Eine alte Familiengeschichte

Terrageist

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Die Geschichte meiner Mutter

Gerade geht es mir so durch den Kopf, was sie mir alles so erzählt hat, noch während meiner Kindheit, dass ich beinahe ausgefüllt war nur mit ihrer Geschichte.

Ihr Geburtsjahr war 1919, und sie verstarb 2008.

Damit sie nicht unehelich geboren wird, wurde ihr Vater von der Familie ihrer Mutter mit einem eigenen Friseurladen geködert. Er heiratete ihre Mutter also, war dann aber erstmal wieder weg und ließ sie alleine.

Meine Mutter kam als Neugeborene sofort zu ihrer Urgroßmutter Anna, die mal in einer Meditation von ihr mein Gesicht hatte. Nach zwei Jahren starb ihre Urgroßmutter, und ihr Urgroßvater wurde zum Pflegefall, woraufhin sie nebst dem Urgroßvater zu ihren Großeltern kam.

Das war sehr ländlich, beinahe bestand der Ort nur aus einem Haus, irgendwo mitten im Wald gelegen. Dort war sie wohl recht fröhlich und frei erstmal, wild und unbändig, so dass ihre Großeltern auch irgendwann sagten, es wäre ihnen zu viel, und als sie sechs Jahre alt war, kam sie in die Stadt zu ihren Eltern.

Ihre Mutter hatte inzwischen, ein Jahr nach ihr noch zwei zweieiige Zwillinge, Jungs bekommen.

Da sie keine Hilfe mehr hatte, und ihr Mann erstmal weg war, besorgte ihr im Krankenhaus der Arzt eine Arbeit und eine Wohnung. In dieser Wohnung ließ meine Großmutter dann die beiden kleinen Jungs über den Tag alleine liegen und ging arbeiten.

Zwischendurch kam ihr Mann immer mal wieder und nahm sich aus dem Schrank einige Kostüme, die sie hatte, weil sie Schneiderin war, und nahm sie mit, sie zu verkaufen.


Als meine Mutter dann mit sechs Jahren in diese Familie kam, stand ihr Vater vor ihr. Meine Mutter sah ihn wütend und eigensinnig an, denn sie war gerade von ihren Großeltern schmählich verlassen worden, und dort abgegeben, über das sie immer sehr schlecht gesprochen hatten.


Sie stand hilflos vor ihm, mit ihren langen blonden Haaren, trotzig und hilflos, und er sagte, das würde er ihr austreiben, und schnitt ihr erstmal, er war ja Friseur, die langen Haare ab.


So kurz, dass sie in der Schule nur noch Fritz genannt wurde, sie hieß eigentlich Frieda, aber sie sah halt von da an aus wie ein Junge.


In der Schule war es sowieso schwierig, denn sie konnte erstmal nur Plattdeutsch sprechen, es wurde aber Hochdeutsch von ihr erwartet.


Zuhause dann, wenn der Vater da war, führte er ein strenges Regiment, und sowohl meine Mutter, als auch ihre beiden Brüder wurden regelmäßig geschlagen, nicht mit den Händen, sondern mit etwas, das meine Mutter Hundepeitsche nannte.


Sie wurde außerdem von da an für alles was ihre Brüder anging, die ja nur ein Jahr jünger waren, verantwortlich gemacht. Sie war wie eine Mutter für sie, half ihnen in der Schule und überall wo sie konnte. Gerade weil es bei ihnen zuhause so hart war, hielten die Geschwister fest zusammen und die beiden Jungs hingen sehr an ihrer „großen“ Schwester.


Auch als Erwachsene noch, wobei ein Bruder mal bei uns zu Besuch war, als meine Mutter schon von meinem Vater getrennt war, und einmal, als meine Mutter nicht dabei war, ich war, ich weiß nicht, größeres Kind, meinte er, mich küssen zu müssen, indem er mich mit seiner Zunge vollsabberte, ich kann es leider nicht anders ausdrücken, und hatte auch keine Ahnung was das sollte.


