Die Neue Welt

Serenade

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18. März 2007
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Mein Name ist Manola Simon. Als ich starb, war ich 95 Jahre alt. Mein Mann, Jochen, der meinen Familiennamen angenommen hat, starb fünf Jahre vor mir. Während der fünf Jahre, die mir noch blieben, bekam ich fast täglich Besuch von meinem Vater, den ich immer liebevoll „Daddy“ nannte. Er bereitete mich auf etwas vor, das ich mir nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Aber dazu später.
Vorerst möchte ich ein wenig über meinen Daddy erzählen, der etwas ganz Besonderes war. Für die Öffentlichkeit war er der bekannteste und berühmteste Star in der Musikszene. Für seine Familie und seine eingeweihten Freunde war er der Retter des Universums. Das Geheimnis bestand darin, dass Daddys Vater aus der Zukunft auf die Erde kam, um hier seine wahre und einzige Liebe zu treffen. Mit ihr, einer irdischen Frau, zeugte er Daddy, so wie es die Prophezeiung voraussagte. Laut Prophezeiung wird der Retter des Universums als Leuchtendes Wesen in Menschengestalt auf der Erde geboren. Als Daddy seine wahre und einzige Liebe, meine Mutter, kennen lernte, und seine Bestimmung erkannte, regierte ein falscher König auf der Leuchtenden Welt. Daddy besiegte den falschen König. Von da an begann sein Kampf für die Rettung des Universums, über den meine Mutter bereits ausführlich geschrieben hat.
Es hieß, Daddy und meine Mutter gingen auf die Leuchtende Welt, als ihre Zeit auf der Erde abgelaufen war. Damals herrschten viele Kriege auf der Erde. Die Menschen waren arm und hungerten, weil die Erde bereits sehr vergiftet war und kaum Nahrung wachsen konnte. Dennoch arrangierte Daddy ein letztes Konzert, und viele Menschen kamen, um die „lebende Legende“ noch einmal live erleben zu können. Daddy tat das auch deshalb, um den Menschen zu zeigen, dass er noch lebt und seinen Tod nur vorgetäuscht hat. Seinen Tod musste er vortäuschen, da er äußerlich nicht alterte und die Öffentlichkeit schon immer über ihn und seine außergewöhnliche Ausstrahlung, die alle Menschen anzog, rätselte. Fast wäre sein Geheimnis durch eine Organisation von höchster Ebene aufgedeckt worden, was Daddy mit seinen übersinnlichen Kräften verhindern konnte, indem er sich als Doppelgänger ausgab und er selbst als tot erklärt wurde. Erst beim letzten Konzert ließ er seine Ausstrahlung wieder heraus und zeigte den Menschen, dass er noch lebt.
Ich habe nicht gesehen, wie Daddy und meine Mutter auf die Leuchtende Welt „gegangen“ sind. Auch zweifelte ich stets daran, obwohl ich das nie jemandem sagte. Ich habe noch mitbekommen, wie sich meine Eltern von der Bühne aus verabschiedeten und sagten, sie werden jetzt gehen. Dann sah ich ein grelles Licht auf der Bühne und wurde ohnmächtig. Was wirklich passierte, wusste ich damals nicht. Insgeheim vermutete ich, dass es bloß ein Lichteffekt war und meine Eltern sich von der Bühne stahlen, um irgendwo unterzutauchen. Natürlich war das ein dummer Gedanke meinerseits, da ich doch wusste, was Daddy alles möglich war. Er holte sogar Eric, seinen Freund aus der Jugendzeit aus dem Reich der Toten zurück, der dann von Daddy und Mutter adoptiert und Coras und mein Bruder wurde. Dennoch konnte ich nie an eine zukünftige Welt glauben und schon gar nicht daran, dass man in die Zukunft reisen kann, dass Zeitreisen überhaupt möglich sind. Klar, Daddys Vater kam angeblich auch aus der Zukunft. Wieso sollte es dann nicht möglich sein, in die Zukunft zu reisen? Mag sein, dass ich auch deshalb nicht an ihre Reise glauben wollte, weil sie viel zu weit weg waren. Wenn ich sie irgendwo auf der Erde gewusst hätte, wären sie mir näher, auch wenn ich sie nicht mehr sehen konnte.
Heute weiß ich, dass es Zeitreisen gibt, denn ich komme aus der Zukunft und schreibe diese Zeilen in meinem alten Zimmer, das später zu einem Atelier umgebaut wurde, wo ich hunderte Bilder von meinem Daddy malte.
Meine Ohnmacht dauerte damals sehr lange. Nicht, dass ich tage- und nächtelang in einer Art Koma lag; - ich kam kurz nach dem Konzert wieder zu Bewusstsein, aber gefühlsmäßig blieb ich ohnmächtig. Nicht einmal die führsorgliche Liebe meines Mannes konnte mir über den Verlust meiner Eltern hinweg helfen. Ich gebe offen zu, dass meine Liebe viel mehr meinem Daddy galt und meine Mutter das auch sehr gut verstehen konnte. Sie musste, als Cora und ich pubertierten und uns in Daddy verliebten, einiges an Bosheiten von uns ertragen. Immerhin war sie damals mehr unsere Rivalin, als unsere Mutter.

An meine frühe Kindheit konnte ich mich, als ich noch auf der Erde lebte, nur sehr dunkel erinnern. Cora wurde, wie später Eric, auch adoptiert, weil meine Eltern mehr als nur ein Kind wollten und Mutter, da sie sich dazu entschieden hat, ein Leuchtendes Wesen, wie Daddy, zu werden und deshalb in einer anderen Erddimension sterben musste, keine Kinder mehr bekommen konnte. Aber Cora war, im Gegensatz zu Eric, der bereits über zwanzig war, als Daddy ihn aus dem Reich der Toten zurückholte, für mich immer wie eine richtige Schwester. Wir beide kamen, von klein auf, in den Genuss, alle Liebe und alles Verständnis von Daddy spüren zu können. Auch wenn er damals oft auf Tournee ging, hatten wir nie das Gefühl, von ihm vernachlässigt zu werden.

