In den Gettos von Paris -
Mädchen in den Vorstädten der Weltstadt.
Am Saint-Michel steigen praktisch nur Beurs und Blacks in die Schnellbahn, die in zehn Minuten aus dem Stadtzentrum nach Vitry-sur-Seine rast. Beur, Beurette und Black heißen Frankreichs Nachkommen der meist in den 1960er Jahren eingewanderten Maghrebiner und Afrikaner. Hinter dem Gare d’Austerlitz an der südlichen Ausfahrt von Paris fährt die Schnellbahn durch ein unsympathisches Niemandsland: Schienen, Industrie, Baustellen, Abfall, Graffiti. Das ist der Gürtel um Paris, durch den der Tod der 17-jährigen Sohane wie ein Zündfaden zischt.
Die Schnellbahn bremst langsam ab. Auch wenn rund um den Bahnhof von Vitry-sur-Seine nur Blacks stehen, diskutieren oder vorbeigehen, befinden wir uns hier nicht in der für Weiße unbetretbaren Bronx. Die Leute weisen freundlich den Weg. Die gotische Kirche im Dorfzentrum von Vitry verleiht der Kleinstadt ein charmantes Gesicht. Außerhalb des Zentrums, in der Cité Balzac, ist jedoch im Oktober 2002 die 17-jährige Sohane bei lebendigem Leibe von einem Kameraden verbrannt worden. »Diese tragische Geschichte hat uns alle aufgerüttelt«, sagt im kolossalen Stadthaus aus rotem Backstein ein naher Mitarbeiter des kommunistischen Bürgermeisters der 80.000 Einwohner zählenden Vorstadt. Er spricht von den sozial bescheidenen Quartieren, den zwanzig Prozent Arbeitslosen und dem neu aufkeimenden Machismus. »Die kleinen Cäids – die Bandenführer – der Quartiere haben ihre eigenen Gesetze«, erklärt er und weist darauf hin, dass die Verwaltung daran sei, eine Notrufnummer für die Mädchen auf die Beine zu stellen.
Das Drama von Sohane. Vom Stadtzentrum zur Cité Balzac ziehen sich lange, gerade Straßen mit Pavillons und Gärten. Kleine Blacks fahren Dreirad im Hof eines Mehrfamilienhauses; die größeren stehen herum, basteln am Auto oder diskutieren. Die Frauen fahren die Mädchen im Auto von der Schule nach Hause. Die meisten verstecken ihr Haar unter einem Kopftuch.
Der flache Wohnblock, in dem Sohane ihre Kindheit verbracht hat, liegt am Ende einer langen, geraden Straße, nur wenige Schritte außerhalb der Cité Balzac. Ihr Vater, ein aus Algerien eingewanderter Maurer, hat seine Töchter wie seine zwei Söhne zu Selbstständigkeit, Respekt und Freiheit erzogen. Doch die Nachbarschaft mit den Jungs der Cité Balzac wurde Sohane zum Verhängnis. »Sie musste sterben, weil sie die Autorität eines kleinen Caïds nicht akzeptiert hat«, erzählt ihre ältere Schwester Kahina. Tapfer versucht sie die Traurigkeit in ihren Augen zu überspielen. Fast auf den Tag genau vier Monate nach Sohanes Tod wagt sich Kahina in die Öffentlichkeit, um Frankreich aufzurütteln: An diesem 3. Februar 2003 beginnt in Vitry-sur-Seine der Frauenmarsch »Ni putes, ni soumises«, was »Weder Dirnen noch Untergebene« bedeutet. Beschimpfungen wie »Dirne« oder »Schlampe« sind für diese Mädchen an der Tagesordnung. Sie demonstrieren und ziehen durch ganz Frankreich, um aus der großen, schweigenden Masse auszubrechen. Sie sind zehn, vertreten jedoch Hunderte, vielleicht Tausende, und klagen die Männer der Cités an. »Die Situation der Frauen in den Gettos gleicht einem goldenen Käfig«, betont Fadela, Präsidentin der Vereinigung »Maisons des Potes«, die diesen Frauenmarsch auf die Beine gestellt hat. »In den Quartieren wird eine jede Frau zur Schlampe, wenn sie nicht bereit ist, ihre Arme und Beine zu verhüllen, oder das Haar offen trägt«, präzisiert Safia, aufgewachsen in einem ähnlichen Quartier.
