Die Geschichte von den Spiegeln
Mir ist zu Ohren gekommen, daß vor langen, langen Zeiten, in einem entfernten Reich, zur Zeit, als daselbst die ersten Spiegel auftauchten, folgendes geschehen sein soll:
Die meisten Menschen erschraken über das, was sie im Spiegel sahen. Sie gefielen sich nicht, und sie wollten das, was sie zu sehen bekamen, nicht glauben. Die Spiegel wurden deshalb verboten, und da ihr gelegentliches Auftauchen nicht völlig ausgemerzt werden konnte, wurden ihr Besitz, der Handel damit, die Einfuhr und Herstellung sowie ihr Gebrauch mit schwersten Strafen belegt.
Bald merkte man aber, daß der Kontakt mit den Spiegeln im Bewußtsein dieser Menschen bereits unwiederbringlich etwas verändert hatte. Auch wenn sie sich nicht anschauen mußten, war ihnen bewußt, daß die anderen sie sehen konnten. und sie selbst sahen auch die anderen, die wiederum beschämt waren darüber, daß sie gesehen wurden. Sie erkannten, daß sie einander gegenseitig Spiegel geworden waren.
Auch dieses Problem wurde gelöst: Die Wahrnehmung wurde verboten oder doch zumindest äusserst eingeschränkt. Bald schaute niemand mehr dem andern direkt und unverblümt ins Gesicht. Man mied es, sich anzuschauen und angeschaut zu werden. Ein solches Verbot wurde nicht mit Gesetzen durchgebracht, sondern auf viel subtilere Weise, mit moralischen Mitteln. Es galt als taktlos, als unfein, als unerzogen, hinzuschauen, wie es bald nur noch Kinder taten. Je mehr man auf sich hielt, desto mehr schränkte man seine Wahrnehmungen ein und vermied den sinnlichen Kontakt mit seiner Umgebung.
Natürlich das das Problem damit nicht aus der Welt geschafft: Wie immer in solchen Fragen, waren die Menschen nicht nur abgestossen durch das, was sie scheuten, sondern ausserordentlich davon angezogen. Und das Verbot, mit dem die ganze Angelegenheit belegt war, trug dazu bei, sie interessant zu machen. So tauchten denn auch immer wieder irgendwo irgendwelche Spiegel auf; und die schwersten Strafen nützten nichts, sie ganz auszurotten, und es gab auch immer wieder Menschen, ja ganze Schulen und Bewegungen, die sich darum kümmerten, der freien Wahrnehmung wieder zu ihrem Recht zu verhelfen.
S. Widmer