Was das Verständnis betrifft, so hätten andere Eltern ganz anders reagiert, als ich im Alter von sechzehn Jahren einmal von der Schule nach Hause kam und Daddy sagte, ich habe von einem älteren Jungen aus der Schule eine LSD-Pille bekommen. Mutter rebellierte zwar kurz, aber Daddy konnte sie beruhigen und fuhr mit mir auf seiner Harley zum nahen See hinaus. Wir zwei waren ganz alleine am Seeufer. Es war eine kleine Lagune, die lange Zeit Daddys Lieblingsplatz war, wo er, wie er sagte, gerne in sich ging. Wir breiteten eine Decke aus und setzten uns gegenüber. Daddy hatte die Pille in seiner Hand und steckte sie mir in den Mund. Er sagte, ich soll etwa fünf Minuten meine Stirn an seine drücken und dabei die Augen schließen und ruhig atmen. Ich saß Daddy noch immer gegenüber, als mich ein seltsames Gefühl überkam. Zuerst war es nur ein leichtes Kribbeln an den Fußsohlen, das sich immer weiter nach oben, bis zum Scheitel fortsetzte. Ich blickte auf Daddy. Unwillkürlich musste ich an einen jungen, indianischen Häuptlingssohn denken, als ich ihn vor mir im Schneidersitz hocken sah. Das lange, schwarze Haar, das ihm weit bis über die Brust hing, der durchdringende und doch sanfte Blick aus seinen schocktürkisfarbenen Augen und vor allem die gerade und stolze Haltung, - das erinnerte mich so sehr an einen Indianer, dass ich es ihm sofort sagen wollte. Aber ich konnte nichts sagen. Ich konnte wieder einmal nur über seine außergewöhnliche Schönheit staunen, die so vollkommen schien, dass es nichts gab, was man hätte verbessern können. Aber ich staunte noch mehr, als ich Daddy Kleidung betrachtete. Noch vor wenigen Minuten war er in Jeans, einem T-Shirt und Motorradstiefeln gekleidet und nun saß er wirklich in Indianertracht vor mir. Eine Art Knochenhemd zierte seine muskulöse Brust. Die Hosen waren bunt bestickt, mit Fransen an beiden Seiten. Daddys Füße waren nackt. Um die Stirn trug er ein ebenso bunt besticktes Band und in sein Haar waren drei Federn eingeflochten. Als ich die Umgebung betrachtete, bemerkte ich, dass wir nicht mehr am Seeufer saßen, sondern uns in einem Bergland auf einem hohen Plateau befanden. Daddy reichte mir seine Hand und half mir hoch. Wir traten ganz nah an den Abgrund und blickten über die herrliche Weite dieser Landschaft, wo am Horizont ein dichter Wald begann und gerade die Sonne über den alten, hohen Bäumen aufging. Plötzlich gab mir Daddy einen Stoß und ich stürzte über die Klippen. Der Sturz dauerte nur wenige Sekunden, da ich schnell meine Arme bewegte und mich so in der Luft halten konnte. Aber als ich zur Seite blickte, sah ich keine Arme. Da waren Flügel, wie die eines Adlers. Ich war zu einem Adler geworden und neben mir flog noch ein Adler. Es war ein wunderbares Erlebnis so zu fliegen und alles so genau zu sehen. Auch wenn wir einige hundert Meter über dem Erdboden waren, konnte ich jedes kleinste Steinchen erkennen. Als wir nach unten stiegen und landeten, hatte ich plötzlich ein ganz anderes Körpergefühl. Ich sah wieder neben mich. Daddy war kein Adler mehr, - er hatte sich in einen Wolf verwandelt, - in einen roten Wolf. Mein Blick auf die Pfoten nach unten verriet mir, dass auch ich zu einem Wolf geworden war, - zu einem schwarzen Wolf. So liefen wir zum Waldrand und in den Wald hinein, wo wir uns wie zwei Welpen an einer Lichtung balgten. Ich fühlte das Leben in mir wie noch nie. Irgendwann erstarrte ich. Es gab keinen Blick mehr wie gewohnt. Es gab nur mehr Fühlen, - das Fühlen der Erde an meinen Füßen, das Fühlen der Sonne und des Windes an meinem Körper. Instinktiv wusste ich, dass ich ein Baum des Waldes war, durch den wir eben als Wölfe gelaufen waren. Als nächstes schien ich mich auszudehnen und ständig in Bewegung zu sein. Ich wurde zum Element Wasser. Dann wurde ich fest und starr, - das Element Erde. In der nächsten Sekunde wurde ich hochgehoben zu den Sternen und flog durch Galaxien mit unzähligen Sonnen, deren Feuer ich in mir spüren konnte. Dann herrschte absolute Stille. Weiß jemand, was absolute Stille bedeutet? Ich wusste es bis zu diesem Moment nicht. Wir hören sogar unseren Körper, wenn es rund um uns still ist. Wir hören unser Atmen, wir fühlen das Pochen unseres Herzens und wie es das Blut durch die Adern pumpt. Ich hörte und fühlte in diesem Moment nichts. Es gab nicht einmal ein Ich. Es gab nur das Nichts, - das unbeschreiblich unendliche Nichts.
Als ich meine Augen aufschlug, lag ich auf der Decke und Daddy kniete lächelnd neben mir. Ich brauchte einige Minuten, um wieder ganz zu mir zurück zu finden. Als ich Daddy erzählen wollte, was ich auf Trip alles erlebt habe, legte er mir, noch immer lächelnd, seine Hand sanft auf den Mund und zeigte mir seine andere Handfläche. Dort lag die LSD-Pille. Daddy sagte, er habe mir nur eine Traubenzuckerpille gegeben. Ich wollte wissen, wie er es angestellt hat, mich auf so eine beeindruckende Reise zu schicken. Er sagte, er habe sich geistig mit mir verbunden, als wir beide die Stirn aneinander gedrückt hielten, aber er selbst habe nichts getan. Das, was uns beiden widerfahren ist, sei ein Geschenk der Quelle der Kraft gewesen.
 
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Die Quelle der Kraft war, so weit ich mich damals erinnern konnte, schon immer Daddys Lieblingsthema. Für ihn gab es nichts anderes als nur die Quelle der Kraft. Einmal war ich nachts draußen im Park vor unserem Haus und betrachtete den Sternenhimmel. Plötzlich fühlte ich Daddy hinter mir stehen. Er fragte mich, was ich sehe. Ich antwortete, dass ich die Sterne sehe. Als er schwieg, fragte ich, was er sieht und Daddy antwortete: „Die Quelle der Kraft.“ Ich sah ihn überrascht an und meinte, dann wären auch er und ich die Quelle der Kraft. Daddy nickte nur und ging wieder ins Haus. In diesem Moment erinnerte ich mich an unsere Reise am Seeufer, an den Augenblick, als es nur das unbeschreiblich unendliche Nichts gab. Ich fühlte mich urplötzlich in diesen Augenblick zurück versetzt, sodass ich mich sofort in die Wiese setzen musste. Manche Menschen, wenn sie zum Sternenhimmel hochblicken, fühlen sich unheimlich klein im Gegensatz zu dieser unendlichen Weite da oben. Sie fragen sich, wie viele Welten es noch dort oben gibt, die unserer ähnlich sind. In diesem unbeschreiblich unendlichen Nichts fühlte ich mich keineswegs klein. Ganz im Gegenteil, denn ich selbst war dieses unbeschreiblich unendliche Nichts. Aber das war erst der erste halbe Schritt in dieses unglaubliche Geheimnis des Lebens.
Ich liebte Daddys Unterweisungen, die nie zwanghaft waren. Selbst seinen Freunden ließ er sein umfangreiches Wissen nie spüren und hörte ihnen aufmerksam zu, wenn sie über Gott und die Welt philosophierten. Als sie einmal meinten, er würde innerlich über sie lachen, sagte er, dass er niemals über die Quelle der Kraft lachen würde.
Daddy war zwar kein Freund von Religionen, aber er akzeptierte sie bei anderen so, wie er stets alles akzeptierte. Cora schlitterte einmal in eine Sekte hinein, die sehr esoterisch angehaucht war. Daddy nahm sie eines Tages zur Seite und sprach darüber mit ihr. Cora verstand zuerst nicht, warum er ihr so seltsame Frage stellte, wie etwa: „Hast du schon selbst einen Engel gesehen?“, oder: „Bist du dir sicher, dass aus eurem Meister der Erzengel Gabriel spricht?“ Ihm ging es dabei um das Selbsterlebte. Cora verneinte natürlich alle Fragen, aber Daddy meinte, er sage nicht, dass es nicht so ist, wie Coras angeblicher Meister sagt. Es ginge nur um sie selbst, um Cora, ob sie das, was der Meister sagt, mit ihrem eigenen Herzen glaubhaft vereinbaren kann. Als ich später darüber mit Cora sprach, wunderte ich mich, da gerade Daddy mit einer so genannten Übersinnlichkeit ausgestattet ist und manchmal doch so realistisch sein kann. Cora sagte, sie habe ihm dasselbe gesagt und er meinte darauf, dass er immer realistisch sei, denn er habe alles selbst erlebt und nur darauf komme es an. Dasselbe sei bei Religionen, sagte er weiter. Die Menschen hinterfragen nichts und plappern einfach alles nach, ohne auf ihre eigenen Herzen zu hören. Er sei keineswegs ein Gegner der Religionen, da die Menschen sehr viel Kraft aus ihrem Glauben ziehen können, aber nur, wenn der Glaube echt ist. Und er stellte es Cora frei, bei der Sekte zu bleiben, oder sie zu verlassen. Cora verließ die Sekte.
 
Buddha erlangte Erleuchtung unter einer Pappelfeige. Er erkannte alle seine früheren Leben, in denen er nicht nur Mensch, sondern auch Tier und Pflanze gewesen ist. Es mag sich wie Spekulation lesen, wenn ich sage, dass Buddha nicht nur all seine Leben erkannte, - er erkannte das Leben überhaupt. All das, was IST, ist die Quelle der Kraft. Buddha hat sich also selbst als ewige und unendliche Quelle erkannt.
Oder Jesus, der zwar „Sohn Gottes“ genannt, aber in den geheimsten Schriften als Gott selbst dargestellt wird. Des Weiteren steht in den geheimsten Schriften nicht nur, dass Jesus alleine als Gott selbst auf die Erde kam, sondern alles Lebende, wie auch Nichtlebende Gott selbst ist.
Im Tao, wie auch im Zen ist das Maß aller Dinge das Tao, das Zen selbst. Nicht handeln, nicht eingreifen, sich vom Ich befreien, sich leeren, um das Wahre zu erkennen – das ist die Lehre dieser religiösen Philosophien, die mir schon immer sehr zugesagt haben.
Auch in Naturreligionen lässt sich dieses Phänomen finden. In allem steckt ein einziger Geist. Die Erde gehört nicht uns, - sie gehört sich selbst, so wie alles sich selbst gehört. Das Selbst ist in diesem Fall nichts anderes als die Quelle der Kraft.
Daddy erzählte mir einiges über die Bewusstseinsblasen. Durch sie entstand auch das menschliche Bewusstsein. Bewusstsein mag ein Segen und zugleich ein Fluch sein. Ein Fluch vor allem deshalb, weil es ein Ich vortäuscht. Das Bewusstsein von „ich bin“. Daddy meinte einmal, die Quelle der Kraft habe sich deshalb eine Art Hintertür verschafft, nämlich den Tod, der die Lebewesen wieder befreit und ihnen ihre wahre Existenz zurückgibt. Ein Segen ist das Bewusstsein, weil es Entwicklung zulässt, - vor allem geistige Entwicklung.