Der Mord wird verharmlost. Die Cité Balzac verdient ihren romantischen Namen nicht. Mehrere zehnstöckige, etwa hundert Meter lange Häuserblocks stehen rechtwinklig nebeneinander. Ein leichter Frühlingsregen begießt an diesem Nachmittag die Landschaft: Pärkplätze, Sporteinrichtungen und eine große Wiese. Noch ist das Gras von der brennenden Sohane angeschwärzt. Noch immer liegen rote Rosen neben der Erinnerungstafel aus dunkelbraunem Granit: »Sohane 1985–2002. Damit die Menschen in Frieden zusammenleben.« Ein paar Jungs lümmeln vor dem Eingang herum. Keine Türe, nur der Rahmen aus Eisen ist noch vorhanden, daneben der Tatort: ein etwa sieben Meter langer Müllraum. Dort hinein hat der 19-jährige Nono Sohane gezogen, einen Kanister voller Benzin über sie geleert und angezündet. Das ist die Version der Presse. »Es war ein Unfall. Es war nur ein Spiel. Der Funke sprang plötzlich auf sie hinüber. Wir haben versucht mit Kartons und Jacken das Feuer zu löschen. Wir schafften es nicht. Es war ein Unfall. Wir halten zu ihm. Er ist unser Freund«, erzählt eifrig Laurent*, ein hübscher Bursche mit schokoladenbrauner Haut, feinen Zügen und treuem Blick. Nono befindet sich in Untersuchungshaft wie ein weiterer Komplize, der anscheinend den Benzinkanister gekauft hat. War es vorsätzlicher Mord oder ein Unfall, wie Nono hinter Gittern behauptet? Die Liebesgeschichten der Cités spielen sich im Geheimen ab. Die meisten dieser Jungs und Mädchen entstammen muslimischen Familien und müssen bis zur Heirat jungfräulich bleiben. Plötzlich erscheinen beim Eingang gegenüber der Erinnerungstafel drei düstere Typen: Ein fettwanstiger Zwanzigjähriger platzt ins Gespräch und will wissen, worum es hier gehe. Nono war bisher der Cäid dieser Cité. Nun scheint dieser beleibte Bursche die Herrschaft der Cité Balzac übernommen zu haben. Diese Chefs bilden die Verbindungsglieder zwischen der Bevölkerung dieser sozial bescheidenen Quartiere und den Verbrechernetzen: Drogenhandel, Diebstahl, Hehlerei und Prostitution sind ihr Haupterwerb. Die Drogen und das Hehlergut werden in den berüchtigten Kellern der Cités eingelagert, in die sich die Polizei und die Mädchen kaum wagen. »Um nichts geht es hier. Um gar nichts. Wir pissen nachts darauf«, schreit der Dicke und zeigt auf Sohanes Erinnerungstafel im Gras, die bereits geschändet worden ist.
Die Gesetze der Vororte. »Beim Verbrechen an Sohane handelt es sich um die Abrechnung zwischen zwei Banden«, erklärt später selbstsicher der Polizeikommissar. Wahrscheinlich waren Drogen mit im Spiel. Auch verbotene Liebe. In jedem Fall: Sohane hatte nicht mehr das Recht, die Cité Balzac zu betreten. Die Burschen der Vororte stellen ihre eigenen Gesetze auf. Das jüngst verabschiedete französische Sicherheitsgesetz verbietet ihnen nun die Versammlungen in den Treppenhäusern. Doch auch in Asnières, nördlich von Paris, stehen sie in den Hauseingängen. Die Mädchen hätten nichts auf der Straße zu suchen, meinen sie. Zwischen den Häuserblocks von Asnières – die denjenigen von Vitry äußerst ähnlich sehen – befindet sich ein Spielplatz, umgeben von einem Spetzereigeschäft, einem Friseur und einer Tabakverkaufsstelle, alle von Leuten mit arabischer Herkunft geführt. Eine andere Frau erzählt, die Mädchen verschleierten sich, um sich vor den Jungs zu schützen. Nur so würden sie in Ruhe gelassen. Der Schleier verleiht ihnen Respekt. »Wenn die Jungs da sind, begleite ich sie oder lasse sie nicht hinaus.«
Erwartete Vergewaltigungen. »Man geht nicht in einen Keller, um ihn zu besichtigen, sondern wird mit Fußtritten hinuntergeprügelt«, erzählt Samira am Abend im Stadthaus von Asnières, wo »La marche des femmes« vorbeikommt. Im Keller von mehreren Burschen vergewaltigt, brauchte Samira zehn Jahre, um darüber sprechen zu können. Andere Mädchen schweigen weiterhin, denn der Verlust ihrer Jungfräulichkeit bedeutet die Verbannung aus der Familie. Diejenigen, die Geld haben, lassen sich wieder zunähen. »Tournantes« werden in Frankreich diese Vorstadtmädchen genannt, die kollektiv vergewaltigt werden. Auch das ist für die Jungs ein Spiel. »Wenn ein Mädchen einem Burschen gefällt, lädt er es nach Hause oder in einen Keller ein: Dort warten dann bereits die anderen«, erzählt der 20-jährige Vincent* in La Courneuve. Der sanftmütige gebürtige Ivorer ist ein kleiner Cannabishändler und hat für diese Spiele seiner Kameraden nichts übrig. Er habe nie mitgemacht, doch er wisse, sein Mädchen mit den anderen zu teilen sei für diese Burschen eine Ehre. Rund 100 Prozesse wegen »kollektiver Vergewaltigung« werden jährlich in Frankreich geführt. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, da viele »Tournantes« schweigen.
