Das Überraschungspaket
So einen Winter hatte sie noch nie erlebt. Aus der Geborgenheit ihres Lehnstuhls heraus beobachtete Stella, wie der Schneesturm immer wilder raste.
Sie wagte es nicht näher ans Fenster zu gehen aus Angst, der Sturm könnte sich ihrer bemächtigen und sie in das Chaos hinausziehen. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren fast nicht zu erkennen, verschluckt von dem Ungestüm der wirbelten Flocken. Die alte Frau strich geistesabwesend über die Schonbezüge auf den Armlehnen
und konnte den Blick nicht von dem Schauspiel draußen abwenden.
Doch dann riss sie sich zusammen und quälte sich von ihrem Sessel hoch. Einen Moment verharrte sie regungslos, um das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Sie versuchte, ihren Rücken zu strecken und kämpfte entschlossen gegen den Schmerz, der sie in gebückter Stellung halten wollte. Dann machte sie sich auf den Weg zur Küche.
An der Tür hielt Stella verdutzt inne und überlegte was sie eigentlich hier wollte.
Im Schornstein über dem Herd heulte der Wind, als wollte er das Unwetter direkt in das kleine Häuschen hinein blasen. Stella richtete den Blick ihrer braunen Augen auf die Küchenuhr über dem Herd. Viertel nach drei! Jetzt fiel ihr wieder ein, was sie in der Küche gesucht hatte: Sie wollte etwas zum Abendessen aus dem Gefrierfach holen. Stella seufzte. Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich eine weitere einsame Mahlzeit zuzubereiten, geschweige denn sie zu essen.
In plötzlich aufwallendem Schmerz fasste sie nach dem Kühlschrankgriff und lehnte ihre Stirn gegen die kühle weiße Fläche. Eine Welle des Selbstmitleids, in der sie zu ertrinken drohte, rollte über sie hinweg. Der Verlust ihres geliebten David im Sommer war einfach zuviel für sie gewesen! Wie sollte sie mit dem Kummer fertig werden, wie die Leere des Alltags ertragen? Stella spürte den bekannten Schmerz, der ihr die Kehle zusammen schnürte, und schloss gewaltsam die Augen, um die aufsteigenden Tränen zurück zudrängen.
Dann schüttelte sie, unzufrieden über sich selbst, missbilligend den Kopf. Im Gedanken ging sie wider die Liste von Dingen durch, für die sie dankbar sein konnte: ihre Gesundheit, ihr kleines Häuschen, eine Rente, die groß genug war für den Rest ihres Lebens. Sie hatte ihre Bücher, ihren Fernseher, ihre Handarbeiten. Wie viel Freude bereitete ihr im Frühjahr und Sommer der Garten, wie gerne ging sie in dem verwilderten Park am Ende der Straße spazieren, und wie sehr konnte sie sich im Winter an den Vögeln erfreuen, die das Futterhäuschen vor ihrem Küchenfenster bevölkerten! Heute leider nicht, dachte sie wehmütig, während sie den heftigen Ostwind gegen die Mauern ihres Häuschens anstürmen hörte.
Ach David, wie sehr ich dich vermisse! Solange du bei mir warst, hat mir der Sturm nie etwas ausgemacht! Der Klang ihrer eigenen Stimme hallte im Raum wider und ließ sie zusammenfahren. Sie drehte das Radio an, das neben einem ordentlich aufgereihten Satz von hölzernen Vorratsdosen auf der Anrichte stand. Weihnachtliche Klänge erfüllten plötzlich den Raum, aber sie ließen Stella ihre Einsamkeit nur noch tiefer empfinden.
Gewiss, sie war auf den Tod ihres Mannes vorbereitet gewesen. Seit der Arzt die Diagnose Lungenkrebs im Endstadium gestellt hatte, hatten sie beide das Unvermeidliche vor Augen gehabt und alles daran gesetzt, die noch verbleibende Zeit so gut wie möglich zu nutzen.
Davids finanziellen Angelegenheiten waren stets in Ordnung gewesen. Sie brauchte in ihrem Witwendasein also nicht mit neuen, außergewöhnlichen Belastungen zu rechnen. Das Schlimme war einfach diese schreckliche Einsamkeit, die Leere ihrer Tage.
Im Laufe der letzten Jahre hatte sie und ihr Mann einem nach dem anderen ihrer Freund und Verwandten zu Grabe tragen müssen.