Daddy und ich diskutierten oft darüber, ob es so etwas wie einen freien Willen gibt. Ich war stets dafür und Daddy entschied sich dagegen. Anhand vieler Beispiele wollte er mir seinen Standpunkt erklären. Zuerst meinte er, dass wir Menschen uns nur zwischen dem, was da ist, entscheiden können, was aber nichts mit einem freien Willen zu tun habe. Wenn wir in einem armen Land geboren werden, können wir zwar „wollen“, dass wir reich wären, aber das würde uns nicht weiterhelfen. Manchmal tun oder sagen wir etwas, wo wir selbst gar nicht wissen, warum wir dieses oder jenes getan oder gesagt haben. Schon im nächsten Moment tut es uns leid. Einige Menschen nennen es das Unterbewusstsein, weil sie keinen anderen Namen dafür kennen.
Einmal fragte ich Daddy, ob es etwas ändern würde, wenn wir bedingungslos glauben, dass alles die Quelle der Kraft und unsere Persönlichkeit nichts anderes als eine Illusion ist. Er sagte, im Grunde genommen würde sich nichts ändern, aber vielleicht würde uns in Notsituationen das Leben leichter fallen. Solange wir in der menschlichen Bewusstseinsblase sozusagen gefangen sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als durchzuhalten und das Beste daraus zu machen. Unser Bemühen sollte sich nur darum drehen, immer das für uns möglichst Beste zu tun. Das wäre auch im Sinne der Quelle der Kraft.
Es ist für einen Menschen sicher nicht einfach, seine Persönlichkeit aufzugeben. Andererseits, was ich nicht habe, oder nicht bin, kann ich gar nicht aufgeben. Ich habe auch Daddys Lieblingsbücher von Carlos Castaneda gelesen, wo es ganz besonders um dieses Thema geht, die Persönlichkeit aufzugeben, um nur im Sinne der „Kraft“ zu handeln. Damals, es war gerade die Zeit, nachdem Daddy mich auf diese wunderbare Reise mitgenommen hat, war ich so sehr bemüht, meine Persönlichkeit, wie Castaneda es beschrieb, aufzugeben. Daddy lachte mich aus und sagte, was immer ich auch mache, tut ohnehin die Quelle der Kraft. Erschrocken fragte ich ihn, ob die Quelle der Kraft auch mordet und stiehlt, - und Daddy bejahte.
Etwas später bekam ich einige Bücher über den indischen Gott Krishna in die Hände, in dem der Autor schrieb, dass Krishna auch ein Halunke ist. Aber er, als Gott, darf ein Halunke sein, denn für Götter gibt es nichts Gutes und nichts Böses. Die Götter sind es, die uns Menschen lenken und wir können nichts dagegen tun. Auch wieder eine Parallele zur Quelle der Kraft.
 
Die menschliche Bewusstseinsblase – ein Segen und ein Fluch zugleich. Da ich diese Schrift den Menschen hinterlasse, möchte ich noch einiges zur menschlichen Bewusstseinsblase hinzufügen. Es wird noch oft passieren, dass ich bei den Themen hin und her springe, da ich dieses Hin- und Herspringen bereits gewohnt bin. Überall gleichzeitig zu sein, das ist momentan mein Status. Aber nun weiter! Menschen sprechen oft von Liebe und Selbstlosigkeit. Daddy sagte einmal, dass bedingungslose Liebe, gepaart mit Selbstlosigkeit, bei den Menschen so schwer zu finden ist, wie eine Nadel im Heuhaufen. Als ich ihn fragte, was er darunter versteht, erzählte er mir diese Geschichte:
„Ein Mädchen verliebte sich in einen Jungen. Aber der Junge wollte von dem Mädchen nichts wissen und verspottete es vor seinen Freunden, weil es ihm ständig nachlief und ständig in seiner Nähe sein wollte. Selbst diese Demütigung hielt das Mädchen nicht davon ab, den Jungen weiterhin zu lieben.
Jahre vergingen, - die Demütigungen des jungen Mannes blieben, - die Liebe der jungen Frau blieb. Irgendwann nach diesen Jahren heiratete der junge Mann und zog mit seiner Angetrauten in ein eigenes Haus. Der junge Mann war reich geworden und bemerkte vorerst noch nicht, dass ihn seine Angetraute nur deswegen geheiratet hat. Die junge Frau wollte noch immer in seiner Nähe sein und streifte in jeder freien Minute, die sie zur Verfügung hatte, um sein Haus. Wenn der junge Mann sie sah, beschimpfte er sie laut und verscheuchte sie wie eine Bettlerin. Sie schien das alles zu überhören und gab nie auf, in jeder freien Minute, die sie zur Verfügung hatte, in seiner Nähe zu sein.
Wieder vergingen einige Jahre. Die Ehe des Mannes im mittleren Alter blieb kinderlos. Seine Frau liebte nicht wirklich, auch nicht körperlich sehr viel - höchstens einmal in zwei Monaten, denn meistens gab sie Migräneanfälle als Ausrede an. Aber sie liebte doch körperlich, - viele junge Männer, die ihr gerade über den Weg liefen. Da war sie nicht wählerisch. Manchmal bezahlte sie diese jungen Männer sogar, denn sie war mit dem Geld ihres Mannes reich. Einige Jahre bekam der Mann im mittleren Alter davon überhaupt nichts mit. Er dachte, seine geliebte Angetraute sei sehr krank und habe viele Arztbesuche. Das waren jedoch die Schäferstündchen mit den vielen jungen Männern. Aber einmal hegte er einen Verdacht und schlich ihr nach, bevor er die Frau mittleren Alters, die ihn wirklich liebte, vor seinem Anwesen mit den bösartigsten Schimpfwörtern wieder einmal vertrieben hatte. Der Verdacht bestätigte sich. Seine geliebte Angetraute war niemals krank, ging auch niemals zum Arzt. Der Mann mittleren Alters ließ sich sofort scheiden und war gebrochen. Er gab seinen gewinnbringenden Job auf, ließ sein Haus und Anwesen verkommen, zog sich aber trotzdem dort zurück und wollte von der ganzen Scheißwelt nie wieder etwas wissen. Die Fenster wurden grau, undurchlässig, sodass er nie wieder nach draußen blicken konnte. Er vergaß alles, - auch die Frau, die noch immer um sein Anwesen streifte.
Eines Tages hörte er draußen einen Vogel zwitschern. Es hörte sich nach Frühling an, und sein Herz erwachte zum ersten Mal. Er öffnete ein Fenster und sah in seinen wild blühenden Garten hinaus. Ein mildes Lächeln huschte über sein bisher vergrämtes, von Sorgenfalten gequältes Gesicht. Und dann erblickte er eine, trotz ihres Alters, wunderschöne Frau vor seinem Tor auf und ab gehen. Er dachte bei sich, dass er diese wunderschöne Frau schon irgendwo gesehen hat, aber er konnte sich nicht mehr erinnern wo. Langsam ging er vom geöffneten Fenster weg, trat aus dem Wohnzimmer, das viel mehr wie eine Rumpelkammer aussah, trat noch langsamer, fast zögernd, in die Vorhalle bis zur Haustür, die er genauso zögernd öffnete. Er schloss kurz seine Augen und atmete die lauwarme, süße Frühlingsluft tief ein. Sein Herz öffnete sich weiter. Er streckte seinen Rücken durch, fuhr sich mit beiden Händen über die Augen und lächelte wieder, - diesmal länger. Seine Sorgenfalten glätteten sich wie durch ein Wunder. Man könnte sagen, in diesen wenigen Minuten wurde er um viele Jahre jünger. Offene Herzen sind immer viel, viel jünger als geschlossene. Dann fiel sein Blick auf die Frau. Den wild blühenden Garten übersah er. Er überhörte auch das Gezwitscher der fröhlichen Vögel. Jetzt kam die wohl kitschigste Szene, wie sie sich ansahen, wie er langsam auf sie zuging, das Tor öffnete, ohne seinen Blick von ihr zu wenden, wie beide zitternd am ganzen Körper voreinander standen, um sich dann blitzschnell zu umarmen und zu küssen. In diesem Moment erinnerte er sich, wer diese wunderschöne Frau war. Aber er bedauerte nichts, denn er wusste, - für diesen Moment, als er all sein Glück fühlte, hat er gelebt. Nur für diesen Moment ein ganzes Leben. Es ist immer nur ein ganz bestimmter Moment der Höhepunkt eines ganzen Lebens.
Sie gingen zusammen ins Haus und räumten ordentlich auf. Sie kauften viele neue Sachen ein, renovierten alles, brachten den Garten in Ordnung und konnten endlich wahrhaftig leben und lieben.
Aber das Glück dauerte nicht lange. Die wunderschöne Frau wurde nach wenigen Monaten unheilbar krank und starb nach einem weiteren Monat. Der Mann war nicht gebrochen, denn sein Herz war offen und er war dankbar für diese Zeit allerhöchstes Glück, und er wusste auch, dass der Tod immer zum rechten Moment kommt.“
Das war die Geschichte, die mir Daddy erzählte. Ich sagte, das sei eine sehr traurige Geschichte und Daddy lachte. Er wusste sofort, was für mich an der Geschichte so traurig war, deshalb sagte er:
„Du hast nicht richtig zugehört. Was sagte ich am Schluss? Ich sagte, dass der Mann nicht gebrochen war, denn sein Herz war offen und er war dankbar für diese Zeit, wenn auch kurze, allerhöchstem Glück, und er wusste ebenso, dass der Tod immer zum rechten Moment kommt. Er konnte sein Herz öffnen. Das schaffen nicht viele Menschen, aber er hat es durch diese bedingungslose Liebe geschafft, durch die bedingungslose Liebe dieser Frau. Ihr Herz war immer offen. Offene Herzen können wirklich sehen, deshalb sah sie auch das wahre Herz dieses Mannes. Diese beiden Menschen erlebten die einzige und wahre Liebe. Dabei geht es nicht um Zeit. Dabei ist es nicht wichtig, wie lange sie diese einzige und wahre Liebe erleben. Wenn es nur eine Sekunde ist, wäre das für viele Menschen schon das Paradies.“
Ich gab mich noch immer nicht zufrieden. Ich fragte, wie es gewesen wäre, wenn der Mann wirklich so gewesen wäre, wie er sich gab, als er sie ständig beschimpfte und vor allen Menschen demütigte, weil sie in seiner Nähe sein wollte. Daddy sagte:
„Es gibt keine guten oder bösen Menschen. Es gibt nur verschlossene oder offene Herzen. Wenn alle Menschen ihre Herzen öffnen würden, hätten wir das Paradies. Nur offene Herzen können wirklich sehen.“
Die Liebe ist eine Himmelsmacht, ja, das ist sie wirklich, aber sie muss bedingungslos sein. Heute ist es für mich ein Leichtes, das zu verstehen und es auch zu leben. Ein offenes Herz ist die Liebe selbst. Und wenn man erst diese Liebe in das offene Herz hinein gelassen hat, spürt man in sich selbst die ewige und unendliche Quelle der Kraft. Das wäre der erste Schritt in die Neue Welt.
 
