Was bedeutet dieses Wort für Euch?
Es ist wohl etwas, worauf ich keinen Einfluss habe, was mir zuteil wird.
Es scheint, als wäre Gnade etwas Willkürliches. Ist sie das?
Wird uns allen Gnade zuteil, und wir erkennen es nur nicht?
Oder können wir sie nicht annehmen und tun deshalb so, als gäbe es sie nicht?
Geht Gnade von etwas aus oder geschieht sie oder beides?
Erleben nur wenige Menschen Gnade, weil sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen?
Eure Meinungen dazu würden mich sehr interessieren.
Lao Tse schreibt dazu im 13. Kapitel des Dao De Jing:
Gnade ist beschämend wie ein Schreck.
Ehre ist ein großes Übel wie die Person.
Was heißt das: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«?
Gnade ist etwas Minderwertiges.
Man erlangt sie und ist wie erschrocken.
Man verliert sie und ist wie erschrocken.
Das heißt: »Gnade ist beschämend wie ein Schreck«.
Was heißt das: »Ehre ist ein großes Übel wie die Person«?
Der Grund, warum ich große Übel erfahre, ist,
daß ich eine Person habe.
Habe ich keine Person,
was für Übel könnte ich dann erfahren?
Darum: Wer in seiner Person die Welt ehrt,
dem kann man wohl die Welt anvertrauen.
Wer in seiner Person die Welt liebt,
dem kann man wohl die Welt übergeben.
Gnade wird in christlichem Sinne als etwas hohes angepriesen, das zu erlangen wünschenswert ist.
Im daoistischen Sinne ist Gnade minderwertig. Ich finde den Spannungsbogen zwischen diesen beiden Sichten gut.
Gnade entspricht der Ebene 58.
Das ist die Ebene vor oder nach der 57, und vor oder nach der 59.
Die 57 kündet vom sich ständig wandelnden Wandel des Lebens wie die Griechen es mit "panta rhei" - "alles fließt" beschreiben.
Und mitten in diesem Fluss des Lebens gibt es einen Angler mit einer Angel und der fischt den Fisch aus dem Wasser - wie ein Schreck. Lao Tse schaut von dieser Seite her auf die Gnade. Gnade als plötzliches Erleben, als völlig unbeeinflussbar. Man kann sie verlieren, man kann sie erlangen - aber ohne eignes Dazutun.
Im christlichen Sinne schaut man von der 59 her, der Ebene von Hindernissen. Die Schuld vor Gott ist das größte Hindernis, und es wird nur durch die 58 aus dem Weg geräumt, das ist die göttliche Gnade. Aus dieser Sicht ist die Gnade unbedingt erlangenswert.
Und ja, ich erlebe Gnade als etwas, das allen zuteil wird, die sich danach ausstrecken, nur nicht immer so, wie man meint, dass sie kommen müsste.