Sie waren eben alle in dem Alter, in dem der menschliche Körper nicht mehr so mitmachte, sondern schwach und hinfällig wurde, bis man schließlich starb. Ob man es wahrhaben wollte
Oder nicht: Man war einfach alt!
Und nun, an ihrem ersten Weihnachtsfest ohne David, würde Stella allein sein. Freunde hatten sie zwar eingeladen, die Feiertage bei ihnen zu verbringen, aber das war ihr fast noch schlimmer vorgekommen, als allein zu Haus zu bleiben. Sie würde dort nicht nur ihren Mann, sondern auch die vertraute Umgebung ihres Heimes vermissen.
Mit zitternden Fingern drehte Stella das Radio leiser, bis die Musik nur noch gedämpft im Hintergrund zu hören war. Sie warf einen kurzen Blick in Richtung Kühlschrank und beschloss, dass ein Teller heiße Suppe für diesen Abend bestimmt die Beste Wahl wäre.
Zu ihrer Überraschung sah sie, dass Post gekommen war. Sie hatte nicht einmal das Quietschen des Briefeinwurfschlitzes in der Haustür gehört. Der arme Briefträger- bei diesem Wetter draußen sein zu müssen! Wie immer zuckte sie unwillkürlich vor Schmerz zusammen, als sie sich bückte, um die feuchten weißen Kuverts vom Boden aufzuheben. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm auf dem Klavierhocker Platz, um die Post zu öffnen. Es waren zum großen Teil Weihnachtskarten, und ihr trauriger Blick verwandelte sich in ein Lächeln, während sie die vertrauten Szenen betrachtete und die liebevollen Zeilen las. Mit großer Sorgfalt stellte sie anschließend die eben erhaltenen Karten zwischen diejenigen, die bereits oben auf dem Klavier ihren Platz gefunden hatten, was ihren arthritischen Fingern nicht geringe Mühe bereitete. Außer den besagten Grußkarten war in ihrem Haus diesmal keinerlei
Festtagsschmuck zu finden. Weihnachten stand zwar dicht vor der Tür, aber sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, einen Baum aufzustellen. Nicht einmal die hölzerne Krippe, die David mit eigener Hand gezimmert hatte, hatte sie aus dem Keller holen wollen. Von einer plötzlichen Traurigkeit übermannt, vergrub Stella ihr zerfurchtes Gesicht in beiden Händen. Ihre Ellbogen berührten die Tasten in einem harten, schleifenden Missklang, dann kamen die Tränen. Wie sollte sie nur das Weihnachtsfest und den ganzen langen Winter überstehen? Am liebsten wäre sie ins Bett gestiegen und hätte sich unter einem Berg von Decken verkrochen, bis mit dem Frühling erneut der Lebensmut zurückkehren würde. Die Haustürklingel schrillte, gleichsam als Echo auf die hohen, disharmonischen Klaviertöne; das kam für Stella so unerwartet, dass sie nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrückte. Wer konnte an so einem Tag etwas von ihr wollen? Rasch trocknete sie Ihre Tränen und bemerkte erstaunt, wie dämmerig es bereits geworden war. Da klingelte es zum 2. Mal.
Stella zog sich am Klavier hoch und ging, so schnell sie konnte, in Richtung Hausflur. Im Vorbeigehen knipste sie die Deckenlampe im Wohnzimmer an. Sie öffnete die hölzerne Windfangtür und späte angestrengt durch das Gitterglas in der Haustür. Davor stand gegen Wind und Schnee ankämpfend, ein fremder junger Mann, dessen unbedeckter Kopf, mit knapper Not über dem großen Karton hervorragte, den er trug. Stella sah an ihm vorbei auf die Einfahrt, aber auch der kleine Wagen, der dort stand, konnte ihr keinen Aufschluss über ihren Besucher geben. Als sie ihren Blick wieder auf den jungen Mann richtete, bemerkte sie, dass er auch keine Handschuhe trug.
Seine erwartungsvoll gerunzelten Augenbrauen verschwanden fast völlig hinter den beschlagenden Brillengläsern. Vorsichtig öffnete die alte Dame die Tür einen Spaltbreit, woraufhin der Fremde einen Schritt zur Seite trat, um in die Öffnung hineinzusprechen.
Ich habe ein Paket für sie. Stellas Neugier vertrieb alle warnenden Gedanken aus ihrem Kopf.