Einige Monate, bevor Daddy mit Mutter die Erde verließ, hatte ich mit ihm ein sehr aufschlussreiches Gespräch über die Quelle der Kraft. Ich sagte, es würde sich sehr einsam anhören, dass es nur ein einziges Wesen gibt und die Erscheinungswelten bloß eine Illusion seien. Daddy sprang vom Fauteuil auf und sah mich entsetzt an. Er meinte, ich habe die Quelle der Kraft völlig falsch verstanden, und das, obwohl sie mir ein wunderbares Geschenk gemacht hat. Das wunderbare Geschenk war damals die Reise, als ich erfahren durfte, wie es ist, als Adler zu fliegen, als Wolf durch die Wälder zu laufen, als Baum fest in der Erde verwurzelt zu sein und doch alle Elemente des Leben fühlen zu können, als Wasser zu fließen und als Feuer zu brennen und – und – und. Daddy sagte, ich hätte damals eines der größten Geheimnisse des Lebens erfahren dürfen. Ich verstand nicht, was er meinte. Daddy nahm meine Hand und führte mich an die Glasfront des Wohnzimmers. „Schau hinaus“, sagte er, „und sag mir, was du siehst.“ Ich sah unseren Park, mit den alten Bäumen, die Blumenbeete, die gesamte Wiese, wo noch immer alles grün war und blühte, obwohl in der gesamten Umgebung bereits alles verdorrt und vergiftet war. Es war ein Wunder, und wir nannten es das Wunder von Daddy, weil er nun mal die Liebe selbst für uns alle war. „Dann siehst du nicht richtig“, sagte Daddy, als ich ihm alles aufzählte, was ich sah. „Was soll ich denn sehen?“ fragte ich. „Was du sehen sollst? Nein, Manola, darum geht es nicht. Es geht um das wirkliche Sehen, denn wenn du wirklich siehst, erkennst du, dass alles mit allem verbunden ist. Der Baum dort vorne, links neben dem Beet mit den weißen Rosen, endet nicht mit seinen Wurzeln in der Erde, denn er ist auch die Erde. Ebenso ist seine Krone nicht das Ende seiner Existenz, da er auch der Wind selbst ist, der ihn bewegt, oder die Sonnenstrahlen, die er aufnimmt. Auch die Erde ist der Baum und der Wind und die Sonnenstrahlen, wie auch die Sonne selbst. In Wirklichkeit endet nichts, auch du nicht, selbst wenn du jetzt noch eine Begrenzung fühlst. Nichts und niemand endet, denn alles ist unendlich und ewig, - so wie die Quelle der Kraft. Du hast, wie sie, schon immer existiert. Alles hat schon immer existiert, eben als andere Form oder wie auch immer. Verstehst du?“ Ich verstand noch immer nicht und erinnerte Daddy an seine Lieblingsbücher von Carlos Castaneda, der das Loslösen der eigenen Persönlichkeit so sehr angepriesen hat und wozu Daddy selbst auch stand. „Ja, natürlich!“ rief Daddy aus. „Verliere dich selbst und du wirst dich in allem anderen wieder finden. Du wirst deine illusionäre Begrenzung erkennen und über das, was du meintest zu sein, hinauswachsen können. Du wirst deine wahre Existenz endlich erkennen können. Don Juan, der indianische Lehrer von Castaneda, und seine Mitzauberer wuchsen über sich hinaus. Sie wurden nicht nur zur reinen Energie, sie wurden zu allem, was IST. Castaneda sah die gefiederte, leuchtende Schlange, das Zeichen einer toltekischen Gottheit, in der alles enthalten ist. Don Juan und seine Mitzauberer flogen als leuchtende Schlange aus dieser Welt und wurden zu dieser Welt und zu allem, was in ihr enthalten ist. Das eine Ich, das so genannte begrenzte Ich wurde zu unendlich vielen Ichs, was ich die wahre Individualität nenne.“ Dann erinnerte ich mich an das, was Daddy oft die Ganzheit des Selbst genannt hat. Einst sagte er mir, dass in der Ganzheit des Selbst alle Lebewesen, die es gab, gibt und geben wird, enthalten sind. „Genau das ist es, Manola. Damals, als wir zusammen das Geschenk der Quelle der Kraft erhalten durften, hast du einen Teil von deinem umfangreichen und unendlichen Selbst erkannt und bist aus der menschlichen Bewusstseinsblase hinaus gewachsen.“ Ich fragte Daddy, ob die Quelle der Kraft aus all diesen Ganzheiten des Selbst besteht. Er schüttelte seinen Kopf und lachte. „Sie besteht nicht daraus, sie IST das alles. Ich weiß, dass das für ein menschliches Wesen sehr schwer zu verstehen ist, weil es stets in Begriffen und Beschreibungen denkt und nicht darüber hinaus kann. Aber vielleicht kannst du jetzt verstehen, warum ich oft sagte, dass auf einem bereits gegangenem Weg kein Herz liegt.“ Daddys scheinbarer Themenwechsel machte mir bei den Gesprächen mit ihm oft Kopfzerbrechen. „Warte, du wirst gleich verstehen, worauf ich hinaus will. Die Quelle der Kraft ist nicht, wie du meintest, ein einsames Wesen, denn sie ist überhaupt kein Wesen. Sie ist Kraft, reine Energie, die imstande ist, sich in alles gleichzeitig zu verwandeln. Sie ist Individualität pur. Und jetzt ein Beispiel: Was wäre, wenn ein einziger Mensch zu allen lebenden Menschen sagt: ‚Folgt mir und seid so wie ich’? Natürlich ist das gar nicht möglich, aber doch tun das sehr viele Menschen, indem sie, ohne ihr Herz zu hinterfragen, einem Schema folgen. Aber wir sind hier und jetzt da, um unseren eigenen Weg zu finden und ihm zu folgen. Wir sind hier, um unser Selbst zu erkennen und um über uns selbst hinaus zu wachsen. Wir sind die Schöpfer neuer Welten, die das nur zustande bringen können, wenn wir unser kleines, jämmerliches Ich loslassen, um es endlich in vielen, unendlichen Ichs wieder erkennen zu können. Nein, unser Ich, das, als was du dich jetzt fühlst, ist nicht wirklich klein und jämmerlich, - aber es ist nur ein kleiner Teil deiner Gesamtexistenz.
Es liegt wohl an der menschlichen Bewusstseinsblase, - diese Vergesslichkeit, weil sich der Mensch gerne als Spitze der Evolution sieht und nicht mehr weiß, was er alles als Elemente und viele andere Lebewesen geleistet hat. Menschen sehen auf Tiere hinab, halten sie in engen Kisten als Nahrung gefangen und sehen Pflanzen bloß als Verschönerung der Umgebung an. Menschen haben vergessen, dass sie selbst diese Tiere und Pflanzen sind, die für diese Welt sehr viel geleistet haben. Und doch stürzt sich unsere Ganzheit des Selbst immer wieder vielfältig in alle möglichen Bewusstseinsblasen, um das, was wie Menschen das Paradies nennen, endlich zu erschaffen. Wir haben das Ziel vor Augen, aber es ist noch ein langer, weiter Weg um die Erinnerung an die Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.“
 
