"Ob Völkermorde, Folter oder die alltägliche Erniedrigung anderer - eines haben all diese Beispiele für Gewalt und Haß gemeinsam: das Gefühl der Abscheu vor dem anderen, dem "Fremden". Die Täter stufen sich selbst als "Menschen" ein, doch das Gegenüber verdient diese Bezeichnung nicht. Der andere wird zum Unmenschen degradiert. Es ist, als würde man sich durch diesen Vorgang selber reinigen. Indem man ander abtut und sie peinigt, befreit man sich vom Verdacht des Beschmutztsein.
Das Reinsein oder Beschmutztsein wird so zum Merkmal, das den Menschen vom Nicht-Menschen unterscheidet. Dabei verlagert sich die Wahrnehmung auf eine abstrakte Ebene. Der andere wird nicht mehr in seiner individuellen Menschlichkeit gesehen. Er ist nur noch Bestandteil einer Gruppe. Seine konkreten Gefühle, Einstellungen Verhaltensweisen verschwinden aus dem Blickfeld, statt dessen wird seine Persönlichkeit auf eine einzige Eigenschaft reduziert: die Zugehörigkeit zur Gruppe. Diese Abstahierung macht ein empathisches Erleben des anderen unmöglich.
Empathie ist eine grundsätzliche Fähigkeit aller Lebewesen. Sie ist die Schranke zur Unmenschlichkeit und der Kern unseres Menschseins, also auch Kern dessen, was unser Eigens ist.
Wenn aber dieses Eigene verachtet und als nicht zu uns gehörig abgespalten werden muß, kann sich auch die Empathie nicht frei entwickeln. Unsere Fähigkeiten, mit anderen mitzufühlen verkümmern. Der Prozess, durch den das Eigene zum Fremden wird, verhindert also, daß Menschen sich menschlich begegnen - mit Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und gegenseitigem Verstehen. Und so wird die Abstraktion zur Basis unserer Beziehungen."
"Der Fremde in uns", S. 20, Arno Grün
Eigentlich gehört das ganze Buch hier rein, weil ich hab so viele wiedererkannt, dass mir schaudert.