irene hat mir in einer PN unterstellt, ich würde das thema abwerten wollen, und mich gebeten, ich möge doch den thread nicht zerstören, der ihr wichtig sei. ich stelle mich einem solchen ansinnen sehr gern auch in der öffentlichen diskussion.
wenn das thema mit worten wie "der am kreuz ist der mutterficker der psychoanalyse" abgehandelt wird und die lösung in richtung vegetarismus erblickt wird, dann ist das für mich so ein resultat des bauchhirns - und als einer, der in der abendländisch-christlichen tradition aufgewachsen ist, seit jahrzehnten einen weg der individuation geht und seine wurzeln nicht kappt, sondern die nährenden von den abgestorbenen und beide von den niederdrückenden schlingpflanzen zu unterscheiden bemüht ist, empfinde ich solche rülpser des bauchhirns als ungeheure anmaßung und respektlosigkeit gegenüber der geistes- und kulturgeschichte, der wir verhaftet sind.
wir können damit umgehen wie die kleinen kinder, mit dem bauch, aber wenn wir das als erwachsene menschen tun, dann liegt für mich genau darin die abwertung, die irene mir vorwirft. ken wilber bezeichnet eine solche anschauung in "eros, kosmos, logos" als prärational - wogegen die herausforderung der evolution darin läge, nach der mythischen phase der evolution (in der auch die weltreligionen ihren höhepunkt erlebten) das transrationale zu leben und zu pflegen, durch den verstand und über ihn hinaus, aber nicht gegen ihn.
und weiter kommen wir auch nur dann, wenn wir uns gegenüber den religionen nicht aufführen wie die kleinen kinder (sehr vieles an der hier üblicherweise vorgetragenen religionskritik erinnert ja sehr an das austragen nicht gelöster eltern-kind-beziehungen auf einem anderen, unverbindlicheren schlachtfeld), sondern uns mit herz und hirn und in achtung vor ihrer evolutionären bedeutung von ihnen frei machen - meinetwegen auch mit ihnen frei machen.
das problem des leidens und des kreuzes erscheint mir durchaus massiv, wenn es zugleich in der subjektiven biographie verankert ist - etwa durch eine schwarze pädagogik, die das leiden als erziehungsmittel kultiviert hat und die heute noch weit verbreitet ist. da steht dann freilich das kreuz im vordergrund, und alles, was in diese richtung geht, löst sofort das verinnerlichte, verdrängte der persönlichen erfahrung aus.
etwas völlig anderes ist die einsicht, dass wir nicht das paradies auf erden haben und dass unsere wege und irrwege der persönlichen entwicklung auch über leid und krise gehen. illusionäre glückspropheten helfen da auch nicht wirklich, wohl aber scheint es zumindest in einem bestimmten umfang erlernbar zu sein, "schicksal als chance" zu begreifen und diese chance auch zu nutzen.
so ist auch das leid in den scheinbaren leidensreligionen nicht endzweck, sondern durchgangsstadium. keine einzige religion hätte sich halten können, hätte sie sich nicht letzten endes als erlösungs-religion präsentiert.
Irene schrieb:
Dazu dann der Satz, der wohl kaum anders kann als Schuldgefühle auslösen, tief drinnen in uns: "Er ist für unsere Sünden gestorben."
Was wird angerichtet in Kinderseelen, die diese Prägungen aufgedrückt bekommen? Bzw. wie weit wird es verstärkt dadurch? Oder wird es nur offensichtlicher, und ist auch in den vom Christentum eher unbeleckten Menschen genauso? Schuldig von Anfang an, durch die bloße Existenz eigentlich schon. Schuldig an seinem Tod, an einem grausamen Tod.
Oder ansonsten: schuldig, den Eltern durch seine Bedürfnisse auf die Nerven zu gehen.
wie gesagt, schwarze pädagogik. das ist kein thema der religion christentum, das ist ein thema der instrumentalisierung von religion für eine moralisierende abrichtung von kindern. wer erwachsen wird, kann das missverständnis - sofern er sein großhirn mitbeteiligt - auflösen und den kreuzestod nicht als simples schuldübernahmemodell für meine eigenen schuldigkeiten sehen, sondern als paradigma dafür, dass schuld nicht ohne jede perpektive niederdrücken muss, sondern in erlösung transformiert werden kann. es geht um die befreiung von schuldgefühlen, nicht um ihre konstituierung. mit dem bauchhirn allein freilich bleibt es beim spiel mit kindlichen ängsten.
"schuldig, den eltern durch seine bedürfnisse auf die nerven zu gehen" ... vielleicht wäre doch erst mal das zu klären, bevor man dem thema ins unverbindliche der wohlfeilen religionsschelte ausweicht...
alles liebe, jake