Sie öffnete die Tür weit genug, dass der junge Mann den Karton auf die Schulter nehmen konnte, und trat dann zurück, um ihn einzulassen. Er brachte den frostigen Hauch des Schneesturms mit herein. Lächelnd und mit großer Behutsamkeit stellte er seine Last auf dem Fußboden ab und zog dann einen Umschlag aus seiner Manteltasche hervor, den er ihr überreichte. In diesem Augenblick hörte Stella ein Geräusch aus dem Karton, das sie zusammenfahren ließ. Der junge Mann lächelte entschuldigend und bückte sich, um den Deckel zu öffnen, damit Stella hineinblicken konnte. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher, um zu sehen, was sich in dem Karton befand.
Es war ein Hund! Genauer gesagt, ein Golden Labrador Retriever- Welpe. Der junge Mann bückte sich, nahm das kleine, sich windende Kerlchen auf seine Arme und erklärte: Der ist für sie. Er ist sechs Wochen alt und vollkommen stubenrein. Das Hündchen wackelte mit dem Schwanz, voller Freude darüber, seinem Gefängnis entronnen zu sein, und warf begeisterte nasse Küsse in die Richtung seines Wohltäters. Wir hätten ihn eigentlich erst
An Heiligabend bringen sollen, fuhr der junge Mann fort und versuchte vergebens, sein Kinn vor der feuchten kleinen Zunge zu retten, aber der Hundezüchter hat ab morgen Urlaub. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk einzuwenden.
Stella war so perplex, dass sie nicht einmal mehr klar denken konnte. Völlig zusammenhaltlos stotterte sie: Aber .ich verstehe nicht . Ich meine wer .?
Der junge Mann setzte das Tierchen auf die Fußmatte und tippte mit seinen Fingern an den Umschlag, den Stella noch immer in der Hand hielt. In diesem Brief steht so ziemlich alles, was sie wissen wollen. Der Hund wurde bereits im Juli gekauft, als seine Mutter noch tragend war. Es handelt sich um ein Weihnachtsgeschenk. Entschuldigen sie mich bitte einen Augenblick, ich muss noch eine paar Dinge aus dem Auto holen.
Bevor Stella antworten konnte, war er fort und kam kurz darauf mit einer großen Dose Hundefutter, einer Leine und einem Buch zurück, das den Titel trug: Der Umgang mit ihrem Labrador Retriever. Die ganze Zeit über hatte das Hündchen still auf der Matte gesessen und fröhlich geschnauft, während es Stella mit seinen klugen braunen Augen unverwandt ansah.
Der Fremde wandte sich zum Gehen. In ihrer Verwirrung stieß Stella hervor: Aber wer wer hat ihn gekauft? Der junge Mann, bereits an der Tür, erwiderte, wobei ihm der Wind beinahe die Worte von den Lippen riss: Ihr Gatte! Und schon war er fort.
Es stand tatsächlich alles im Brief. Stella, die beim Anblick der vertrauten Handschrift das kleine Hündchen total vergessen hatte, war wie ein Schlafwandler zu ihrem Sessel am Fenster gewankt. Sie hatte auch nicht bemerkt, dass der Hund ihr gefolgt war. Unter Tränen zwang sie sich, ihres Mannes Worte zu lesen. Er hatte den Brief drei Wochen vor seinem Tod geschrieben und bei dem Hundezüchter abgegeben, der ihn zusammen mit dem Welpen seiner Frau überbringen sollte als letztes Weihnachtsgeschenk. Die Zeilen flossen über von Liebe und Ermutigung, enthielten aber auch die Ermahnung, stark zu sein. Er versicherte ihr, dass er nur vorangegangen sei und auf den Tag warte, an dem sie sich wieder sehen würden. Bis dahin solle ihr der Hund Gesellschaft leisten.
Damit wurde Stella an ihren neuen Hausgenossen erinnert. Wie erstaunt war sie, ihn ganz still vor sich auf dem Fußboden sitzen und mit wachsamen Augen zu ihr aufschauen zu sehen. Ein verschmitztes Lächeln schien um sein Schnäuzchen zu spielen. Stella legte den Brief beiseite und bückte sich nach dem goldbraunen Fellbündel. Sie hätte ihn sich schwerer vorgestellt er ähnelte in Größe und Gewicht einem Sofakissen. Wie warm und weich er war! Sie wiegte ihn in ihren Armen, und der kleine Kerl leckte ihr zum Dank das Kinn. Dann schmiegte er sich eng an ihren Hals. Bei diesem sichtbaren Zeichen der Zuneigung flossen wieder die Tränen, die der kleine Hund regungslos über sich ergehen ließ.