Etwa zu dieser Zeit, vielleicht ein paar Wochen früher, hatte Alexander, Coras Sohn ein Gespräch mit Daddy, wo er meinte, wenn ohnehin alles die Quelle der Kraft regelt, könnten wir auch die Hände in den Schoß legen. Alexander nannte dies auch das „Nichttun“. Daddy legte beide Hände über sein Gesicht und stöhnte. „Na, gut!“ meinte er dann lächelnd. „Versuch es, wenn du kannst. Aber irgendwann wirst du hungrig und durstig, oder musst auf die Toilette. Dann wirst du wohl oder übel deine Hände wieder aus dem Schoß nehmen.“ Dann erzählte er seinem Enkel eine Geschichte über einen Meister, den sein Schüler sehr verehrte und ihn als absolutes Vorbild ansah. Eines Tages aber setzte sich der Meister auf sein Kissen und schrie auf. Er hatte eine Nadel auf dem Kissen übersehen. Sein Schüler war deswegen so enttäuscht, dass er ihn auf der Stelle verließ. „Angeblich ist für dich die Quelle der Kraft auch so wie dieser Meister“, sagte er zu Alexander. „Wenn du, wie du sagst, ohnehin die Hände in den Schoß legen kannst, weil die Quelle der Kraft alles macht, müsstest du doch vollkommen von ihr und ihren Taten überzeugt sein. Bist du das denn? Oder wäre es dir nicht lieber, eigenständig etwas zu tun?“ Alexander warf Daddy einen Widerspruch vor, - etwas, was wir alle ständig taten, weil es nun mal nicht leicht war, ihn zu verstehen. „Einerseits sagst du, wir sollten alles, auch uns selbst, loslassen, aber andererseits erwartest du, dass wir das tun, was uns richtig erscheint“, beschwerte sich Alexander. Daddy brauste sofort auf, dass er überhaupt nichts von uns erwartet, sondern, wenn wir ihn etwas fragen, oder um seine Hilfe bitten, er für uns da ist. Dennoch sollten wir zu allererst auf unsere Herzen hören und nicht alles, was er sagt, für bare Münze halten.
Ich glaube, Daddy erzähle diese Geschichte auch seinetwegen, weil er für uns auch so etwas wie ein Meister war. Dabei vergaßen wir oft, wie schwer sein Weg war, bis er seine Aufgabe in diesem Leben erkannte. Er war einsam und litt Qualen, wie kaum ein anderer Mensch. Keine Sucht war ihm fremd, ob Rauschgift oder Alkohol. Als Jugendlicher verdiente er sich als Strichjunge etwas Geld, weil seine Zieheltern nichts mehr für ihn übrig hatten. Und als er mit seiner Musik weltberühmt wurde, so berühmt, wie vor und auch nach ihm kein anderer Star, verwirrte ihn das mehr als es ihn stolz machte. Erst als er mit Mutter zusammen war, beruhigte sich sein Leben und er erkannte, warum er da war.
Lange Zeit verstand ich nicht, warum ausgerechnet Daddy die Gabe hatte, die Energien wieder zu harmonisieren, was ja seine wahre Aufgabe war. Nun, ich verstand schon, warum Gott ihm diese Macht gegeben hat, da Daddy uns mehr als selbstlos erschien und sicher niemals seine Macht missbrauchen würde. Ich verstand nur nicht, warum ein einzelnes Wesen diese Vormachtsstellung hatte und noch immer hat. Daddy ist der so genannte Wächter des Universums, der mit den Energien spielt wie mit einem Musikinstrument. Er ist in der Lage neue Welten zu schaffen. Er hat auch eine neue Welt – DIE Neue Welt – erschaffen. Klar, er tut es nicht alleine, aber die Wahl hat ja doch immer er, welche Wesen er um sich schart, die ihm bei seiner Aufgabe helfen. Die Quelle der Kraft selbst ist nichts Persönliches, wie Daddy immer sagte, also kann sie es nicht sein, die ihn dazu berufen hat, DER Wächter zu sein. Mutter sagte mir einmal, er sei der Quelle der Kraft aus den Händen geglitten und aus eigener Kraft aus sich selbst heraus gewachsen, was bisher noch kein Wesen geschaffen habe. Als ich ihr sagte, dies würde sehr nach dem ehemaligen Erzengel Luzifer klingen, der größer sein wollte als Gott, lachte Mutter und meinte, auch sie habe einmal Angst vor Daddy gehabt und hätte ihn für den Antichrist gehalten. Aber das war, als die beiden noch nicht zusammen waren und Mutter durch Daddys Ausstrahlung mehr als verwirrt war. Aber ihn mit dem Antichrist oder mit Luzifer zu vergleichen, würde nicht passen, da er immer wieder sagte, dass wir alle auf ein und derselben Stufe stehen. Keine Aufgabe sei größer oder kleiner. Es mache keinen Unterschied, ob ein Mensch einer alten Dame über die Straßen hilft, oder ein Mensch auf einmal tausende Leben rettet. Es liegt viel mehr daran, in einer bestimmten Situation das Schicksal an den Haaren zu packen und selbständig zu handeln. Viele Menschen haben Talente und Kräfte, aber sie arbeiten nicht daran, sei es aus Faulheit oder aus Feigheit. Es liegt immer nur an uns selbst. Vielleicht gäbe es ja auch mehrere Wächter des Universums, nur haben dies einige Lebewesen versäumt.
„Der Unterschied der Handlungsweise“, sagte Daddy an jenem Tag zu Alexander, „liegt darin: Es spielt keine Rolle, ob du etwas für dich selbst oder für andere tust. In deinem Herzen steckt eine ganz bestimmte Kraft, deren Stimme sehr leise ist. Aber wenn du in dich gehst, deinen Geist beruhigst, kannst du sie vernehmen. Je lauter diese Stimme wird, umso mehr öffnest du dein Herz und lässt diese Kraft in dich strömen. Fühle dich, als ob du ein hohles Rohr wärst, das von innen durchgeblasen wird, wodurch es alle Beeinflussung und Programmierung von außen los wird. Dann lass die Kraft in dich hinein und du wirst immer das Rechte tun. Es ist in der Tat die Quelle der Kraft, die dich führt, - das ist sie auch, wenn du dich nicht leerst. Nur wird es dann mit deinem Verständnis etwas hapern und du wirst dich oft fragen, was du denn davon hast. Diese Frage erübrigt sich, wenn du dir vollkommen bewusst bist, dass die Quelle dich führt, weil du erkennen wirst, dass du selbst die Quelle bist. Dann wird es dir nicht leid tun, wenn du einmal wütend wirst, wenn du verärgert oder traurig sein wirst. Das alles spielt dann keine Rolle mehr, weil es kein Gut, kein Böse, kein Glück und keine Trauer mehr gibt. Verstehst du? Nur dieses Wissen um die Quelle der Kraft macht dein Leben zu einem leichten Leben, in dem aber nur du die Verantwortung trägst. Verrückt, nicht wahr? Verantwortung – was für ein erschreckender Begriff! Und doch ist das Leben leichter, wenn du für dich selbst die Verantwortung voll und ganz übernehmen kannst. Nichts und niemand hat Schuld an deinem Glück oder an deinem Leid, weil es weder Glück noch Leid gibt. Noch verrückter, was? Und du wirst dich fragen, wie du es anstellen sollst, die Quelle der Kraft in dich zu lassen, wo sie ohnehin schon in dir ist. Nichts kannst du tun, - nur glauben. Glauben mit ganzer Kraft und so handeln, als würde es nur dieses eine Handeln geben. Es gibt kein Zurück. Du kannst nie wieder irgendetwas wieder gut machen. Also mach es JETZT gut. Und wenn du es nicht gut machen kannst, dann mach es schlecht, aber MACH ES!“
In Momenten wie diesen war Daddy immer ganz weit von uns entfernt, als würde er viel mehr zu sich selbst, als zu uns sprechen. Ich erkannte den Unterschied damals, und zwar den: Wenn jemand anderer als Daddy so zu Alexander gesprochen hätte, wäre die Wirkung verloren gegangen, so aber steckte etwas in diesen Worten, das wirklich Kraft war. Wir konnten sehen, wie sich Alexander immer weiter aufrichtete und seine Augen von innen heraus strahlten, als er würde er Daddys Kraft mit jedem neuen Atemzug aufsaugen. Aber es war keine Suggestion, es war nur reine, unpersönliche Kraft, mit der Alexander selbst etwas anfangen konnte. Ich glaube, Daddy hätte ihm diese Worte gar nicht sagen müssen. Er hätte Alexander auch irgendein Märchen erzählen können. Es lag an der Art, WIE Daddy sprach, - mit einer Inbrunst, die nicht wirklich in den Worten, sondern in seiner Stimme lag und von dort heraus drang auch die Kraft.
 
