"Bevor ich den ganzen Abend nur von mir erzähle, würde ich gerne auch etwas von Ihnen wissen, dass mich sehr interessiert. Sie sagten dass Sie nach den vielen Schicksalsschlägen eine neue Aufgabe bekommen haben. Darf ich Sie fragen was das war?"
Der ältere Herr lächelte ihn freundlich an.
"Ja natürlich, gerne. Wir erzählen sozusagen im Wechsel. Eine gute Idee!"
"Als meine Frau kurz nach den Kindern auch gegangen war, weil sie den Kummer einfach nicht bewältigen konnte, war ich am Boden zerstört. Alles was mir wichtig war, war plötzlich nicht mehr da. Ich hatte den Sinn verloren. Meine Familie bedeutete alles für mich. Ich hatte zwar eine Firma die schon immer gut lief und reiche Früchte trug, aber dies war mir nie so wichtig. Ich achtete stets darauf, dass ich viel Zeit für meine Lieben hatte und habe viel Zeit mit meinen Kindern und meiner Frau verbracht. Wir hatten ein sehr inniges Verhältnis miteinander, sprachen über alles, unternahmen viel zusammen und wenn es mal Probleme gab, lösten wir sie gemeinsam. Es war einfach wunderschön.
Nun, ich fiel also in ein tiefes Loch und suchte nach Halt, denn ich verstand es nicht warum all das passiert war. Ich war wütend und verfluchte Gott und die Welt, weil mir alles genommen wurde. Die Einsamkeit schien mich langsam aufzufressen und ich hatte den Lebensmut und den Glauben verloren. Ich wollte ein Ende machen. Es machte alles keinen Sinn mehr für mich, auch meine Firma nicht."
Er konnte gut nachfühlen, wie der ältere Herr sich gefühlt haben musste. All der grosse Schmerz über die vielen Verluste. Seine beiden Kinder, dann noch seine Frau. Und dieses plötzliche Alleinsein. Als er ihn ansah, kam er ihm richtig zusammengesunken vor als er erzählte. Enttäuscht. Tief verletzt und verwundet schien er und ängstlich. Am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und getröstet, tief in seinem Inneren, doch er wollte nicht aufstehen und um den Tisch herum gehen. Und ausserdem.....Gefühle zu zeigen war nicht seine Stärke, er unterdrückte sie lieber, immer noch. Konnte sich einfach nicht überwinden, etwas Wärme zu geben.
"Doch dann hatte ich eines Tages dieses Erlebnis, fuhr der nette Mann fort. Ich erinnere mich noch genau daran. Ich fuhr mit meinem Wagen zu einem Termin ausserhalb der Stadt. War in Gedanken versunken und abwesend wie so oft in jenen Tagen. Der Wagen vor mir missachtete die Vorfahrt und prallte frontal auf ein abbiegendes Fahrzeug. Ich konnte noch bremsen, aber fuhr meinem Vordermann noch leicht hinten auf. Es war ein sehr schwerer Unfall. Ich hatte durch mein Auffahren zwar keinen grossen Schaden angerichtet, das vorausfahrende Fahrzeug jedoch...."
Er schwieg einen Moment.
Er merkte wie dem Mann dieses Ereignis heute noch unter die Haut ging. Es musste sehr schlimm gewesen sein und ihn unglaublich mitgenommen haben. Tränen standen ihm in den Augen und er schien zu zittern. Sein Blick ging nach unten. Und wieder war er versucht zu ihm herüber zu gehen auf seine Seite des Tisches um ihn in den Arm zu nehmen. Aber er unterdrückte es....
Der ältere Herr sah wieder zu ihm auf.
"In dem Wagen der abgebogen war und Vorfahrt gehabt hätte, sass eine junge Familie. Mann, Frau und zwei Kinder. Ein Mädchen und ein Junge. Die Eltern und das Mädchen hatten den Unfall nicht überlebt. Der Junge war schwer verletzt. Hinter mir hielt ein weiteres Fahrzeug und ich bat den Fahrer die Polizei und den Rettungsdienst zu verständigen und die Unfallstelle abzusichern. Ich ging zu den Unfallfahrzeugen hinüber.
Im Wagen vor mir der den Unfall verursacht hatte, sass ein jüngerer Mann. Er hatte nur eine leichte Verletzung am Kopf und schien soweit in Ordnung zu sein, deshalb ging ich gleich weiter zu dem schwer beschädigten Fahrzeug, um zu sehen ob ich helfen kann.
Die Fahrerseite des Wagens war sehr stark durch den massiven Aufprall eingedrückt und hatte den Fahrer und seine Tochter auf der linken Seite des Wagens voll erwischt. Die Frau auf dem Beifahrersitz war noch nicht angeschnallt gewesen und durch den heftigen Aufprall auf die Fahrerseite geschleudert worden und frontal gegen die Mittelsäule des Wagens geknallt. Sie lag auf ihrem Mann mit weit geöffneten Augen. Ich fühlte ihren Puls und den des Mannes."