Schließlich ließ Stella ihn auf ihren Schoß gleiten, von wo aus er sie mit ernsthaftem Blick betrachtete. Geistesabwesend wischte sich die alte Frau über ihre nasse Wange und rang sich zu einem Lächeln durch. Also, Kleiner, es scheint, dass wir beide in Zukunft zusammengehören. Seine rosa Zunge hechelte zustimmend. Stellas Lächeln vertiefte sich, dann ließ sie ihren Blick von dem Hündchen zum Fenster schweifen. Mittlerweile war es draußen fast dunkel geworden, und der Sturm schien in seiner Heftigkeit etwas nachgelassen zu haben. Durch die samtigen Flocken hindurch, die jetzt wesentlich langsamer vom Himmel fielen, konnte Stella die Weihnachtslichterketten sehen, die fröhlich von den Dächern der Nachbarhäuser herableuchteten. Aus der Küche drangen die Klänge von Stille Nacht, heilige Nacht an ihr Ohr.
Plötzlich wurde Stella von einem wunderbaren Gefühl des Friedens und göttlichen Segens überflutet. Sie fühlte sich wie in eine tiefe, liebevolle Umarmung gehüllt. Ihr Herz klopfte heftig, aber nun nicht mehr vor Kummer und Einsamkeit, sondern vor Freude und Staunen. Sie wusste, sie war nicht mehr allein! Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut dem kleinen Hund zu und fing an, ihm ein paar Dinge zu erklären: Weißt du was, Kleiner, bei mir im Keller steht ein Karton, an dem du bestimmt deine helle Freudehaben wirst. Da ist ein Baum drin und Kugeln und Kerzen, die dir gewaltig imponieren werden! Und ich glaube, ich finde auch noch die alte Krippe da unten. Was meinst du, sollen wir mal zusammen suchen? Das Hündchen bellte zustimmend, als hätte es jedes Wort verstanden.
So einen Winter hatte sie noch nie erlebt. Aus der Geborgenheit ihres Lehnstuhls heraus beobachtete Stella, wie der Schneesturm immer wilder raste.
Sie wagte es nicht näher ans Fenster zu gehen aus Angst, der Sturm könnte sich ihrer bemächtigen und sie in das Chaos hinausziehen. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren fast nicht zu erkennen, verschluckt von dem Ungestüm der wirbelten Flocken. Die alte Frau strich geistesabwesend über die Schonbezüge auf den Armlehnen
und konnte den Blick nicht von dem Schauspiel draußen abwenden.
Doch dann riss sie sich zusammen und quälte sich von ihrem Sessel hoch. Einen Moment verharrte sie regungslos, um das Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Sie versuchte, ihren Rücken zu strecken und kämpfte entschlossen gegen den Schmerz, der sie in gebückter Stellung halten wollte. Dann machte sie sich auf den Weg zur Küche.
An der Tür hielt Stella verdutzt inne und überlegte was sie eigentlich hier wollte.
Im Schornstein über dem Herd heulte der Wind, als wollte er das Unwetter direkt in das kleine Häuschen hinein blasen. Stella richtete den Blick ihrer braunen Augen auf die Küchenuhr über dem Herd. Viertel nach drei! Jetzt fiel ihr wieder ein, was sie in der Küche gesucht hatte: Sie wollte etwas zum Abendessen aus dem Gefrierfach holen. Stella seufzte. Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich eine weitere einsame Mahlzeit zuzubereiten, geschweige denn sie zu essen.
In plötzlich aufwallendem Schmerz fasste sie nach dem Kühlschrankgriff und lehnte ihre Stirn gegen die kühle weiße Fläche. Eine Welle des Selbstmitleids, in der sie zu ertrinken drohte, rollte über sie hinweg. Der Verlust ihres geliebten David im Sommer war einfach zuviel für sie gewesen! Wie sollte sie mit dem Kummer fertig werden, wie die Leere des Alltags ertragen? Stella spürte den bekannten Schmerz, der ihr die Kehle zusammen schnürte, und schloss gewaltsam die Augen, um die aufsteigenden Tränen zurück zudrängen.
