Seidenstrasse...

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Seit einigen Stunden waren Ali, der Shrenk und der Trupp Mongolen unterwegs. Der Kamele und die Pferde der Mongolen kämpften sich ihren Weg durch eine hügelige Landschaft, durch rotbraune, windzerfurchte Gebirgsketten voller rotem Staub und Sand. Die Bäume und Sträucher waren verschwunden, sogar die genügsamen Tamarisken hatten sich verabschiedet. Die Kamele und die vierundzwanzig Pferde ritten durch eine Mondlandschaft mit bizarren Felsen, an denen pausenlos die glühenden Sommerwinde und die eiskalten Winterstürme seit Jahrtausenden nagen.


Oh Werteste, ihr ahnt nicht wie mir der Kopf weh tut“, lamentierte der Doktor und hielt sich dabei die Hand an die Stirn. „Jeder Schritt von Suleika macht sich als gravierender Schmerz, wie Pochen oder Stechen in meinem Kopf bemerkbar.“ Der Doktor tätschelte Suleika und hörte dabei nicht auf zu stöhnen.

„Nach so viel Kumis, ist auch nichts anderes zu erwarten. Ugedai sprach davon, dass wir bereits am frühen Nachmittag Rast machen. Also haltet durch und jammert mir nicht ständig die Ohren voll. In dieser öden Landschaft können wir unmöglich halten.“

„Ja“, seufzte der Shrenk. „Das ist sehr rücksichtsvoll von den Mongolen, mir gegenüber. Ich bemerke mehr und mehr, dass diese Menschen auch Gefühle besitzen, im Gegensatz zu euch, sogar Einfühlungsvermögen in meine schrecklichen Kopfschmerzen.“

„Nein, Doktor. Es war Kökötchü, der eine magische Zeremonie vorbereiten muss, zum Schutz vor der Taklamakan.“

„Die Taklamakakan? Oh diese Schreckenswüste, ich darf gar nicht daran denken, das hier ist schon schlimm genug. Wie wird es erst…“

„Taklamakan, heiβt sie und nicht Takalamakakan!“ unterbrach Ali den Doktor unwillig. „Bei Allah, seid ihr immer noch nicht fähig diesen Namen vernünftig auszusprechen, wie jeder normale Bürger des Pamir?“

„Oh, bitte schreit nicht mit mir. Mein Kopf überlebt das nicht, werte Ali. Und seid nicht so kleinlich wegen einem oder zwei Buchstaben zu viel. Mir gefällt ganz einfach Taklamakakan besser, es klingt harmonischer und geradezu musikalisch. Wisst ihr die wahre Bedeutung dieses Namens?“ Ali schüttelte den Kopf.

„Die wahre Bedeutung, liebe Ali ist: „Wer da hineingeht, kommt nicht wieder heraus“, und falls wir doch wieder heraus kommen, erwarten uns dann noch weitaus gefahrvollere Begebenheiten. Oh, ist das Leben schwer zu ertragen“, beklagte sich der Shrenk.

„Schaut doch mal dort vorne“, rief Ali erleichtert aus. „Die ersten Sträucher und sogar Bäume. Ich glaube, wir sind erst mal dieser Gefahr entkommen.“

„Oh Allah, ich danke dir für diese liebliche Landschaft, die mir nach dieser Strapaze, wie das Paradies vorkommt“, hauchte der Shrenk.

Und wirklich veränderte sich zusehends das Bild vor ihnen. Sogar trockenes Gras und Büsche wuchsen am Weg. Aber es war eine unheimliche Landschaft mit knorrigen alten Sandweiden, die gespenstisch emporragten, halb verdeckt durch die Sandschleier der nahen Wüste.

„Wir halten!“, befahl Ugedai vor einer dieser knorrigen Sandweiden, an der ausgestopfte Schafsbalge und Stofffetzen herabhingen. Rundherum um den Baum standen Stöcke mit Fetischen.

„Böse Geister locken Menschen und Tiere mit Trugbildern in die Irre!“, rief Kökötschü laut kichernd und stieg vom Pferd.

