52.
„Was für markerschütternde Schreie meinte nur der Kapitän?“, fragte der Doktor, während er mit Ali im Laufschritt zum Kamelstall unterwegs war.
„Das war Akhbar. Akhbar wird Hassan gebissen haben, als Strafe für seine Verbrechen, die er begangen hat“, antworte Ali.
„Wir hätten Hassan nicht im Kamelstall auspeitschen dürfen“, überlegte der Shrenk laut. „Die Dynamik des szenischen Raumes mit drei Figuren. Hm. Entsteht bekanntlich aus der wunschgeleiteten Aktivität von Handlungsträgern.“
„Shrenk!“
„Und aus der Einschätzung der Beziehungsverhältnisse, die diesen Bestrebungen dienlich oder hinderlich sind.“
„Bezieht ihr euch auf die frühe Kindheitsphase des Menschen oder eines Kamels?“ erkundigte sich Ali vorsichtig.
Der Shrenk hörte Ali nicht zu. Er war von dem für ihn so ungemein spannendem Thema der Psychoanalyse Freuds absorbiert:
„Es geht bei Akbar aber nicht mehr um die phallisch-ödipale Phase“, murmelte er. „Hier geht es eindeutig um die genitale Phase!“
Ali öffnete den Stall und was sich dort darbot, erklärte alles eben Vorgefallene in der Kajüte des Kapitäns.
53.
Um weiteren Verdachtsmomenten zu entkommen, fand das nächste Treffen am Abend in der Kabine von Ali und dem Shrenk statt. Der Shrenk lag ausgestreckt auf dem Sofa und schlummerte vor sich hin. Er hatte in letzter Zeit kaum Schlaf gefunden. Hassan wiederum lag nebenan im Badezimmer, geknebelt und gefesselt und war hellwach, was sich ab und zu in einem Stöhnen bemerkbar machte. Akhbar hatte ihn derartig mit Kamelbissen traktiert, dass es höchste Zeit war, eine Entscheidung zu treffen: Entweder die Kamele in die Kabine von Ali und dem Shrenk zu überführen, oder Hassan dorthin zu bringen. Nach einem kurzen Wortwechsel entschieden sich Ali und der Shrenk für letzteres. Was sogleich geschah. Das Reinigungspersonal war durch Isabel eingeweiht. Trotzdem musste es eine undichte Stelle geben. Denn wer wusste von den konspirativen Treffen, auβer dem portugiesischen Kreis und Massoud?
Ali beobachtete, wie Massoud weitere Härchen aus seinem Spitzbart zupfte und dabei war, mit der Maus auf die email zu klicken, die eben angekommen war:
„ Brüder des Heiligen Dschihad! Heute Nacht um Vier Uhr. Allah ist mit den Standhaften. Mohammed. Das ist alles was hier steht“, sagte Massoud.
„Es bleiben uns noch zehn Stunden“, rief Ali. „Wir müssen die Brüder Ahmed und Omar sofort gefangen nehmen!“
„Wie wollen wir das machen?“, wollte Pedro wissen.
„Ahmed und Omar werden nach ihrem gewohnten Aufenthalt im Crows Nest, ihre Kabine aufsuchen. Wir könnten sie ganz einfach vor der Tür zur Kabine überwältigen.“
„Gut!“, kam es einstimmig.
Ali blickte erneut auf die Uhr. „Es ist fünf vor Sechs! Höchste Zeit, sie vor ihrer Kabine abzupassen. Miguel und Pedro, euch kennen die Brüder wegen der Klimaanlage. Seid ihr einverstanden, Ahmed und Omar gefangen zu nehmen?“ Miguel nickte, und eilte zur Tür. Gefolgt von Pedro.
„Und vor allem, wohin dann mit ihnen?“, fragte sich Ali laut. „Im Kamelstall käme es erneut zu Schreien. Ich habe es selbst gesehen, wie Akhbar die Knebel aus dem Mund von Hassan entfernte, um ihn erst dann zu beiβen. Akhbar scheint ein wahrer Sadist zu sein und ergötzte sich anscheinend an Hassans Schreien. Das Grunzen von Hassan schien ihm zu wenig. Danach hat Akhbar ihm fein säuberlich, den Knebel wieder in den Mund gestopft, um seine Schandtaten zu vertuschen, aber heute ertappten der Shrenk und ich, ihn auf frischer Tat.“ Allgemeines Gemurmel erfolgte wie:
“É pá! Será que o camelo é um monstro?”