Fundamentalisten dominieren. Röcke und Schminke gelten in diesen Gettos als Provokation, vor allem im nördlich von Paris gelegenen La Courneuve. Sie ist eine der düstersten Vorstädte von Paris. Über siebzig Prozent der Bevölkerung seien muslimisch, erzählt stolz ein Mitglied der fundamentalistischen UOIF, einer muslimischen Vereinigung, die durch Gelder aus dem persischen Golf finanziert wird. »Sie sind es, die von Haus zu Haus gehen und den Mädchen das Heil der Reinheit versprechen«, erklärt Safia wenige Tage später zurück in Paris. Sie selbst ist gläubige Muslimin, gleicht allerdings einem französischen Mädchen. Von den Franzosen vergessen und diskriminiert, hätten die Fundamentalisten in den Vorstädten enorm an Boden gewonnen. »Weil es keine kulturelle Öffnung gab, zogen sich die Familien auf ihr einziges, gemeinsames Kulturgut zurück: die Religion.«
Frauen wehren sich. Diese Wohnkomplexe außerhalb der Stadtzentren galten in den 1960er Jahren als futuristisch. Im Bosquet von Montfermeil, östlich von Paris, wohnten damals berühmte Leute wie der Sänger Charles Aznavour. Heute sind die dortigen Wohnblocks in einem desolaten Zustand und mit Graffiti bemalt. 20.000 Menschen wohnen hier. Kein Türschild. Kein Name. Es ist Freitag Nachmittag. Zehn Frauen, angestellt von der Integrationsvereinigung Arifa, treffen sich zum Wochengespräch. Diese im Bosquet wohnhaften Frauen stellen Verbindungsglieder zur Bevölkerung dar. Die Haltung zwischen den Knaben und den Mädchen habe sich in den letzten zehn Jahren verändert, erzählen sie. »Dreckige Hure« oder »dicke Schlampe« seien auch für sie gängige Beschimpfungen. Alle vereinten Frauen sind selbst Mütter, verstecken ihre Mädchen und verwöhnen die Knaben. Ein gewalttätiger Patriarchismus prägt die Familien. »Die Väter erniedrigen die Mütter, die in die Küche gehören. Widersprechen sie, werden sie geschlagen«, erzählt die gebürtige Algerierin Myriem. Die Mädchen werden jung verheiratet und alle erhalten den Rat: »Vertrau ihm nie und zeig ihm die Zähne ab dem ersten Tag!« Die Brüder hätten das Recht, die Schwestern zu schlagen. »Das Getto verstärkt diese Gewalt«, betont eine Türkin, die nach 15-jähriger Ehe die Scheidung wagt. Alle am Tisch versammelten Frauen geben sich modern, sind unverhüllt und wirken alles andere als erloschen. Als das Gespräch zu den Pornofilmen führt, die sich die Jungs allein im Zimmer zu Gemüte führen, kichern sie wie junge Mädchen. Sie haben die Lebenslust nicht verloren, auch wenn ihnen ein Ausbrechen aus dem Getto unmöglich erscheint. Auch für diese Mütter bleiben die Söhne kleine Engel. Eine Gefängnisstrafe abzusitzen gehöre zur Männlichkeit. <
* Name von der Autorin geändert
http://www.welt-der-frau.at/viewcat.asp?ID=581&cat=6