Wenn wir nichts mehr persönlich nehmen, sagte Daddy einmal, leben wir das wahre Leben. Genau darauf zielte er stets hin, wenn es darum ging, sich von allem zu lösen und dennoch alles so zu tun, als wäre es das Letzte und Wichtigste, was wir auf Erden zu tun haben. Der Mensch, meinte Daddy, besteht im Grunde genommen aus allen Augenblicken seines Lebens, die nie gelöscht werden können. Es sind unsere Handlungen, die uns ausmachen, aber niemals die Person selbst. Dennoch sind unsere Handlungen persönlich, da sie von uns, von der Person selbst ausgehen und demnach ebenso individuell sind wie wir selbst. Zumindest, schloss Daddy das Gespräch ab, sollten unsere Handlungen individuell und keine Nachahmungen sein.
Ich dachte an dieses Gespräch, als ich gerade dabei war, ein Porträt von Daddy von malen. Es war mein erstes Bild nach seinem und Mutters Abgang von der Erde. Als ich den Pinsel in meine Hand nahm und ihn in Farbe tauchte, kam ich langsam wieder aus meiner zweiten Ohmacht, da vor zwei Monaten mein Mann gestorben war. Ich versuchte Daddy so zu malen, wie ich ihn mir auf der Leuchtenden Welt vorstellte, - wie er sich langsam, Schritt für Schritt, vom menschlichen Sein in ein Leuchtendes Wesen verwandelte. Einige Strähnen seines langen Haares malte ich blauschwarz, wie sie auf der Erde waren. Auch seinen Augen versuchte ich die schocktürkise Farbe zu geben, was mir aber nicht so gut gelang, da Daddys Augen stets von innen heraus leuchteten. Ich war dabei, mein Meisterwerk zu schaffen. Bei meinen Ausstellungen, die stets Bilder von Daddy zeigten, sagten die Menschen oft, dass ich meinen Vater wieder auferstehen lasse und sie ihn in den Bildern besser erkennen als auf Fotos. Für mich waren die Bilder bisher nicht einmal ein schwacher Abglanz seiner außergewöhnlichen Schönheit. Selbst wenn ich die Augenfarbe auf diesem Porträt nicht hinbekommen hatte, so fand ich, war dieses Bild mein bisher bestes. Und das blieb es auch. Die ganze Familie bestaunte es, als es endlich fertig war und stimmte mir zu. Es wurde eingerahmt und ins Wohnzimmer über die Couch gehängt.

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Aber noch war ich dabei, dieses Bild fertig zu stellen, als ich draußen, vor dem großen Fenster meines Ateliers ein seltsames Geräusch hörte. Ich stand von der Staffelei auf und blickte hinaus. Da ich nichts erkennen konnte, öffnete ich das Fenster und spürte einen sanften Windhauch, obwohl draußen nicht einmal ein Lüftchen ging. Ich schloss das Fenster wieder und wollte zur Staffelei zurückgehen. Ein Schrei erstickte in mir, als ich auf dem Hocker vor der Staffelei eine Gestalt sitzen sah. Diese stolze gerade Haltung, das hoch erhobene Haupt mit dem schwarzen, seidig glänzenden Haar, das füllig bis zu den schmalen Hüften herab hing. Gekleidet war die Gestalt in einem weißen Umhang, der um die Mitte mit einem goldfarbenen Gurt zusammen gehalten war. Ich sah das sanfte und beruhigende Lächeln in dem wunderschönen Gesicht, die strahlend leuchtenden Augen und atmete endlich wieder tief durch. Da war er nun, der große Arima, wie er laut der Prophezeiungen im Buch auf der Leuchtenden Welt heißen sollte. Aber Daddys Vater konnte seiner Geliebten den Namen nicht mehr nennen, also gab sie ihrem Sohn den Namen seines Vaters – Kim. Seltsamer weise konnten wir uns nie an den Namen „Arima“ gewöhnen und auch Daddy wollte es nicht. Er hieß seit seiner Geburt „Kim“ und ließ es auch dabei bleiben, ganz egal, was in der Prophezeiung stand, die er ja trotzdem erfüllte.
Daddy betrachtete das fast fertige Porträt und nickte mir zu. „Es ist dir wirklich gelungen und diesmal endlich ohne Vorlage“, sagte er. Das stimmte, denn ich malte ihn ständig von irgendwelchen Fotos ab, die Mutter gemacht hat, oder aus alten Zeitschriften, in denen der berühmteste Star aller Zeiten abgelichtet war. Diesmal wollte ich Daddy aus meinem Gedächtnis malen, genauso, wie ich ihn stets fühlte – sein sanfter und etwas nachdenklicher Blick, den Kopf leicht zur Seite geneigt und vor allem die Verwandlung zum Leuchtenden Wesen.
„Wie kommst du hier her?“ fragte ich mit leicht gebrochener Stimme, da ich noch immer sehr aufgeregt war.
„Was für eine Begrüßung! Keine Umarmung? Keine Freude?“ fragte er lachend und erhob sich. Ich fand, er war noch größer geworden. Als Mensch maß er schon knappe zwei Meter und nun erschien es mir, als habe er die zwei Meter bereits überschritten. Ich eilte auf ihn zu und warf mich weinend in seine offenen Arme. Mein Kopf lag unter seiner Brust. Als er seine Arme um mich legte, fühlte ich mich wieder geborgen und meine Ohmacht war endgültig weg.
„Und jetzt sag mir, wie du hier her gekommen bist. Soll ich die anderen holen. Sie würden dich so gerne sehen, “ sprudelte es mir heraus.
„Nein, sag ihnen nichts. Es soll unser beider Geheimnis bleiben. Mein Besuch hat nicht den Grund, um deine Sehnsucht nach mir zu stillen. Ich habe eine Aufgabe für dich und für diese Aufgabe möchte ich dich in der nächsten Zeit vorbereiten.“
„Ich komme es aus der Zukunft zu dir. Der Kim, der jetzt auf der Leuchtenden Welt weilt, weiß nichts darüber – zumindest noch nicht, auch wenn er ein ganz leises Gefühl in sich spürt, jetzt bei dir zu sein. Ja, in diesem Moment denkt er an dich“, sprach Daddy weiter.
Ich war mir in diesem Moment gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt noch Daddy nennen soll. Er lachte. „Natürlich kannst du mich weiterhin Daddy nennen, da ich der Selbe bin, aber eben aus einer anderen Zeit. Ich bin sozusagen einer der zukünftigen Augenblicke deines Daddys.“
Wir setzten uns auf das Sofa, das an der Wand neben dem Fenster stand, wo ich manchmal auch schlief, wenn ich bis in die Nacht hinein malte und nicht mehr hinunter ins Schlafzimmer gehen wollte. Das tat ich, nachdem mein Mann gestorben war, ohnehin oft, da ich es nicht ertragen konnte, das Bett neben mir leer zu sehen. Ich dachte eben daran, Daddy Vorwürfe zu machen, warum er damals nicht zu mir kam, wo ich ihn so sehr gebraucht hätte. Er las meine Gedanken und lächelte.
„Du hast mich nicht gebraucht, weil du weißt, dass du deinen Mann nicht verloren hast. Er ist in dir, so wie du in ihm bist. Und jetzt lass uns über deine Aufgabe sprechen.“
 