Dann schüttelte sie, unzufrieden über sich selbst, missbilligend den Kopf. Im Gedanken ging sie wider die Liste von Dingen durch, für die sie dankbar sein konnte: ihre Gesundheit, ihr kleines Häuschen, eine Rente, die groß genug war für den Rest ihres Lebens. Sie hatte ihre Bücher, ihren Fernseher, ihre Handarbeiten. Wie viel Freude bereitete ihr im Frühjahr und Sommer der Garten, wie gerne ging sie in dem verwilderten Park am Ende der Straße spazieren, und wie sehr konnte sie sich im Winter an den Vögeln erfreuen, die das Futterhäuschen vor ihrem Küchenfenster bevölkerten! Heute leider nicht, dachte sie wehmütig, während sie den heftigen Ostwind gegen die Mauern ihres Häuschens anstürmen hörte.
Ach David, wie sehr ich dich vermisse! Solange du bei mir warst, hat mir der Sturm nie etwas ausgemacht! Der Klang ihrer eigenen Stimme hallte im Raum wider und ließ sie zusammenfahren. Sie drehte das Radio an, das neben einem ordentlich aufgereihten Satz von hölzernen Vorratsdosen auf der Anrichte stand. Weihnachtliche Klänge erfüllten plötzlich den Raum, aber sie ließen Stella ihre Einsamkeit nur noch tiefer empfinden.
Gewiss, sie war auf den Tod ihres Mannes vorbereitet gewesen. Seit der Arzt die Diagnose Lungenkrebs im Endstadium gestellt hatte, hatten sie beide das Unvermeidliche vor Augen gehabt und alles daran gesetzt, die noch verbleibende Zeit so gut wie möglich zu nutzen.
Davids finanziellen Angelegenheiten waren stets in Ordnung gewesen. Sie brauchte in ihrem Witwendasein also nicht mit neuen, außergewöhnlichen Belastungen zu rechnen. Das Schlimme war einfach diese schreckliche Einsamkeit, die Leere ihrer Tage.
Im Laufe der letzten Jahre hatte sie und ihr Mann einem nach dem anderen ihrer Freund und Verwandten zu Grabe tragen müssen.
Sie waren eben alle in dem Alter, in dem der menschliche Körper nicht mehr so mitmachte, sondern schwach und hinfällig wurde, bis man schließlich starb. Ob man es wahrhaben wollte
Oder nicht: Man war einfach alt!
Und nun, an ihrem ersten Weihnachtsfest ohne David, würde Stella allein sein. Freunde hatten sie zwar eingeladen, die Feiertage bei ihnen zu verbringen, aber das war ihr fast noch schlimmer vorgekommen, als allein zu Haus zu bleiben. Sie würde dort nicht nur ihren Mann, sondern auch die vertraute Umgebung ihres Heimes vermissen.
Mit zitternden Fingern drehte Stella das Radio leiser, bis die Musik nur noch gedämpft im Hintergrund zu hören war. Sie warf einen kurzen Blick in Richtung Kühlschrank und beschloss, dass ein Teller heiße Suppe für diesen Abend bestimmt die Beste Wahl wäre.
Zu ihrer Überraschung sah sie, dass Post gekommen war. Sie hatte nicht einmal das Quietschen des Briefeinwurfschlitzes in der Haustür gehört. Der arme Briefträger- bei diesem Wetter draußen sein zu müssen! Wie immer zuckte sie unwillkürlich vor Schmerz zusammen, als sie sich bückte, um die feuchten weißen Kuverts vom Boden aufzuheben. Sie ging ins Wohnzimmer und nahm auf dem Klavierhocker Platz, um die Post zu öffnen. Es waren zum großen Teil Weihnachtskarten, und ihr trauriger Blick verwandelte sich in ein Lächeln, während sie die vertrauten Szenen betrachtete und die liebevollen Zeilen las. Mit großer Sorgfalt stellte sie anschließend die eben erhaltenen Karten zwischen diejenigen, die bereits oben auf dem Klavier ihren Platz gefunden hatten, was ihren arthritischen Fingern nicht geringe Mühe bereitete. Außer den besagten Grußkarten war in ihrem Haus diesmal keinerlei
Festtagsschmuck zu finden. Weihnachten stand zwar dicht vor der Tür, aber sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, einen Baum aufzustellen. Nicht einmal die hölzerne Krippe, die David mit eigener Hand gezimmert hatte, hatte sie aus dem Keller holen wollen. Von einer plötzlichen Traurigkeit übermannt, vergrub Stella ihr zerfurchtes Gesicht in beiden Händen. Ihre Ellbogen berührten die Tasten in einem harten, schleifenden Missklang, dann kamen die Tränen. Wie sollte sie nur das Weihnachtsfest und den ganzen langen Winter überstehen? Am liebsten wäre sie ins Bett gestiegen und hätte sich unter einem Berg von Decken verkrochen, bis mit dem Frühling erneut der Lebensmut zurückkehren würde. Die Haustürklingel schrillte, gleichsam als Echo auf die hohen, disharmonischen Klaviertöne; das kam für Stella so unerwartet, dass sie nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrückte. Wer konnte an so einem Tag etwas von ihr wollen? Rasch trocknete sie Ihre Tränen und bemerkte erstaunt, wie dämmerig es bereits geworden war. Da klingelte es zum 2. Mal.