Er schluckte. "Nichts!"
"Dann ging ich auf die andere Seite und sah nach den Kindern. Auch das Mädchen war tot. Der Junge atmete schwach und blutete aus einer tiefen Kopfwunde. Er war mit dem Kopf gegen seine Schwester geprallt und der heftige Stoss hatte ihr das Genick gebrochen. Der Fahrer des nachfolgenden Wagens kam angerannt und sagte, dass Polizei und Rettungsdienst verständigt wären. Dann ging er zum anderen Wagen, um nach dem Mann zu sehen.
Und plötzlich nahm ich den Geruch von auslaufendem Benzin war. Ich sah hoch und bemerkte jetzt erst den starken Qualm, der vom Motor her aufstieg. Hastig versuchte ich den Gurt des Jungen zu lösen, um ihn heraus zu holen, doch er klemmte. Jeder erneute Versuch ihn zu öffnen schlug fehl. Dann loderte die erste Flamme aus dem Motorraum auf und es gab einen lauten Knall!
Der ganze vordere Teil des Wagens stand plötzlich in Flammen!"
Er war so gefesselt von dem Bericht des älteren Herrn dass er gar nicht bemerkte, wie er unaufhörlich an seinen Finger knibbelte und nervös hin und her rutschte. Wie gebannt schaute er auf seinen Mund. Der nette Herr zitterte und man sah ihm deutlich an, wie nahe ihm der Bericht über die Geschehnisse damals ging. Er tat ihm leid und einem Impuls folgend wollte er aufstehen und zu ihm hinüber gehen. Doch er zwang sich. Drückte auf seine Oberschenkel und blieb sitzen...
"Schnell einen Feuerlöscher rief ich wie von Sinnen, berichtete er weiter, und eine Schere oder ein Messer! Der Junge lebt noch! Wir müssen ihn befreien! Schneeeeeell! Ich konnte nicht mehr sprechen. Der Qualm schnürte mir die Kehle zu und nahm mir die Sicht. Die ersten Flammen züngelten an der Seite des Wagens hoch. Wieviel Zeit blieb mir noch? Ich konnte ihn doch nicht allein lassen! Ihn nicht einfach im Stich lassen!
Ich fasste hektisch in meine Hosentasche um nach einem Taschentuch zu suchen, damit ich Mund und Nase gegen den Qualm schützen konnte. Ich fühlte mein Schlüsselbund! Daran war ein kleines Klappmesser, fiel mir ein. Schnell holte ich den Schlüsselbund heraus. Dann war er plötzlich weg! Er war mir aus der Hand gefallen! Mit zusammengekniffenen Augen suchte ich alles ab. Nichts! Goooooott!, schrie ich laut, hilf mir!
Und ich fand ihn! Er lag genau vor mir und ich hatte das Gefühl, jemand hätte meine Hand geführt. Schnell klappte ich das Messer aus und schnitt den Gurt durch. Ich griff nach dem Jungen und hob ihn heraus. Mit lauten Zischen hüllte ein Feuerlöscher den Wagen in eine weisse Dampfwolke. Das Feuer wurde gelöscht. Der Junge war gerettet!"
Der ältere Herr sass auf seinem Sessel und hatte die Arme angehoben, zitternd, so als hielte er den Jungen noch in seinen Händen. Tränen rollten über seine Wangen und er begann zu schlurzen.
"Ich hätte mir das nie verziehen, wenn ich ihn nicht gerettet hätte", sagte er fast unverständlich in seinem Weinen. Dann sah er zu ihm auf. Seine tränenerfüllten Augen sahen ihn mitleidsvoll an. Er fühlte seinen Schmerz, seine Verzweiflung und wie schwer er daran zu tragen gehabt hätte. Er wollte ihm zeigen, dass er mit ihm fühlte, wollte ihn irgendwie trösten und ihm zeigen, dass er ihn gut verstehen konnte, sich in ihn einfühlen konnte. Er tat ihm leid.
Dann erhob er sich. Er musste ihm einfach Trost spenden und ihn in den Arm nehmen. Doch nein... er setzte sich wieder hin. Er zwang seine Gefühle erneut in die Knie! Der ältere Herr sah ihn verständnislos an....
Kälte stieg in ihm auf... Wie konnte das sein? Gerade noch.... er schlug seine Augen auf. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen und die Kälte schien ihm alle Lebenskraft entzogen zu haben. Er sass auf der Parkbank. Vor ihm auf dem Boden einige Münzen Kleingeld. Der Schnee wehte sie langsam zu. Mit letzter Kraft hob er den Kopf und blickte nach Links.
Im Schneetreiben sah er schwach einen älteren Herrn mit einem Dackel, der sich immer weiter entfernte.....