Meine erste Aufgabe war, mir der Ganzheit meines Selbst vollkommen bewusst zu werden. Der Grund, warum Daddy und meine Mutter nicht nur geistig, sozusagen als reine Energie die Erde verließen, sondern auch körperlich, war nicht nur, weil sie bereits auf der Erde Leuchtende Wesen waren, sondern, weil sie beide bewusst die Ganzheit ihres Selbst waren und demnach die menschliche Bewusstseinsblase bereits auf der Erde durchbrochen hatten. Man würde meinen, sie wären lebende Tote gewesen, aber gerade das Gegenteil war der Fall. Sie waren das Leben selbst, was man auch an ihren Augen erkennen konnte. Castaneda schrieb oft über Don Juan und seine Mitzauberer, dass ihre Augen von innen heraus leuchten, als würden sie innerlich nur aus Licht bestehen. Genau an das musste ich stets denken, wenn ich meinen Eltern in die Augen sah.
Es war nicht einfach, die Ganzheit meines Selbst bewusst zu erkennen. Und Daddy kannte kein Mitleid. Er zog mich an den Haaren aus dem Bett, schwebte schwerelos mit mir aus dem Fenster zum Himmel hoch und ließ mich aus einer unbeschreiblichen Höhe in die Tiefe stürzen. Zuerst glaubte ich zu träumen, aber ich wurde urplötzlich aus dem Schlaf gerissen und spürte, wie ich am Boden aufschlug. Der Schmerz war so unbeschreiblich, dass meine Stimme versagte und ich nicht einmal schreien konnte. „Gib auf!“ hörte ich Daddy rufen. „Lass deine gesamte Kraft in die Erde fließen und dann steig auf wie Phönix aus der Asche.“ Ich weiß nicht mehr, ob es Daddys Stimme war, die mir den Impuls gab, genau das zu tun. Aber ich gab gerne auf, um endlich diese rasenden Schmerzen los zu werden. Dennoch ging es nicht so schnell, wie ich es wollte. Es ging nicht um meinen Willen. Es ging überhaupt nicht um mich. Plötzlich fühlte ich die lebende Erde. Ihre Schmerzen waren nichts gegen meine. Ich hatte das tiefe Bedürfnis, ihr diese Qualen zu nehmen, ihr all meine Kraft zu geben, um ihr Leid zu lindern. Aber ich befürchtete, meine Kraft würde nicht ausreichen. Im nächsten Moment spürte ich ein Lächeln in mir. Mutter Erde lächelte mir zu und nahm mich in sich auf. Es war wirklich so. Der Boden unter mir, wo mein gebrochener Körper lag, tat sich auf und verschlang mich. Ich hatte keine Angst zu ersticken. Ich fühlte Geborgenheit, wie in Daddys Armen. Mutter Erde und ich waren eins. Noch nie in meinem Leben spürte ich so eine grenzenlose Verbundenheit. Ich wusste, dass ich in diesem Moment sterbe, aber dieses Sterben bedeutete nicht das Ende. Ich werde zurückkehren, mit der Kraft der Erde, mit der Kraft des Feuers und mit all der Energie, die ICH BIN. Diese Gedanken saugten sich an mir fest, als der Boden über mir wieder aufbrach und ich mit all meiner Kraft empor stieg. Nicht ich war die Heilerin, sondern Mutter Erde.
Lange Zeit flog ich als Adler über den Wolken und blickte hinab auf die heile Erde, aus der gigantische Felsen empor ragten, die mit gewaltigen Wäldern, aus uralten Bäumen und saftigen Wiesen übersät war. Wilde Tiere jagten darüber und erfreuten sich des Lebens. Quellen, Bäche, Flüsse und Meere nährten die Länder. Die ersten Menschen saßen am Feuer und wärmten sich. Alles schien so friedlich, bis sich die Szenerie schlagartig änderte. Statt der gigantischen Felsen türmten sich kahle Betonhochhäuser. Die vorhin noch reinen Wolken verwandelten sich in Smog. Und die Menschen, die einst friedlich am Feuer saßen, zerfleischten sich gegenseitig. Dennoch empfand ich keine Wut oder Verzweiflung. Ich spürte, das musste sein, um zu erfahren, welche Grausamkeit in uns stecken kann. Dort, wo Liebe ist, ist auch Hass. Dort wo Friede ist, ist auch Gewalt. Nicht, dass wir diese Dualität überwinden, oder uns für eines von beiden entscheiden müssten, - es geht einzig und allein nur um Erfahrung, - darum, was uns alles möglich ist. Wir erkennen, dass da mehr sein muss, dass wir aus dieser so leicht verletzbaren Materie herauswachsen müssen. Unsere Energie darf nicht so eng gebündelt werden, - sie muss frei sein, - frei für eine Neue Welt. Es mag als lange Zeit erscheinen, dieses Zeitalter, das in der indischen Mythologie das dunkle Zeitalter genannt wird, aber im Gegensatz zur Unendlichkeit ist sie nur ein Wimpernschlag. Das Leid mag groß sein, aber größer ist unsere Unwissenheit und noch größer das Ausbleiben des Glaubens in uns selbst.
Mein Flug als weißer Adler endete abrupt. Im nächsten Moment lag ich wieder in meinem Bett und Daddy kniete neben mir am Boden. „Du hast es gut gemacht, mein Mädchen“, sagte er und streichelte mir über die Stirn. „Hätte ich sterben können?“ fragte ich müde. „Nein. Ich wusste, dass du bereit bist. Wenn ich wieder komme, wirst du den nächsten Schritt zur Ganzheit deines Selbst tun.“ „Das war noch nicht alles?“ fragte ich und stöhnte. „Wo denkst du hin? Die menschliche Bewusstseinsblase ist keine Seifenblase. So leicht lässt sie sich nicht durchbrechen. Aber ich kann dir sagen, du hast bereits einige Löcher hinein geschlagen.“
 