Stella zog sich am Klavier hoch und ging, so schnell sie konnte, in Richtung Hausflur. Im Vorbeigehen knipste sie die Deckenlampe im Wohnzimmer an. Sie öffnete die hölzerne Windfangtür und späte angestrengt durch das Gitterglas in der Haustür. Davor stand gegen Wind und Schnee ankämpfend, ein fremder junger Mann, dessen unbedeckter Kopf, mit knapper Not über dem großen Karton hervorragte, den er trug. Stella sah an ihm vorbei auf die Einfahrt, aber auch der kleine Wagen, der dort stand, konnte ihr keinen Aufschluss über ihren Besucher geben. Als sie ihren Blick wieder auf den jungen Mann richtete, bemerkte sie, dass er auch keine Handschuhe trug.
Seine erwartungsvoll gerunzelten Augenbrauen verschwanden fast völlig hinter den beschlagenden Brillengläsern. Vorsichtig öffnete die alte Dame die Tür einen Spaltbreit, woraufhin der Fremde einen Schritt zur Seite trat, um in die Öffnung hineinzusprechen.
Ich habe ein Paket für sie. Stellas Neugier vertrieb alle warnenden Gedanken aus ihrem Kopf.
Sie öffnete die Tür weit genug, dass der junge Mann den Karton auf die Schulter nehmen konnte, und trat dann zurück, um ihn einzulassen. Er brachte den frostigen Hauch des Schneesturms mit herein. Lächelnd und mit großer Behutsamkeit stellte er seine Last auf dem Fußboden ab und zog dann einen Umschlag aus seiner Manteltasche hervor, den er ihr überreichte. In diesem Augenblick hörte Stella ein Geräusch aus dem Karton, das sie zusammenfahren ließ. Der junge Mann lächelte entschuldigend und bückte sich, um den Deckel zu öffnen, damit Stella hineinblicken konnte. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher, um zu sehen, was sich in dem Karton befand.
Es war ein Hund! Genauer gesagt, ein Golden Labrador Retriever- Welpe. Der junge Mann bückte sich, nahm das kleine, sich windende Kerlchen auf seine Arme und erklärte: Der ist für sie. Er ist sechs Wochen alt und vollkommen stubenrein. Das Hündchen wackelte mit dem Schwanz, voller Freude darüber, seinem Gefängnis entronnen zu sein, und warf begeisterte nasse Küsse in die Richtung seines Wohltäters. Wir hätten ihn eigentlich erst
An Heiligabend bringen sollen, fuhr der junge Mann fort und versuchte vergebens, sein Kinn vor der feuchten kleinen Zunge zu retten, aber der Hundezüchter hat ab morgen Urlaub. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk einzuwenden.
Stella war so perplex, dass sie nicht einmal mehr klar denken konnte. Völlig zusammenhaltlos stotterte sie: Aber .ich verstehe nicht . Ich meine wer .?
Der junge Mann setzte das Tierchen auf die Fußmatte und tippte mit seinen Fingern an den Umschlag, den Stella noch immer in der Hand hielt. In diesem Brief steht so ziemlich alles, was sie wissen wollen. Der Hund wurde bereits im Juli gekauft, als seine Mutter noch tragend war. Es handelt sich um ein Weihnachtsgeschenk. Entschuldigen sie mich bitte einen Augenblick, ich muss noch eine paar Dinge aus dem Auto holen.