 


Die Abendstimmung hatte die Landschaft verwandelt und warf dem Boden einen zauberhaften goldenen Glanz über. Die Mongolen hatten sich in einem Halbkreis um die groβe Sandweide niedergelassen, wo ein groβes Feuer loderte. Gespannt warteten sie zusammen mit Ali und dem Shrenk auf das Schutzritual von Kökötschü.

Kökötschü hatte sich sein Antilopenfell übergeworfen. Reich geschmückt mit unzähligen Federn von Vögeln, Glocken, Knochen, Tierschwänzen und Vogelköpfen, stand er vor der groβen Geisterweide, sang leise ein Lied und begann auf seiner Trommel zu schlagen.

Bei jeder seiner Bewegung klirrten und rasselten alle diese Dinge gegeneinander. Auf dem Kopf trug der Schamane einen Federkranz, der in einen langen Schweif im Rücken auslief.


„Was macht Kökötschü nur?“, fragte der Shrenk, während er sich seinen immer noch schmerzenden Kopf hielt.

„Seid still, Doktor! Wir dürfen sein Ritual nicht stören. Kökötschü wird jetzt den groβen Kökö Tengri befragen und die Geister der Taklamakan ruhig stimmen.“
„Wer im Himmels Namen ist Kökö Tengri?“ fragte der Shrenk.

„Das ist der ewige blaue Himmel.“

Der Schamane hatte Salz in das Feuer geworfen, worauf die Flammen zu knistern begannen. Darauf warf er ein Pulver ins Feuer, das entsetzlich stank, sprach magische Formeln und versetzte sich allmählich durch rhythmisches Wiegen des Oberkörpers in Extase. Er schlug mit seinem Antilopenfuß immer heftiger auf die Trommel.

„Jetzt beginnt der Kampf mit den Geistern, Shrenk“, raunte Ali ihm zu.

Kökötsch tanzte wie rasend um das Feuer, gab unartikulierte Schreie von sich, schnaubte wie ein Pferd, stieß langgezogene Pfiffe aus und warf den Antilopenfuβ zwischen die Mongolen.
Und dann machte er Bewegungen, als vertreibe er die Geister und schicke sie fort. Worauf Kökötschü bewusstlos zusammenbrach.
 


Der Mond war inzwischen aufgegangen und leuchtete gespenstisch auf die Zauberweide herunter. Plötzlich fuhren heftige Windstöβe in die Stofffetzen, die Fetische und Glöckchen, die überall an den Zweigen hingen, hinein und brachte sie zum klingen.


„Wir stehen nun unter dem Schutz der guten Geister“, sprach Ugedai zufrieden. „Der Wind lässt die Zauberfetzen flattern, mit deren Hilfe die bösen Geister weit, weit weg vertrieben wurden. Morgen brechen wir auf in die Taklamakan.“

„Taklamakakan?“

Ali blickte zum Shrenk, der blass da saβ und verwirrt umherblickte.

„Doktor, alles in Ordnung mit euch?“

„Meinen Kopfschmerzen sind wie weg geblasen. Ich frage mich nun ob es eventuell vielleicht doch Geister geben könnte. Sozusagen böse Kopfgeister, die Kökötschü, vertrieben haben könnte. Hm… Ich hoffe, er hat wirklich die richtigen Geister vertrieben? Was ist, wenn er statt der Taklamakakan Geister nur meine Kopfgeister erwischt hat?“ Der Doktor räusperte sich. „Was ist mit Kökötschü?“

„Der schläft wie ein Baby.“

Die Mongolen begannen Lieder zu singen, Kemur wurde in die Becher geschenkt. Hammel auf Spieβen gebraten und ein verlockender Duft lag über der Feuerstelle. Ali sog zufrieden die Luft ein.

„Shrenk! Ihr braucht ganz einfach einen kräftigen Schluck…“
„Kemur?“, fragte der Doktor sofort. Ali nickte und reichte ihm einen Becher.

