Lieber Condemn,
ich will das noch einmal in meinen Worten formulieren und auch meiner Meinung noch einmal kurz gegenüber stellen. Mal schauen, ob du dich richtig verstanden fühlst und was du mit meiner Gegenüberstellung anfangen kannst.
In den Punkten, die du über Verantwortung, Rechthaben und Verstehen schreibst, kann ich dir erst einmal zustimmen.
Wenn man an Wut denkt, dann denkt man ja oft zuerst mal an ein bestimmtes Verhalten, das zum-Ausdruck-bringen... Das Wesentliche bei Wut aber ist, was in den Gedanken abläuft und Wut ist per se ein unbewusster Zustand, eine Verzerrung. Sie entsteht ja gerade durch Nicht-Annahme, und dabei ist es egal ob man Wut zeigt oder nicht zeigt. Man kann in psychologischer Hinsicht sagen: Ist man wütend, hat man etwas "falsch gemacht".
Ich finde diese Stelle schon gleich interssant, weil du hier beschreibst, wie sich die Wut psycho"logisch" aufbaut. In der Wut sind ja auch immer Gedanken drin, Wertungen, etc. . Die Gegenüberstellung von Gefühlen und Gedanken, wie sie manche hier tätigen, macht ja psycho-"logisch" keinen Sinn, weil einer Emotion immer auch kognitive Komponenten enthält.
Was sich für mich hier aber ein wenig andeutet, das ist, dass du die Heilung eher ein wenig aus der Sicht des - sagen wir mal - spirituell Fortgeschrittenen betrachtet.
Das Problem scheint mir zu sein, dass der NOrmalzustand, in den wir hineingeboren werden, sich von diesem Bewusstsein sehr unterscheidet. Wir werden in unserer Gesellschaft vor allem in ein Unterdrücken und Verdrängen und dann ein Ausleben anhand von Sündenbock-Situation hineinsozialisiert.
Wenn man hier, am NORMAL-IST-Zustand ansetzt, dann scheint mir das Zeugen- und Beobachtungsbewusstsein eine Überforderung für die Person darzustellen. Die Person ist noch gar nicht fähig, authentisch zu sein, erkennt noch gar nicht ihre Muster, und kann deshalb auch noch keine Muster loslassen, weil ja eben die Muster noch gar nicht bewusst werden.
Was diesen Punkt angeht, kann ich mit Lightning über einstimmen. Hier ist es erst einmal für viele wichtig, überhaupt die Emotion auszudrücken und das Muster zu erkennen. Dies entspricht auch der STufe 1, die Tolle beschreibt: die Stufe der Annahme.
Ja... Ich würde die Betonung auf "liebevolle Haltung" legen. Die setzt aber Verständnis voraus. Nicht unbedingt intellektuelles, man muss eine Situation z.B. nicht vollkommen durchschauen, aber z.B. das tiefe Wissen darum, dass jeder Mensch, man selbst natürlich ebenfalls, in jedem Moment danach strebt lediglich möglichst nicht zu leiden, glücklich sein will...
Ja, hier kann ich dir auch zustimmen. Es geht auch überhaupt nicht um ein intellektuelles Verstehen - das sehe ich genauso. Der Intellekt kann dann wichtig sein, zur Korrektur und Reflexion, wenn das "tiefe Wissen" zu schwarz-weiß, zu polar, zu extrem, zu nicht-realistisch ist - wenn man sozusagen eher in einer "Märchen"-Welt, in einer Schwarz-Weiß-Welt lebt.
Die Leistung, die der Geist beim Verstehen der Situation und der anderen Person vollbringt, ist weniger eine intellektuelle, als vielmehr den anderen zu verstehen und - wie ein Beobachter - die Situation zwischen dem anderen und mir zu verstehen. Wichtig ist vor allem, dass der subjektive Erlebniszustand, der sich als Opfer und den anderen als Täter erlebt, transzendiert wird, damit es zum liebevollen Ausgleich kommen kann.
Aber bei diesem Beispiel nur dann, wenn der Streit mit dem anderen Kind letztlich bedeutungslos war. Wenn es um ein Thema geht, wo Identifikation geschaffen wurde und/oder bereits besteht, hilft das nicht. Stell Dir z.B. vor, ein Kind empfindet sich als häßlich. Es kommt in eine Situation, wo ihm wieder dieser Vorwurf gemacht wird, es gibt Streit... und dann die Situation wie Du sie beschreibst. Das Leiden wird dadurch kaum angetastet, weil im Bewusstsein des Kindes das Problem nach wie vor herumkreist... das "Ich bin häßlich." Die Identifikation zu durchschauen ist m.A.n. notwendig.
Hier kann ich nicht ganz zustimmen. Es häng meiner Ansicht nach ganz davon ab, was der Erwachsene dem Kind sagt. Wenn das Kind sich in einer Streit-Situation mit einem anderen Kind mit dem Schmerz identifiziert und sich als "häßlich" erlebt, dann kann der Erwachsene, wenn er sein Herz offenen kann, dem Kind das Gefühl der unbedingten Liebe vermitteln. Und dies wird dem Kind helfen, die Identifikation der Situation aufzulösen. Wenn der Erwachsene nur Sprechblasen, Tröstsprüche von sich gibt, vielleicht sogar angenervt ist oder zumindest am Kind vorbeiagiert, dann wird die Situation eher verdrängt, weil das Kind dann nicht das Vertrauen spürt, den Schmerz auszudrücken und sich vom Erwachsenen trösten zu lassen. Genauso ist es ja auch im eigenen Innern. Wenn wir zu uns nur irgendwelche Mutsprüche sagen Halte durch etc. dann bricht in uns der Kontakt zu den tieferen Schichten ab.