Bevor Stella antworten konnte, war er fort und kam kurz darauf mit einer großen Dose Hundefutter, einer Leine und einem Buch zurück, das den Titel trug: Der Umgang mit ihrem Labrador Retriever. Die ganze Zeit über hatte das Hündchen still auf der Matte gesessen und fröhlich geschnauft, während es Stella mit seinen klugen braunen Augen unverwandt ansah.
Der Fremde wandte sich zum Gehen. In ihrer Verwirrung stieß Stella hervor: Aber wer wer hat ihn gekauft? Der junge Mann, bereits an der Tür, erwiderte, wobei ihm der Wind beinahe die Worte von den Lippen riss: Ihr Gatte! Und schon war er fort.
Es stand tatsächlich alles im Brief. Stella, die beim Anblick der vertrauten Handschrift das kleine Hündchen total vergessen hatte, war wie ein Schlafwandler zu ihrem Sessel am Fenster gewankt. Sie hatte auch nicht bemerkt, dass der Hund ihr gefolgt war. Unter Tränen zwang sie sich, ihres Mannes Worte zu lesen. Er hatte den Brief drei Wochen vor seinem Tod geschrieben und bei dem Hundezüchter abgegeben, der ihn zusammen mit dem Welpen seiner Frau überbringen sollte als letztes Weihnachtsgeschenk. Die Zeilen flossen über von Liebe und Ermutigung, enthielten aber auch die Ermahnung, stark zu sein. Er versicherte ihr, dass er nur vorangegangen sei und auf den Tag warte, an dem sie sich wieder sehen würden. Bis dahin solle ihr der Hund Gesellschaft leisten.
Damit wurde Stella an ihren neuen Hausgenossen erinnert. Wie erstaunt war sie, ihn ganz still vor sich auf dem Fußboden sitzen und mit wachsamen Augen zu ihr aufschauen zu sehen. Ein verschmitztes Lächeln schien um sein Schnäuzchen zu spielen. Stella legte den Brief beiseite und bückte sich nach dem goldbraunen Fellbündel. Sie hätte ihn sich schwerer vorgestellt er ähnelte in Größe und Gewicht einem Sofakissen. Wie warm und weich er war! Sie wiegte ihn in ihren Armen, und der kleine Kerl leckte ihr zum Dank das Kinn. Dann schmiegte er sich eng an ihren Hals. Bei diesem sichtbaren Zeichen der Zuneigung flossen wieder die Tränen, die der kleine Hund regungslos über sich ergehen ließ.
Schließlich ließ Stella ihn auf ihren Schoß gleiten, von wo aus er sie mit ernsthaftem Blick betrachtete. Geistesabwesend wischte sich die alte Frau über ihre nasse Wange und rang sich zu einem Lächeln durch. Also, Kleiner, es scheint, dass wir beide in Zukunft zusammengehören. Seine rosa Zunge hechelte zustimmend. Stellas Lächeln vertiefte sich, dann ließ sie ihren Blick von dem Hündchen zum Fenster schweifen. Mittlerweile war es draußen fast dunkel geworden, und der Sturm schien in seiner Heftigkeit etwas nachgelassen zu haben. Durch die samtigen Flocken hindurch, die jetzt wesentlich langsamer vom Himmel fielen, konnte Stella die Weihnachtslichterketten sehen, die fröhlich von den Dächern der Nachbarhäuser herableuchteten. Aus der Küche drangen die Klänge von Stille Nacht, heilige Nacht an ihr Ohr.
Plötzlich wurde Stella von einem wunderbaren Gefühl des Friedens und göttlichen Segens überflutet. Sie fühlte sich wie in eine tiefe, liebevolle Umarmung gehüllt. Ihr Herz klopfte heftig, aber nun nicht mehr vor Kummer und Einsamkeit, sondern vor Freude und Staunen. Sie wusste, sie war nicht mehr allein! Sie wandte ihre Aufmerksamkeit erneut dem kleinen Hund zu und fing an, ihm ein paar Dinge zu erklären: Weißt du was, Kleiner, bei mir im Keller steht ein Karton, an dem du bestimmt deine helle Freudehaben wirst. Da ist ein Baum drin und Kugeln und Kerzen, die dir gewaltig imponieren werden! Und ich glaube, ich finde auch noch die alte Krippe da unten. Was meinst du, sollen wir mal zusammen suchen? Das Hündchen bellte zustimmend, als hätte es jedes Wort verstanden.