Russische Darstellung
Russland sieht sich als direkte Fortsetzung der Kiewer Rus und verweist dazu auf mehrere Umstände. Zu ihnen gehört zum einen die direkte dynastische Herrschaftsfolge zwischen dem Kiewer und Moskauer Reich. Die rurikidischen Moskauer Großfürsten und Zaren sahen sich als einzig verbliebenen legitimen Erben der Kiewer Fürsten, nachdem in anderen Teilfürstentümern der ehemaligen Kiewer Rus, die vom Großfürstentum Litauen und Königreich Polen einverleibt wurden, eine eigene Staatlichkeit sowie die Dynastie der Rurikiden erloschen waren. Zum anderen verlegte Metropolit Maximos den Hauptsitz der Russisch-Orthodoxen Kirche bereits 1299 von Kiew nach Wladimir, wenig später im Jahr 1325 kam dieser nach Moskau.
In der russischen Historiographie wird das Kiewer Reich traditionell als einheitliches ostslawisches (russisches) Reich verstanden. In der Zarenzeit herrschte die Ansicht vor, dass es sich bei den Groß-, Klein- und Belarussen um drei Linien des russischen Volkes handelt, das schon zur Zeit der Kiewer Rus bestand.
In der Sowjetunion hatten die Ukrainer und die Belarussen im Gegensatz dazu den Status eigenständiger Völker, die sich jedoch, wie auch das russische, aus einem zwischenzeitlich vollständig herausgebildeten altrussischen Volk entwickelt haben sollen.
Sowohl das Russische Kaiserreich als auch die Sowjetunion hatten das Selbstverständnis eines „gemeinsamen Staates der Ostslawen“ und sahen sich nicht nur dazu berechtigt, sondern auch in der historischen Pflicht, alle ostslawisch geprägten, ehemaligen Gebiete der Kiewer Rus in sich zu vereinen („Sammlung der russischen Erde“).
In diesem Kontext standen die meisten russisch-litauischen und russisch-polnischen Kriege, die polnischen Teilungen von Katharina der Großen, die Einnahme Galiziens im Ersten Weltkrieg, die sowjetische Besetzung Ostpolens im Zweiten Weltkrieg und der russisch-ukrainische Krieg.