Das Thema „Leid“ im Evangelium nach Philippus [EvPhil]
Auszug aus „Das Problem des Bösen in Apokalyptik und Gnostik“ von Carl-Albert Keller, Religionswissenschaftler und Mystikforscher
„Solange der Mensch in Nichtwissen und Vergessen vegetiert, wird ihm sein Elend gar nicht bewusst; er lebt ja im Nichtwissen, darum weiss er auch um seine erbärmliche Lage nicht. Er wähnt sich lebendig, ja glücklich. Er handelt, schreitet rüstig voran, erkundet die ganze Welt, wie ein Esel – nur merkt er nicht, dass er sich ständig im Kreise bewegt, also sich "vergeblich müht" (EvPhil Spruch 52). Solange der Mensch nicht "erweckt", zu sich gekommen ist, spürt er seine Fesseln überhaupt nicht, glaubt er sich wachend, wo er doch träumt.
Darum erfahren wir aus EvPhil (Spruch 4), dass der Nichterkennende, also im Gefängnis Sitzende, niemals sterben könne, weil er gar nie gelebt habe, dass jedoch der zum "Glauben an die Wahrheit" Gekommene, der sie also "erkannt" hat, das Leben gefunden habe und nunmehr erst in Gefahr sei, zu sterben. Erst das "Finden" des Lebens, das Bewusstwerden des wahren Seins, das Aufleuchten der unvergänglichen, der Welt entgegengesetzten Wirklichkeit, macht die Existenz in der Welt zur unerträglichen Sklaverei.
Dies wird im gnostischen Buch Baruch unvergleichlich schön ausgedrückt. Solange das geistige Prinzip, Elohim genannt, nichts weiss von der absoluten, jenseitigen Wahrheit, dem "Guten", leben er und seine Geschöpfe harmonisch und glücklich mit Eden zusammen, der Materie und ihren Geschöpfen; das Geistige im Menschen leidet nicht unter dem Materiellen. Sowie jedoch Elohim aufsteigt zur Wahrheit, zum "Guten", kann er die Materie nicht mehr ertragen und verlässt Eden, die sich nun rächt, indem sie zielsicher und unerbittlich das Geistige zu versklaven sucht. Damit erst beginnt die Qual des an die Materie gefesselten Geistigen. Dass erst das Entdecken und Erleben der Wahrheit den Seelen die physische Existenz zur Folter macht, weiss auch Basilides (nach Hippolyt); er sagt nämlich voraus, nach der Rettung der Geist-Elemente werde über die in den "untern Räumen" befindlichen Seelen das Vergessen kommen, die "grosse Unwissenheit", damit sie nicht von der Sehnsucht nach Höherem verzehrt würden.