Er war dann noch beleidigt, dass ich mir danach den Mund abwischte, und sagte so etwas wie: „Das machst du schon ganz gut.“ Ich hatte überhaupt nichts gemacht, nur weil ich nicht verstand, leistete ich eben auch keinen Widerstand, zumindest nicht sofort.


Das war nur einmal. Aber viele Jahre später, es mag Zufall sein, starb er an Zungenkrebs.


Als meine Mutter etwas 13 Jahre alt war, sie hatten nur zwei Betten mit fünf Personen, bestimmte ihre Mutter, dass sie mit ihrem Vater in einem Bett schlief.

Er „bediente“ sich, also von da an vergewaltigte er sie regelmäßig.

Meine Mutter war wie paralysiert, wurde ganz still und in sich gekehrt, konnte nicht mehr richtig lernen in der Schule, und es ging ihr nicht gut.

Brisant dabei war noch, dass ihr Vater sie von da an nicht mehr schlug, auch ihre Brüder wurden nicht mehr geschlagen, beinahe war es, als wäre sie verkauft worden, dafür dass er innerhalb der Familie „friedlich“ wurde. Und meine Mutter hatte das Gefühl, dass sie alle davon wussten und ihr „dankbar“ seien.


Sie wollte sich ihrer Großmutter mitteilen, als sie bei ihr zu Besuch war. Aber dann sah ihre Großmutter sie so an, als sei sie stolz auf sie, weil sie so ruhig und scheinbar wohl erzogen geworden war, sie wirkte wohl „gereift“ auf sie. Und als meine Mutter das sah, konnte sie es ihr nicht mehr erzählen.


Erst viele Jahre später, zu einer Psychotherapeutin und auch zu mir, noch während meiner Kindheit, ich weiß nicht inwiefern meine Geschwister davon wussten, konnte sie darüber sprechen.

Und sie hörte manchmal (so kommt es mir vor) nicht auf, darüber zu erzählen.


Es gibt tatsächlich auch einige sehr lustige Anekdoten, zumindest aus heutiger, bzw. aus der Sicht als sie es mir erzählte, da haben wir Beide manchmal ganz schön gelacht.


Wenn er zum Beispiel etwas kochte, zum Umrühren einen Plastiklöffel nahm, der dann schmolz, weich wurde und brach, dann nahm er in seiner Aufregung einfach einen neuen Plastiklöffel, anstatt mal was anderes zu nehmen.


Er war im Hause (es gab mehrere Nachbarn) und nach außen eine Art einnehmender Charmeur.


Die Frauen im Hause fuhren voll auf ihn ab.


Und sie wussten, dass er gut backen kann. Eine Frau sagte dann: „Ach, bitte backen Sie doch auch mal einen Kuchen für mich.“ Und er sagte dann: „Aber gerne, bringen Sie mir dafür erstmal sechs Eier.“


Dann hat er, wie meine Mutter mir erzählte, sich erstmal fünf von den Eiern in die Pfanne gehauen und sich ein schönes Rührei gemacht. Von dem oder mit dem letzten Ei dann hat er den Kuchen gebacken.


Oder er hat sich ein schönes Essen gemacht. Sie hatten ja alle Hunger, und es gab nicht viel zu essen. Er hat sich also dann eine schöne Mahlzeit gemacht, sich an den Tisch gesetzt (die Kinder bekamen nichts) und hat dann gesagt: „Jetzt sollt ihr mal sehen, wie es eurem Vater schmeckt.“


War bestimmt nicht lustig, aber wenn meine Mutter mir das erzählte, war es doch ganz schön lustig. Über Vieles haben wir sehr gelacht.


Im Herbst konnte er Drachen bauen, an denen der Spazierstock hängen konnte beim Fliegen.


Und er war sich keiner Schuld bewusst, war sogar noch fies. Er sagte dann irgendwann zu meiner Mutter, dass sie ja nun keine Jungfrau mehr sei, und sie darum nie ein Mann ansehen würde.