„Danke, Gnädigste. Nach diesem grauenhaften Pandämonium bin ich einfach noch nicht in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.“

„Trinkt Doktor. Es ist eine schöne Stimmung heute, so als wenn die Luft nach einem schweren Gewitter gereinigt wurde. Wisst ihr eigentlich wie lange eine Karawane bis Europa unterwegs war?“

„Es kommt darauf an, ob bis Rom oder Konstantinopel.“

„Aus Marco Polos Berichten geht hervor, dass eine Karawane acht Jahre von China bis Rom brauchte. Marco Polo schaffte es in drei Jahren.“

Ugedai setzte sich neben den Doktor und Ali. Der Schamane schlief immer noch, man hatte ihm zum Schutz vor der Kälte, ein Fell übergeworfen. Einer der Mongolen brachte eine Schüssel mit Fleisch und stellte sie vor Ugedai.

„Ich habe Nachricht vom groβen Temudschin“, begann Ugedai mit freudiger Miene und bot seinen beiden Gästen von dem Fleisch an. „Temudschin ist bereits mit seinem Heer durch die Wüste Gobi unterwegs in Richtung Dschungurischer Pforte. Und wie der Bote berichtete, versammeln sich bereits unsere Streitkräfte im unteren Lauf des Irrtysch, östlich des Saisan-Nor-Sees, das ist im östlichen Gebiet der Uiguren. Von dort will Temudschin durch die Golodnaja Steppe vorstoβen.“

Ugedai nahm sich ein Stück Fleisch und begann zu essen. Wer ist nur dieser Ugedai, überlegte Ali, während auch sie herzhaft von dem gebratenen Hammel zulangte. Er wird noch nicht einmal dreiβig Jahre alt sein, aber so wie es scheint, ist er ein wichtiger Mann von Temudschin.

„Habt ihr auch Nachricht über Dschebe?“, fragte der Shrenk. Immerhin wären er und Ali fast mit Dschebe über das gewaltige Trans-Alai Gebirge gestiegen. Gar nicht auszudenken, dachte er und trank besser noch vom Kemur um sich zu beruhigen.

„Dschebe lässt die Verbindung zu Temudschin nicht abreiβen. Er ist jetzt nzwar nicht mehr dreitausend Kilometer von Temudschin entfernt und näher an das Hauptheer herangerückt, aber durch unüberwindbare Berge getrennt. Die Schwierigkeiten der Pfeilboten werden dadurch täglich erhöht. Sie können nicht mehr den Weg durch Ost Turkestan nehmen“, erklärte Ugedai und blickte den Doktor an. Nachdem er aber sein verständnisloses Gesicht bemerkte fuhr er fort die geografische Situation zu verdeutlichen:

„Der Weg durch Ost Turkestan führt südlich des Tien-Schan-Gebirges entlang. Dieses Gebirge erstreckt sich von Buchara bis zur Wüste Gobi in einer Gesamtlänge von 2500 Kilometern. Dschebes Pfeilboten müssen ab jetzt Pässe von viertausend Metern überwinden um zum Kahn zu gelangen, der täglich weiter vorrückt.“
 


„Oh meine geliebte Suleika. Ich bin in Sorge wegen der Geister, und ich weiβ, dass du mich verstehst“, sprach der Shrenk leise zu seiner Kamelstute und streichelte ihr dabei liebevoll über den Hals. Er hätte auch lauter sprechen können, denn der Wind war unerträglich und blies pfeifend über den grauen Schotter der Taklamakan.



Graue Dunstschleier aus Sand lagen über der Wüste und lieβen die Morgensonne kaum durchscheinen. Es begann ein beschwerlicher Anstieg auf eine Passhöhe Die Karawane bahnte sich ihren Weg zwischen schroffen Felswänden. Der Doktor blickte nachdenklich auf die entfernten, schneebedeckten Gipfel der Berge und versuchte mit den anderen Schritt zu halten.

„Suleika! Nur weil ich dir mein Innerstes offenbare, gibt es keinen Grund langsamer zu werden“, ermahnte er sie.