Das nächste Mal wurde ich abermals sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen. Für einen Beobachter dürfte es ein sehr seltsamer Anblick gewesen sein, wie ein Jüngling, in einem weißen Umhang, fliegend in die Wolken eintaucht und mit einer Hand eine alte Frau am Haarschopf mit sich nimmt. Ich glaube kaum, dass irgendjemand in diesem Fall seinen Augen traut.
Ich fiel ins Meer. Durch die enorme Höhe war es wie das letzte Mal. Ich stürzte wie auf einen Betonboden, aber ich durchbrach den Boden, der ja aus Wasser bestand und tauchte bis zur tiefsten Stelle des Meeres hinab. Obwohl es dort unten stockfinster war, konnte ich sehen. Die Szenerie am Meeresboden erschien mir wie auf einer anderen Welt. Ich sah Pflanzen, wie es sie oben auf der Erde nicht gab, seltsame Felsformationen und Tiere, die wie Monster ziemlich furchteinflössend aussagen. Eines kam direkt auf mich zu. Die Augen groß und schwarz. Ein unförmiger dicker Körper, der eigentlich wie ein riesiger Kopf aussah. Nur an den Seiten befanden sich winzige Flossen, die wie die Flügel eines Kolibris rotierten. Das Maul war groß und offen. Ich sah oben und unten zwei Zahnreihen. Die Zähne waren spitz, lang und wuchsen nicht unbedingt gerade heraus. „Ängstigt er dich?“ hörte ich neben mir Daddys Stimme fragen. Ich sah ihn nicht, aber ich hörte seine Stimme, als wäre er direkt neben mir. „Ja, sicher, denn er kommt direkt auf mich zu, und ich denke, er ist so groß, dass er mich als einen Happen verschlingen kann“, sagte ich in Gedanken. „Was ängstigt dich? Seine Größe? Sein Maul, mit den spitzen, langen Zähnen?“ fragte Daddys Stimme. „Eigentlich alles“, dachte ich und sah hinter dem Monster bereits ein zweites, das noch größer auf mich wirkte. Als ich mich umdrehte, kamen drei weiter auf mich zu. Sie sahen sich alle ziemlich ähnlich und doch waren ihre Körper jeweils anders geformt und sicher größer als ein ausgewachsener Killerwal. „Was meinst du, warum du noch lebst?“ fragte die Stimme neben mir. „Tu ich das?“ fragte ich im Scherz. Im nächsten Moment wunderte ich mich selbst darüber. Mir fiel ein, dass ich keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, ich könnte sterben, wenn ich aus dieser enormen Höhe falle. Auch beim ersten Mal war es so.
Daddy erzählte er mir einmal, dass Mutter nie krank war, seit er mit ihr zusammen war. Selbst bei der ärgsten Grippewelle, als die gesamte Familie daran erkrankte, war sie die Einzige, die nicht davon betroffen war. Laut Daddy lag es an ihrer Einstellung. Viele Menschen befürchten, krank zu werden, nur weil es heißt, dass eine Grippewelle übers Land zieht. In den Medien werden zu gegebenen Zeiten Medikamente angepriesen, Nasensprays, Brausetabletten und anderes Zeugs – und schon werden die ersten Menschen krank. Ich glaubte nicht daran und Cora, die Ärztin war, noch weniger. Wenn dich ein Virus befällt, meinte sie stets, kannst du soviel wie du willst daran glauben, nicht krank zu werden, - aber du wirst es trotzdem. Daddy lachte und sagte, dass Mutter weder daran dachte, krank zu werden, noch daran, nicht krank zu werden. Sie war nicht einmal überzeugt davon, NICHT krank zu werden. Für sie gab es diese Worte einfach nicht. Krank sein oder nicht krank sein hatte sie einfach aus ihrem Bewusstsein gestrichen. Das Kuriose daran war, dass es gar nicht willentlich geschah, - es war einfach so.
Und genau das war es auch bei mir. Es lag nicht an meiner Überzeugung, nicht zu sterben, wenn ich aus dieser Höhe auf den Erdboden oder auf der Meeresoberfläche aufschlage. Den Gedanken zu sterben gab es einfach nicht. Ob es am Vertrauen zu Daddy lag, oder ob es für mich so Bestimmung war, kann ich aber nicht sagen.
In dem Moment wusste ich intuitiv, dass mir diese Tiere, die wie Monster aussahen, nichts tun werden. Sie waren Lebewesen wie ich, aus ein und demselben „Stoff“. Sie waren wie meine Brüder und Schwestern. Ich streckte meine Hand aus und streichelte dem ersten sanft übers Maul. Es fühlte sich weich an. Auch die anderen kamen auf mich zu und schmiegten sich wie Katzen an meinen Körper.
Als ich von einem Augenblick auf dem nächsten wieder in meinem Bett lag, kniete Daddy abermals neben mir und lächelte. „Woran liegt es wirklich?“ fragte ich, und Daddy verstand sofort. „Die Manifestation der Gedanken“, sagte er leise.
Irgendwann in meinen jüngeren Jahren habe ich auf der Erde einen Film gesehen, wo es darum ging, ein außerirdisches Objekt am Meeresgrund zu erforschen. Dieses Objekt war eine riesige Blase, in die ein Forscher nach dem anderen hinein ging. Daraufhin spielten sich einige Szenen ab, die sich die Forscher nicht erklären konnten, bis sie drauf kamen, dass sich ihre eigenen Gedanken manifestieren, die nicht gerade friedlich waren. Am Schluss des Films sagte einer der Forscher, dass sie als Menschen noch nicht bereit für so ein außergewöhnliches Geschenk wären, da sie ihre Gedanken nicht im Griff haben.
Daddy las meine Gedanken und nickte. „Es war bei dir das Selbe. Wahrscheinlich hast du einmal gehört oder gelesen, dass es in diesen Meerestiefen Fische gibt, die wie Monster aussehen und Monster sind im Allgemeinen ziemlich böse.“ „Soll das heißen, dass ich diese Fische durch meine Gedanken erschaffen habe?“ fragte ich. „So einfach ist es auch wieder nicht“, lachte Daddy. „Diese Tiere sind durchaus da. Du warst in der Lage, dich mit ihren Energien zu verbinden, weshalb sie dich als Ihresgleichen angesehen haben. Das Bewusstsein dieser Tiere, denen du dort unten begegnet bist, ist darauf eingestellt, alles, was ihnen nicht gleicht, anzugreifen. Und alles, was ihnen nicht gleicht, besteht für sie aus Nahrung. Es ist nun mal alles Energie, - ein und dieselbe Energie, auch wenn sie in unzählig verschiedenen Formen erscheint. Und wenn du in der Lage bist, dies bewusst zu erkennen und dich obendrein darauf einstellen kannst, kann dir nichts etwas anhaben.“ „Ist das auch der Grund, warum ich beide Male nicht gestorben bin?“ fragte ich. „Das hast du dort unten schon erkannt. Du hast den Tod aus deinem Bewusstsein gestrichen.“ „Würde das bei jedem Menschen so sein, der den Tod aus seinem Bewusstsein streicht?“ „Auf jeden Fall. So ein Mensch würde irgendwann einmal die menschliche Bewusstseinsblase bewusst verlassen, - so wie deine Mutter und ich sie verlassen haben, um auf die Leuchtende Welt zu gehen. Auch wenn die Leuchtende Welt noch immer zur menschlichen Bewusstseinsblase gehört, da sie ja die Weiterentwicklung der Erde ist, war es doch ein Schritt aus dem menschlichen Bewusstsein heraus, da die Leuchtende Welt eine Zukunftserde ist. Wenn Menschen sterben, manifestieren sich ihre Gedanken beim Übergang. Für manche mag es wie die Hölle und für andere wie der Himmel sein. Aber in Wirklichkeit liegen beide falsch, so lange, bis sie erkennen, dass es ihre eigenen Gedanken sind. Erst, wenn ihr Geist leer ist, finden sie zu sich selbst.“
Ich las auf der Erde sehr viel, darunter auch ein Buch, in dem über das tibetische Totenbuch geschrieben wird. Einen Satz daraus habe ich mir eingeprägt. Er lautet: „Im Tod begegnen wir unausweichlich uns selbst.“ Da wir über den Tod scheinbar nichts wissen, hängt dabei sehr viel von unserem Glauben ab. Die meisten Menschen erwarten eine Art Überwesen, einen Gott, der über ihr Leben urteilt. Durch ihren Glauben, werden sie ihm im Tod auch gegenüberstehen. Wenn ein Mensch mit seinem Lebenslauf hadert, ein schlechtes Gewissen hat, wir ihn wohl oder übel ein gestrenger Gott gegenüber stehen. Nur, das, was ihm da im Tod gegenüber steht, ist er selbst, - es ist nichts anderes als die Manifestation seines Geistes.
 
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Zwischendurch zur Information: Hier der erste Vorbote zu dieser Geschichte:


Der erste Teil der Kim-Saga ist beim Novum-Verlag erhältlich! http://www.novumverlag.at/

Pressemitteilung:

Ist die Protagonistin Maria Dorner verrückt oder sind es die anderen?
Oder gibt es etwa eine ganz andere Erklärung für alles? Mit
diesen aufwühlenden Fragen ist der Leser gleich zu Beginn von
Elisabeth Blömers Roman konfrontiert.

Maria Dorner erwacht im Krankenhaus und sieht sich einer ihr fremden
und veränderten Realität gegenüber. Robert, der Mann, der an
ihrem Bett sitzt, ist in ihren Augen derjenige, den sie für ihre große
Liebe Kim verlassen hat. Ihrem Empfinden nach sind 10 Jahre ihres
Lebens verstrichen statt der 10 Tage im Koma, von denen man ihr
erzählt. Der Leser spürt deutlich Marias Verwirrung; es ist ein Albtraum,
aus dem sie anscheinend nicht erwachen kann. Doch Maria
nimmt den Kampf gegen das Schicksal an und begibt sich auf die
Suche nach Kim, diesem geheimnisvollen, wunderschönen Mann,
der nicht von dieser Welt zu sein scheint.

Die „Kim-Saga“ lässt sich kaum einem gängigen Genre zuordnen;
der Roman besticht durch sprachliche Eleganz und außergewöhnliche
Ideen, mit denen die Autorin den Leser immer wieder überrascht.
 
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