Als meine Mutter einmal so weit war, dass sie sich umbringen wollte, sie hatte sich im Zimmer eingeschlossen und wollte aus dem Fenster springen, da stand er draußen vor der Tür, und bat sie inständig, es nicht zu tun. Er würde sie gut verstehen und würde das kennen.


Er hat ihr auch seine Geschichte erzählt. Als er 16 war, starb seine Mutter an Krebs. Auf dem Sterbebett sagte sie zu ihm, sein Vater sei Schuld an ihrem Tod. Er, nach ihrem Tod von Trauer überwältigt, wurde dann von einem Zimmermädchen oder irgendwie eine Bedienstete „getröstet“, indem sie mit ihm schlief. Das war alles im Zusammenhang irgendwie traumatisch für ihn gewesen.


Irgendwann als meine Mutter mir das erzählte, sagte sie ganz unvermittelt zu mir: „Du hast ihre Augen.“, obwohl sie sie eigentlich nie kennengelernt hatte.


Aber als sie das sagte, war ich für den Moment wie paralysiert. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich wär seine Mutter gewesen, und fühlte mich auch so.


Da bemerkte ich eine geistig erfreute Umarmung, die noch etwa einen Tag bei mir blieb, dann schien es gut zu sein.


Nun, ich könnte da noch mehr einzelne Geschichten erzählen, aber das war es wohl so im Großen und Ganzen.


Meine Mutter wirkte von da an, als wollte sie sich an allen Männern rächen. Sie war auch immer sehr einnehmend, aber machte sich dann eher lustig.


Nun, lange Zeit dachte ich, ich hätte keine eigene Geschichte. Ihre war so deutlich, dass scheinbar nichts von mir selbst Gefühltes irgendeine wirkliche Bedeutung haben konnte.


Ich weiß erst heute, wie sehr solcherlei sich allein genetisch schon überträgt.


Und in Meditationen, wenn meine Mutter nach innen ging, sagte ihr manchmal ihre innere Stimme oder eine innere Weisheit, dass ich angeblich genauso gelitten hätte. Für uns Beide unverständlich, denn mir hat nie jemand etwas getan, aber in der Meditation wurde es ihr immer gesagt.


Es ist gar nicht so, dass mich das jetzt noch so sehr beschäftigt. Es kam mir nur jetzt in den Sinn, als wenn es gerade dran ist, mal aufzuschreiben.


Es hat doch den Anfang meines Lebens und sehr viel meines Lebens, meiner Erfahrunge, wenn sie auch ganz anders waren / sind, meiner Gedanken und geistigen Wege geprägt.


Oft dachte ich manchmal früher, oder ich versuchte mir mal vorzustellen, es würde sie gar nicht geben, meine Mutter (sie hatte ja auch früher ständig Asthma, und ich musste immer wieder um ihr Leben fürchten), also der Gedanke, es gibt sie nicht, war für den Moment dann immer außerordentlich befreiend.


Ich weiß, dass sie mich verstehen würde. Denn so war sie, wenn ich ihr das erzählt hätte, sie würde sagen, ich weiß was du meinst, und ich kann das voll verstehen.

Es gab verschiedene Aspekte unserer Beziehung, sie war auch andererseits sehr empfindlich.


Manchmal hab ich das Gefühl, sie ist in mir, zum Teil.

Aber es spielt keine Rolle, denn im Laufe der (Meditations)Arbeit mit ihr habe ich gelernt, dass wir sowieso alle mehr oder weniger ein „Ich“ sind.
 
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Manchmal hab ich das Gefühl, sie ist in mir, zum Teil.
Ich glaube, das stimmt nicht mehr. Beim Lesen jetzt, kam mir dieser Satz merkwürdig vor.
Ich glaube, ich bin ein ganzes Stück freier geworden, habe in letzter Zeit Vieles , ja wie soll ich sagen,
im wahrsten Sinne des Wortes "ausgekotzt". Seitdem, kommts mir vor, hat sich viel verändert.

Ich bin in einer Zwischenzeit jetzt. Schaue und sehe, und fühle aber immer etwas Sicheres und Gutes in mir. :)

Lieben Gruß an Alle
 
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