„In der Psychoanalyse spricht am…ähm, über abgespaltene Seelenanteile. Hm. Ich kann das nicht mehr so richtig nachvollziehen! Wie sollen denn so viele abgespaltene Seelenanteile hier in der Taklamakan herumgeistern? Von den ganzen Völkern, verstehst du Suleika?“

„Ich verstehe“, erwiderte Suleika wiehernd mit ihrer gewohnt liebenswürdigen Stimme.

„Es geht ja nicht nur um die ansässigen Völker, wie die Uiguren, Tadschiken, Kirgisen, Chinesen und Mongolen. Wir müssten die anderen Händler, die hier auf der Seidenstraβe unterwegs sind, auch mit einbeziehen. Hm.. also Turkmenen und Römer. Nicht auszudenken, was sich da an abgespaltenen Seelenanteilen in dieser Schreckenswüste versammelt haben dürfte…vor allem wenn die auch noch gegeneinander in Streit geraten und sich beschimpfen!“

Der Shrenk war einmal wieder ungewollt laut geworden. Die Mongolen hatten es längst bemerkt, kannten den seltsamen Doktor inzwischen und da sie ihn als einen wichtigen Schamanen einstuften, dachten sie meist, er unterhalte sich mit seinen Geistern und nicht mit seiner Kamelstute Suleika. Aber eigentlich war das auch ziemlich unwichtig. Nur für Ali, die sich Sorgen um das geistige Befinden des Shrenk machte. Sie lenkte Akhbar neben ihn. Der Doktor aber war sehr vertieft in sein Gespräch mit Suleika über die pfeifenden Geister der Taklamakan und sprach ungerührt weiter:

„Suleika, die Kämpfe der Geister, ähm.. sagen wir die Seelenanteile, wenn wir es psychologisch beschreiben wollen, aber das ist gehupft wie gesprungen. Also die Geisterkämpfe in der Taklamakakan, scheinen manchmal von solcher Intensität zu sein, dass es zu Sturm kommt. Dann plötzlich verfinstert sich der Himmel und der Kara Bura kommt. Ich nehme mal an, dass die Geister auf Pferden daher reiten, so wie die Reiterhorden vom Kahn. Die Sonne glüht als dunkelroter Ball durch die verdichtenden Staubnebel und dann kündigt sich der Kara Bura an durch einen schrillen Pfiff…“

„Doktor!“ Der Shrenk zuckte zusammen und wendete seinen Kopf zu Ali.

„Um diese Jahreszeit sind die Stürme schon vorbei, seid beruhigt. Die groβe Hitze ist vorüber und da kommt kein Kara Bura mehr.“

„Was aber, wenn Kökötschü die Geister der Wüste gar nicht verjagt hat? Wenn der Schamane nur meine bösen Kopfgeister vertrieben hat? Es sollen ungeheure Sandmassen mit Kieseln und Steinbrocken in die Höhe gerissen werden, um dann mit voller Wucht auf uns zu stürzen. Eine wahrhaftig dämonische Angelegenheit, die wir nicht einfach verdrängen sollten, werte Ali.“
„Der Kara Bura kommt nur im Sommer!“

„Bei unserer globalen Erderwärmung wäre es durchaus möglich…“

„Doktor! Wir leben im dreizehnten Jahrhundert!“

„Seid ihr da so sicher? Sogar die Tiere verlieren dabei den Verstand, Ali. Also kann es sich somit nicht um irgendwelchen Aberglauben handeln, denn wie sollen Tiere an Geister glauben? Tiere haben womöglich mehr Verstand als wir, Gnädigste, und sogar die Tiere verlieren ihn beim Kara Bura!“

„Shrenk, das war einmal wieder eine Glanzleistung. Besser wir besprechen das später mit Kökötschü.“

 

Kökötschü war unbemerkt herangekommen und hielt sein Pferd neben Ali und dem Shrenk.

