43 mit einiger Mühe
Eines Tages, als selbst eines der außergewöhnlichen morgendlichen Gläser Prosecco am Markt ihm nicht darüber hinweghelfen konnte, daß er einerseits bereits wirklich und wahrhaftig wach war, aber eigentlich nichts zu tun hatte, daß ihm eigentlich nichts zu tun einfiel, daß vor ihm ein langer Tag lag, den es irgendwie in die Nacht hinüberzuretten galt, aber nicht durch schlafen, denn dann wäre die Nacht dahinter schlaflos gewesen, und das war noch schlimmer wie ein zielloser Tag, am Anfang eines solchen Tages, gerade als er nachdachte, ob er wieder einer seinen endlosen Spaziergänge beginnen sollte oder doch mit der Straßenbahn ziellos durch die Stadt fahren, eines Tages faßte Michael einen kühnen Entschluß: Er wollte wegfahren, wirklich wegfahren, aber nicht zu weit, denn kein Auftrag, ein Bild zu malen gab ihm den Grund, ein oder zwei Wochen irgendwo nach Süden zu fahren, wo die Sonne gelb war und die Luft blau und die Abende violett.
Er fuhr zum Südbahnhof – das war der nächstgelegene Bahnhof zu seiner Wohnung – einen jener gesichtslosen, graubraunen Bahnhöfe einer Stadt, die ihre alten Bahnhöfe im Krieg verloren und es nicht für notwendig gefunden hatte, sie schön wieder aufzubauen, sondern nur schnell und nüchtern und häßlich, Orte wo man vergessen konnte, daß sie nicht nur Orte des Abschieds sondern auch Orte des Ankommens waren, Orte wo aus unerfindlichen Gründen Stadtstreicher, in Wien Sandler genannt, Obdachlose also herumlungerten, selbst im Sommer, wo doch jeder andere Platz schöner war als dieser graue Bahnhof mit seinen hallenden Geräuschen – er fuhr also zum Südbahnhof, einfach so, ohne Gepäck, ohne besondere Vorbereitung, und stellte sich vor die große Anzeigentafel in der Halle, gleich neben den grauschwarzen, abgebröckelten Löwen aus Sandstein, der aus unerfindlichen Gründen dort seinen Platz hatte, obwohl es auch für ihn überall anders schöner sein müßte, er stellte sich also vor oder eigentlich unter die große Anzeigentafel um zu sehen, wohin die nächsten Züge gingen.
Graz stand dort – das war ihm zu weit, denn eigentlich wollte er am Abend zurück sein, Rom stand dort, das wäre schön gewesen, aber dazu hätte er die Ausrede eines Auftrages gebraucht oder wenigstens die Anzahlung dazu, Neusiedl am See stand dort, was ihn nicht besonders reizte, selbst an diesem warmen Frühsommertag nicht, Wiener Neustadt stand dort, das war eigentlich nicht unbedingt wert, bereist zu werden, in einer Stadt war er ja schon, Payerbach-Reichenau stand dort, Eilzug nach Payerbach-Reichenau, hält nicht in allen Haltestellen, Payerbach-Reichenau, das schien ihm reizvoll, denn das klang nach rauschendem Wasser und gelbverputzten Häusern aus einer Zeit, als ein Ausflug dorthin noch eine Tagesreise war, das klang nach Frieden und Ruhe und ausrasten und vergessen und träumen.
Er war sich nicht ganz sicher, wo Payerbach-Reichenau genau lag, irgendwo Richtung Süden, aber nicht zu weit, irgendwo weg von da. Also ging er zum Schalter und kaufte eine Karte zweiter Klasse (erste Klasse hätte es in diesem Zug sowieso keine gegeben) nach Payerbach-Reichenau über Wiener Neustadt und machte sich auf den Weg, den Zug zu suchen, was nicht wirklich schwer war, denn dieser Bahnhof hatte nicht mehr als zehn oder zwölf Bahnsteige, alle ordentlich mit Leuchttafeln beschriftet.
Er fand den Zug also ganz einfach und stieg in einen Waggon ungefähr in der Mitte, nahm verwundert die Drehklinke aus gegossenem und blankpoliertem Aluminium in die Hand, zog mit einiger Mühe die Tür auf und fand sich in einem Waggon wieder, der zum Ziel seiner Reise paßte. Hätten jemand Michael erzählt, daß es solch alte Waggons noch gab, er hätte es nicht geglaubt.