Miniaturen

H

Hellequin

Guest
(2)

„Bleiben Sie hier! Sie leben hier. Nur hier! Sehen Sie mich an! Wir haben soeben über Ihre Enttäuschungen gesprochen. Über Ihren Wunsch, frei zu sein, und über die Ängste, die Sie plagen. Geht es Ihnen ein bisschen besser? (Nein.) Nun, die Therapie braucht Zeit. Niemand gesundet von heute auf morgen. Aber Sie müssen hier bleiben, sonst fangen wir immer wieder von vorne an. Sie mögen Fußball, sagen Sie? Ich war immer ein großer Fan der Bayern. Welche Mannschaft mögen Sie? (Dies ist nicht real.) Ich sehe schon, das wird heute nichts mehr. Sie können von den dunklen Gedanken nicht lassen, oder? Sehen Sie nach draußen: Die Sonne scheint, das Gras ist grün. Ihr Zimmerkollege kauft sich gerade ein Eis. Schon komisch, woran man so Freude empfindet. Aber Ihnen reicht das alles nicht, oder? Was macht Ihnen Freude? (Hochprozentiger Alkohol in einer Winternacht auf einer Berghütte vor 20 Jahren.) Nein, ich meine echte Freude. Ein aufwändiges Weihnachtsgeschenk, ein Geburtstagsfest im Kreis Ihrer Lieben. Eine gute Schulnote oder vielleicht ein weiches Bett. Wofür leben Sie noch? Was hält Sie lebendig?

(Suff, Lust, mählich keimender Wahn. Schwitzende Leiber und ein Kind, das nicht atmen kann. Was an ihm zerrt, schneiden sie weg. Dann werfen sie das Kind in die Schatten. „Friss, Sohn, friss!“, rufen sie, und oben über dem Bettchen wimmelt die Lampe vor Würmer und Schnecken. Keine Luft. Das Kind greift sich in den Mund und zieht mit Mühe eine fette Made aus seiner Luftröhre. Ein Atemzug, dann wird die Brust wieder eng. Weitere drängen nach oben. Niemand ist hier, niemand wird helfen.) Worüber denken Sie nach? Recht fröhlich wirken Sie nicht, aber das wäre wahrscheinlich zu viel verlangt. Was haben Sie heute denn noch so vor? Erwarten Sie Besuch? (Aus dem Nabel des Kindes wächst eine fleischige Blume. Ihr Sinn bleibt verborgen, doch ihr Zweck ist Zersetzung. Unbarmherzig graben sich ihre Wurzeln in den jungen Leib, graben Tunnel, reißen Wunden, rufen mit der Stimme unschuldig vergossenen Blutes Larven herbei, um diese zu verschlingen. Böse Clowns, Fieberelefanten und Seen aus giftigem Honig. Ein Paradies, aber nicht für das Kind. „Sei kalt, Sohn, raube, senge, töte! Sei der Fluch deiner Nemesis, der wir dich opferten!“) Sie werden verstehen müssen, dass es auf die Fragen, mit denen Sie sich quälen, keine Antworten gibt. Jetzt im Moment haben Sie Angst davor, loszulassen, Ihre Gedanken in eine Richtung zu lenken, die Ihnen unwichtig erscheint. Lassen Sie mich direkt fragen: Wollen Sie denn leiden? Was motiviert Sie dazu, sich selbst fertigzumachen? (Das Kind muss sterben. Es kann aber nicht sterben. Die seine Schreie hörten und kamen, sind nicht von dieser Welt. Sie haben es befruchtet, haben es infiziert, haben ihm eine neue, untote, dämonische Haut gegeben und es gelehrt, von dem zu zehren, von dem es verzehrt werden sollte.)

Jedenfalls ist es mit ein paar Sitzungen nicht getan. Ihre Ausführungen sind sehr interessant, aber ohne eine ausführliche tiefenpsychologische Untersuchung werden wir nicht viel damit anfangen können. (Nichts dergleichen wird passieren.) Bis dahin kann ich Ihnen nur eines empfehlen: Finden Sie Ruhe. Erlauben Sie sich, Ruhe zu finden. Wir alle brauchen das. Ich muss mich auch immer wieder dazu zwingen, aber täte ich es nicht, dann säße ich, mit Verlaub, an Ihrer Stelle. (Ich höre sie hinter den Wänden wühlen und spüre, wie sie mit ihren dürren Fingern am Firnis der Wirklichkeit kratzen. Wo das Kind ist, müssen auch sie sein.) Alles in allem habe ich, was ihre Gesundheit angeht, ein gutes Gefühl. Lassen Sie sich nicht unterkriegen, ja? Ich melde mich zeitnah bei Ihnen. Alles Gute!
 
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