„Löst du deine Probleme nicht vor dem Morgengrauen, löst du sie nie“, sprach er würdevoll und blickte dann dem Doktor gerade ins Gesicht. „Es scheint, ihr habt ein Problem, edler Doktor Shrenk. Ich frage mich schon lange, warum euer Herz und das von so vielen Menschen in eurer neuen Welt, kalt geworden ist und wie man es wieder beleben kann.“

„Kalt?“, fragte der Doktor erstaunt. „Nun, das liegt an der eisigen Kälte dieses Hochlands, vermute ich mal. Wir befinden uns seit Monaten auf zwei bis dreitausend Metern Höhe.“
„Wie ihr bemerkt habt, entfernten sich einige böse Geister aus eurem Kopf, aber mit dem Herzen, da gibt es noch zu tun, bis ihr erneut die unendliche Weite des Kökö Tengri, dem Herrn des Blauen Himmels fühlt.“

„Ich möchte eure Professionalität keineswegs anzweifeln, aber seid ihr auch wirklich sicher, dass ihr, edler Kökötschü, die Geister der Taklamakakan vertrieben habt?“

Kökötschü schwieg eine lange Zeit und summte dann ein Lied. Als er das Lied beendet hatte, wandte er sich erneut dem Doktor zu und sagte:

„Heute in der Mitte der Nacht nahm ich Kontakt mit meinen Ahnen auf und habe sie befragt. Sie sprachen zu mir über euch: ihr macht euch so oft Sorgen, weil euer Denken stärker wurde als euer Herz.
Ich bin weit gereist gestern Abend, ich flog hinauf, auf dem groβen Weltenbaum und habe die Welten besucht. Auch stieg ich hinab zu den Wurzeln bis in die untere Erde, um dort die bösen Geister zu besänftigen. Denn oft kommt es in dieser Wüste vor, dass die Geister die Erde so stark rütteln dass davon viele Häuser verschlungen wurden.“

„Wie ist das möglich?“, fragte sich der Doktor ratlos.

„Alles ist möglich unter dem groβen Kökö Tengri. Diese Wüste hat nicht nur hunderte von Karawanen unter sich begraben, auch ganze Städte fielen ihr zum Opfer.“

Inzwischen hatte die Karawane die Passhöhe erreicht. Der Wind blies zu heftig und die Gegend war so unwirtlich, dass an eine Rast nicht zu denken war. Ohne Pause ritten die Pferde und Kamele, den gefährlich steilen Pfad bergab. Ali blickte lieber nicht in die schwindelerregenden Täler hinunter und konzentrierte sich auf den Weg der vor ihr lag.

Der Doktor seufzte schwer. Zu viele Fragen waren noch nicht beantwortet, die er dem weisen Mann stellen wollte. Monatelang hatte er gebraucht, das Kökötschü sich ihm näherte. Der Doktor hatte es mehrmals während der Reise versucht, aber vergeblich. So musste er sich in Geduld üben und warten. Heute schien endlich der lang ersehnte Augenblick gekommen zu sein.

In diesem Augenblick erklang plötzlich leise Musik wie von Harfen und Rufe von Männern. Auch vernahm man Trommeln, erst leise, um dann immer lauter zu werden, begleitet von schrillen Pfeiftönen.

„Was ist das?“, fragte der Doktor erstaunt.

„Das sind die Geister der Taklamakan. Aber seid beruhigt, sie werden uns nichts tun. Heute Abend halten wir in der Oase Tumschuk und werden in einer Karawanserei übernachten. Da haben wir Gelegenheit miteinander zu sprechen. Ihr habt so viele Fragen, Doktor.“ Kökötschü kicherte. „Ich habe keine Fragen mehr, denn ich weiβ, der Kökö Tengri ist mein Vater und sorgt für mich. Und ich sorge für die Menschen und übermittle ihnen die Botschaften aus der anderen Welt.“ Der Schamane hatte sich mit seinem Pferd entfernt, sobald die Wegstrecke es zulieβ.

Kökötschü nimmt die Wirklichkeit so, wie sie sich ihm darstellt und hinterfragt nicht. Er weiβ es und braucht nicht daran zu glauben, dachte der Shrenk, während er fasziniert den seltsamen Geräuschen aus der Wüste lauschte. Einmal klang es wie Sphärenmusik, dann plötzlich wieder wildes Getrommel und dazwischen raue Männerstimmen.

