Wer mag meine Wege fühlen? Meine Sehnsucht und mein Herz? Meine Verbindung zur Quelle und dem Weg der der meine ist. Jeden Augenblick kann ich entscheiden wem ich folge oder nicht. Und es ist der Ruf des Herzens, der aus meinem Inneren spricht. Manchmal sanft und leise, manchmal laut und stark. Welche Melodie erklingt auf immer andere Weise, nimmt mich an der Hand und führet mich?
Fast vier Jahre waren inzwischen vergangen, da erreichte Joseph die Botschaft, dass König Herodes gestorben sei und wir endlich in unser geliebtes Palästina zurückkehren durften.
Es wurde auch langsam Zeit! Ich hatte mich schon ganz dem ägyptischen Bräuchen angepasst und stiess frühmorgens mein ärgerliches Wiehern aus, dass es weit über den Nil schallte.
Jeden Morgen beschwerte ich mich bei Gott unserem Vater, warum er uns in so einer prekären Situation leben lasse, und wie lange er noch gedenke uns so etwas zuzumuten.
Erzengel Gabriel rief dann oft oben vom Himmel beruhigend herunter, ich liess ihn reden und wendete mich besser an Gott Vater persönlich, damit es schneller ginge…
Und dann endlich die gute Botschaft! Wir nahmen erneut ein Boot nilaufwärts bis Gizeh, von dort aus wollte die heilige Familie gen Palästina aufbrechen.
Es war am frühen Abend in der kalten Jahreszeit. Ich erinnere mich genau, drei Tage nach der längsten Nacht im Jahr, als wir unser Lager bei den Pyramiden aufgeschlagen hatten. Am nächsten Tag sollte unsere lange Wanderung über das Nildelta und den Sinai heimwärts beginnen.
Ich erzählte euch ja bereits über die Pyramiden, als wir auf dem Weg nach Babylon, in ihrer Nähe vorbeiritten. Heute waren wir hier, auf Geheiss des Engels, genau neben einem riesigen Ungeheuer aus Stein, so hoch in den Himmel aufragend, dass ich Benjamin mir einmal wieder winzig klein vorkam.
„Was soll das?“, rief ich beunruhigt zu Gabriel hinauf. „Warum müssen wir ausgerechnet neben dieser rätselhaften Statue unser Nachtlager aufschlagen? Ich fühle mich bedroht von diesem Löwen mit menschlichen Kopf!“
„Auch ich habe Angst vor diesem grauenhaften Stier mit Menschenkopf!“, brüllte Esau ängstlich zu Gabriel hinauf. Die heilige Familie schüttelte einmal wieder mit dem Kopf, sie war solcherlei Ausbrüche bei Esau und mir zur Genüge gewohnt.
„Das ist kein Stier, du egozentrischer Ochse!“, rief ich mit schneidender Stimme dem Esau zu. „Es ist ein Löwe mit menschlichem Antlitz!“
Wir führten eine erregte Diskussion, die längere Zeit andauern sollte, hätte dem nicht das Jesuskind Einhalt geboten, das lachend in die Hände klatschte und ausrief:
„Es ist ein Stier, ein Löwe, ein Adler und ein Menschensohn.“
Esau und ich schwiegen betreten und blickten nochmals genau hin zu dieser rätselhaften Sphinx wie sie genannt wird.
„Die Sphinx wird nicht nur euch Rätsel aufgeben“, bekundete Gabriel. "Noch nach Jahrtausenden werden sich die Menschen die Köpfe darüber zerbrechen. Eine Weile lang wird sie gänzlich vom Sand verschüttet sein. Dann wird man sie eines Tages ausgraben und sogar Vater des Schreckens nennen. Später, in zweitausend Jahren erst, werden die Menschen durch Messungen feststellen, dass es eine Gestalt aus drei Tieren und dem Menschen ist.“
In diesem Augenblick verschwand der glühende Sonnenball zwischen der Sphinx und einer der Pyramiden. Joseph hatte ein Feuer entzündet, dass uns allen ein wenig Wärme spendete.
„Was bedeute diese rätselhafte Sphinx wirklich?“ fragte ich Gabriel, der sich hoch oben auf ihrem Körper niedergelassen hatte.
„Die Sphinx ruht vor der Pyramide, vor dem gewaltigen Sonnengrab. Ein geronnenes Bild aus Stein für das Wesen Ägyptens. Sie schweigt, das Verschweigen eines Wortes, das der Mensch wissen sollte, aber nicht weiss. Er hat es vergessen und jetzt ruht es in diesem Stein.
„Gabriel, du sprichst in Rätseln“, beschwerte ich mich. Esau dagegen dachte über das alles erst einmal gründlich nach.
Inzwischen hatte sich ein dunkler Nachthimmel über uns gewölbt, überzogen mit unendlich vielen Sternen. Ohne dass ich es bemerkt hätte, war Jesus gekommen und hatte sich still neben mich gesetzt. Sein Gesicht verriet ein grosses Verstehen und aus seinen Augen strahlte das Leuchten der Sterne.
„Ägypten trug das Mysterium des Todes", fuhr Gabriel fort. "Schon immer in sich und ahnte bereits das Wort. Das Wort, das von der Sonne herunter tönte: das Ich Bin.“
Da begann Jesus seltsame Symbole mit seinen Fingern in den Sand zu malen. Schliesslich hielt er inne, betrachtete seine Bilder und lächelte zufrieden.
„Was bedeutet das?“, fragte ich verständnislos.
„Es sind Berechnungen, die Masse der grossen Cheops Pyramide. Ihre Grundkantenlänge mit dem Volumen, im Verhältnis von der Sonne zur Erde multipliziert, ergibt die Einheit einer Lichtsekunde.“
Es war eine heilige, stille Nacht, als Jesus, die Geheimnisse der grossen Pyramide in den Sand malte. Andächtig betrachtete er, seine Symbole, fügte weitere hinzu.
„Wir befinden uns hier an einer Stelle, die vom Gestein her, als die dichteste der Erde zählt. Satellitenfotos werden das eines Tages einmal beweisen. Das alles wussten die Ägypter bereits. Sonst wären solche Kolosse aus Stein in der Erde versunken. Sie wussten auch, dass sie nicht das Tor zum Himmel bauen, wie es in Mesopotamien noch war. Die Menschheit ist mehr und mehr herabgestiegen durch die Jahrtausende. Pyramiden sind das Tor zum Menschen, indem das Ich Bin Einzug nehmen wird.“
Ich war einmal wieder eingeschlafen durch die Worte des Engels. Zu machtvoll für mein Bewusstsein, war die Nähe der geistigen Welt. Ich träumte vom Sirius und von Isis und Osiris. Von der langen, langen Heimreise durch die Sinai Wüste und meinem geliebten Palästina.