Verzeihen eine Möglichkeit, dieser destruktiven Fixierung zu entkommen? Vielleicht, aber ich meine, dass es eine sehr, sehr anspruchsvolle (Heraus-)Forderung an ein Opfer ist, es solle seinem Täter verzeihen. Und ich meine vor allem, dass es auch nicht nötig ist. Ich lade da zu einem Gedankenexperiment ein: Wenn es dem Opfer eines Missbrauchs gelänge, zum Täter zu sagen, in Gedanken: "Das Schlimme an Deiner Tat lasse ich bei Dir Schuld, Scham, Verletzung gehören zu Dir. Ich bin davon frei. Ich trage nur das, was meins ist!" ... wenn das nicht nur aufgesagt, sondern zur inneren Haltung wird, ist auch ohne Verzeihen die klare, lösende Trennlinie gezogen. Man/Frau braucht sich nicht mehr als Opfer zu sehen, die Identität verbiegende Macht ist auf sich selbst zurückgesetzt.
Der Weg dorthin ist oft sehr schwer und manchmal ermutigend leicht, das hängt von vielen Umständen ab (und ich meine, auch von Zeitqualität ... die beeinflusst auch, wie ich mir meine Geschichte

erzähle). Und ich meine, es ist keine Lüge, sondern eine Lösung, wenn es gelingt, die eigene Identität nicht als fremdbestimmtes Opfer, sondern als selbstbestimmter Mensch zu konstruieren. Genauer müsste man natürlich sagen "relativ fremdbestimmt" und "relativ selbstbestimmt" ... wie gesagt, es geht hier ja vor allem ums Modellhafte, da darf man auch radikaler formulieren.
Und wo das gelingt, hat sich nichts an der Faktizität des Vergangenen geändert ... aber es wird alles anders, was daraus zur Geschichte wird.
Auf Astrologie umgelegt heißt das für mich auch: Wenn ich die Geschichten, die sich aus Konstellationen konstruieren lassen, so erzähle, dass daraus das wird, was immer schon daraus geworden ist, dann wird's genau das: was immer schon so war. Wenn ich den Fokus auf die Potenziale richte, auf die Möglichkeiten und Herausforderungen einer Konstellation, dann befreie ich mich vom Opfer zum Gestalter meiner Zeitqualität.
Mir gefällt da ein Zitat, das Henry Ford II. zugeschrieben wird: "Ob du glaubst, du schaffst es, oder ob du glaubst, du schaffst es nicht: Es wird stimmen!"
Alles Gute noch einmal, Kniesebein,
liebe Grüße,
jake