Der Shrenk erwachte und mischte sich sofort ein:
„Kein Monster, nein. Es handelt sich bei Akhbar um die Vorstufe und Teil der reifen, genitalen Sexualität!“
„Ich könnte im Kamelstall Wache schieben“, bot sich Manuel an.
„Oh nein!“, rief Ali aus. „Akhbar ist zu speziell, er würde euch nicht folgen, da er von Natur aus unfolgsam ist und nicht einmal mir folgt, es sei denn ich rede mit ihm über den Achtfachen Pfad.“
„Der Achtfache Pfad?“, fragte Manuel. Ali nickte.
„Ich kenne nur den Leuchtenden Pfad. Eine Terrorgruppe aus Peru zur Befreiung der Armen und Unterdrückten.“
„Keine Sorge, Manuel. Der Achtfache Pfad ist nicht aus Peru, sondern aus Indien. Mit dem Achtfachen Pfad befreit sich jeder selber durch die Lehren Buddhas und da braucht man keine Gruppe mehr und wird selbst erleuchtet.“
„Aha. Also befolgt Akhbar die Lehren des Buddha?“ Manuel blickte verwirrt in die Runde, erntete dort auch nur verständnislose Blicke.
Ali lachte. „Ja, so könnte man es auch nennen.“
„Selbstverständlich übernehme ich diese verantwortungsvolle Aufgabe. Ähm. Akhbar und die anderen Kamele zu betreuen und gleichzeitig zu therapieren. Wir wissen nicht, welch traumatische Erfahrungen Akhbar in seinem Elternhaus erfuhr, wodurch es zu Zwangshandlungen, besser: Wiederholungszwängen bei ihm kommt.“
„Einverstanden, Doktor. Ihr seid euch natürlich bewusst, dass es nicht zu weiteren Kamelexzessen an Bord kommen darf?“ Der Shrenk nickte.
„Auch sind keine weiteren Übertragungen seitens der Brüder Ahmed und Omar erwünscht.“ Ali zwinkerte dem Shrenk zu. „Hassan reicht, Doktor, den werde ich womöglich gar nicht mehr los!“ Worauf der Shrenk erneut nickte. Ali wendete ihre Augen zur Decke empor und murmelte: „Oh Allah, mein Gott und Beschützer, warum ausgerechnet ich?“
„Wann wird endlich Kapitän Van Schloos über die Lage informiert?“, wollte Massoud wissen und blickte fragend von seinem Laptop auf. In dem Augenblick klopfte es drei Mal an die Tür. Das war das abgemachte Zeichen. Manuel öffnete. Pedro kam herein. Sein Gesicht verriet nichts Gutes.
„Ahmed und Omar sind nicht aufgetaucht. Wir haben sie überall gesucht. Auch im Crows Nest. Vergeblich, sie sind spurlos verschwunden.“
Ali blickte nervös auf die Uhr. Es war inzwischen halb Acht.
„Wir müssen sie suchen!“, befand der Shrenk und seufzte.
„Aber wo?“, fragte sich Ali. „Die Zeit rennt uns davon.“
„So wie Ahmed und Omar“, meinte der Shrenk mit sorgenvoller Miene. „Auch sie rennen uns davon.“
„Wir geben sofort die Sache an ein paar Arbeitskollegen weiter“, schlug Manuel vor. „Die arbeiten als Kellner in den Restaurants.“
„Wir sollten dem Kapitän endlich alles erzählen“, wiederholte Massoud seinen Vorschlag. „Emails sind keine mehr verschickt worden. Weder von Ahmed, von Mohammed, oder der Gruppe aus Marokko.“
„Algerien“, berichtigte der Shrenk.
„Stimmt, Doktor. Den Kapitän zu benachrichtigen ist zu früh!“, entschied Ali. „Es käme zu unnötiger Panik an Bord. Das Schnellboot kommt erst am fünfundzwanzigsten, also morgen Nacht. Wir haben immer noch genügend Zeit, die Sache selbst zu regeln. Worauf sie aufstand. „Ich gehe jetzt auf Deck 4 und kontrolliere die Rettungsboote. Die Brüder könnten vorhaben, sich dort bis morgen früh zu verstecken.“