Ja... es ist das Wichtigste überhaupt, nicht laufend Leid zu erzeugen. Wobei der Prozess der Annahme mit dem "nicht-erzeugen" von Leid sowieso identisch ist.
Ich glaube, dass hier der größte Unterschied zwischen unseren beiden Positionen liegt - und auch in der Position Tolles oder zumindest in seiner Interpretation.
Tolle selbst unterscheidet hier ja ganz deutlich - siehe Zitat - zwei Stufen. Zuerst eine Phase der Annahme, dann die Weiterentwicklung zum Nicht-Erzeugen. Und ich habe das Gefühl, dass dies stimmig ist. Die Annahme ist nicht identisch mit dem Nicht-Erzeugen.
1. kann es sein, dass ich zwar aufgehört habe, Schmerz neu zu erzeugen, aber es kann sein, dass es dennoch tief in mir alte Muster schlummern, die ich erst noch verarbeiten muss. Es kann Meditationsphasen geben, in welchen ein Mensch Bangha-Erfahrungen macht, in welchen in seinem ganzen Körper über Wochen ein Kribbeln und eine Leichtigkeit sowie Energie zu fühlen ist, ein tiefer Frieden, eine Stille. Man könnte meinen, dass der Mensch erlöst sei. Und dann, wenn er wieder mehr in den Alltag zurückkommt, wenn er tiefere, eventuell erotische, zumindest intime Beziehungen zu anderen Menschen eingeht, dann tauchen plötzlich alte Muster auf.
2. kann es sein, dass ein Mensch zwar die Fähigkeit erworben hat, die Muster anzunehmen, dass er jedoch immer noch noch weitere neue produziert, die er dann immer wieder erst neu annehmen und loslassen wird.
Das Zeugenbewusstsein ist aber sozusagen die "Liebe selbst". Es ist vollkommene Annahme, weil es die Abwesenheit irgendeiner Form von Ablehnung ist. Wenn das "reine Sein" auf etwas schaut, ist das vergleichbar, als wenn Licht auf etwas dunkles fällt. Wie gesagt, die Schwierigkeit dieses Prozesses ist ja gerade der, dass man nicht wirklich einer klaren Handlungsanweisung folgen kann. Es geht darum Negatives zu lassen. Und dafür ist das Erkennen der eigenen Verantwortung wichtig, und dafür hilft auch theoretisches Wissen, in der Praxis ist das Wichtigste bewusst zu sein. Wäre man absolut konsequent sehr bewusst, würde man sich dazu disziplinieren nicht einzugreifen, würde man ohne vorheriges Wissen in den Zustand der Erkenntnis kommen. Das schaffen auch manche. Aber meistens fehlt ohne das Wissen die Motivation.
Hier zeigt sich das nochmal, was ich jetzt insgesamt angesprochen habe. Mir scheint, dass du die spirituelle Entwicklung sehr stark von der zweiten Stufe aus betrachtest, die Tolle beschreibt - die Opti (in noch extremerer Form) auch Tolle als einzige Position unterstellt hat und die wohl auch Lightning kritisiert hat.
Du trennst so scheint es - das Annehmen und das Nicht-NEu-ERschaffen nicht und legst den Schwerpunkt auf das Nicht-Neu-Erschaffen. Du beschreibst nicht so sehr die Aufgabe, dass ein Mensch überhaupt erst einmal einen Schmerz ausdrücken lernen muss, um diesen dann anzunehmen. Du gehst gleich zur Beobachtung, zum Zeugenbewusstsein, zur Distanz über und bist der Meinung, dass dies alle Probleme lösen wird. Die Wut muss demzufolge gar nicht ausgedrückt werden, sondern kann ja gleich beobachtet, nicht erzeugt und losgelassen werden und wird somit auch gleich angenommen.
Das ist aber aus meiner Sicht eine Perspektive, die zu sehr von der höheren Entwicklung ausgeht und nicht beachtet, wo der Mensch faktisch im Leben beginnt, nämlich dort, dass er erst einmal die Gewohnheiten ausbildet, nicht authentisch zu sein, was die tieferen Gefühle betrifft, Rollen zu spielen, die tieferen GEfühle zu überspielen, weil man hofft, dass die Eltern, die Freunde etc. diese Rolle anerkennen und weil man sich für die echten Gefühle schämt. Auf dieser Ebene kann man aber, wie gesagt, gar kein Zeugenbewusstsein ausbilden, weil man die Muster noch nicht zulässt, oder nur zu dem Preis, dass ein Mensch sich dann erst einmal vollkommen entwurzelt vorkommt - sozusagen mit dem Kopf im Himmel, aber mit den Beinen nicht annähernd auf der ERde.
Diese, eher am Zeugenbewusstsein orientierte Interpretation, spiegelt jedenfalls der Eindruck wider, den ich von deinem Beitrag erhalten habe.
Liebe Grüße,
Energeia