Ach, lass sie rufen die seltsamen Geister der Taklamakakan, entschied der Shrenk. Da fiel ihm die Nachtreise des Propheten Mohammed ein, der auf einem weiβen, geflügelten Pferd durch die Lüfte ritt. Von der Kaaba in Mekka, bis nach Jerusalem und weiter durch die Hölle und in den Himmel. Für Mohamed war diese Nachtfahrt Wirklichkeit und sie wird in der 17. Sure des Korans beschrieben. Mohammeds Ehefrau beteuerte ihm, er habe die ganze Nacht bei ihr im Bett gelegen…




 


Ein unendliches Meer aus Sand, dann wieder lange Zeit nur grauer Schotter, kahlgraue Berge, steinig und ohne jegliches Leben. So war das seit Tagen, dachte Ali. Und nun endlich dort weit unten im Tal, hinter den Sanddünen, die Oase Kutscha, umgeben von Pappeln und fruchtbaren Gärten. Die Abendsonne warf ihre Strahlen auf die Lehmhäuser und lieβ nochmals alles in fast überirdischem Glanz erstrahlen, bevor sie ihre Reise auf die andere Seite des Erdballs antrat. Ali atmete erleichtert auf. Es war bitterkalt geworden, und so wie sie es sich ausgerechnet hatte, war der Monat Oktober bereits angebrochen.

Ali dachte, wie sie vor genau einem Jahr mit dem Shrenk an der Reling der Ramlah stand. Sie betrachteten das Festland von Saudi Arabien und auch da ging die Sonne unter. Dann erschien im Westen eine schmale Mondsichel, das Zeichen vom Ende des Ramadan.

Ali bemerkte, dass es stetig bergab ging und blickte sich fragend nach dem Shrenk um.

„Habt ihr das auch schon bemerkt, Doktor? Der Weg führt immer weiter bergab, so als ritten wir in das Innere der Erde hinein.“

„In der Tat, Gnädigste. Das hier ist die zweittiefste Stelle der Erde, es geht genau genommen 154 Meter unter den Meeresspiegel.“

„Was ihr auch alles wisst. Habt ihr Kutscha gegooglt?“

„Ich werde mich hüten, meinen Laptop bei diesen Sandverwehungen auch nur aus meiner Satteltasche zu nehmen. Das würde ihm den Garaus machen. So etwas weiβ ich schon lange.“

„Das eurem Laptop der Tod gewiss ist?“

„Nein. Die geografische Lage der Stadt Kutscha und die Höhlenforschungen des Sven Hedin oder dieser ganzen anderen. Wie heiβen die nur?“, fragte sich der Doktor, aber vergeblich. Er hatte es wohl vergessen.

Die Sonne war verschwunden und die Luft wurde bitterkalt. Ali zog sich ihre Kapuze über den Kopf. Der Himmel war heute von ungewohnter Klarheit und die ersten Sterne blitzten auf.

„Ich habe die Namen vergessen, Gnädigste, aber es ist auch unwichtig. Es handelte sich um mehrere Expeditionen entlang der Seidenstraβe und die Entdeckung der Höhlen.“

„Höhlen, was für Höhlen?“

„Habt ihr noch nie von den Höhlen der tausend Buddhas gehört?“, fragte der Doktor aufgeregt. Wir haben nun die Chance, die Höhle der tausend Buddhas zu besichtigen, und zwar in viel besser erhaltenem Zustand als heutzutage!“

„Oh! Natürlich hörte ich davon, aber ich hätte es mir nicht träumen lassen, dass sie hier sind. Wo sind die Höhlen?“

„Noch zwei Tagesritte von hier entfernt.“


„Oh, Doktor, ist das nicht phantastisch?“

„In der Tat. Wie ich gelesen habe, wurden sie während der Jahrhunderte immer wieder geplündert. Auch die Malereien an den Wänden und Decken der Höhlen, dürften in diesen mehr als tausend Jahren verblasst sein. Den Rest erledigte dann Mao mit seiner Kulturrevolution. Aber wir, Ali, wir erden die Höhlen der tausend Buddhas in ihrer wahren Pracht erleben. Alleine dafür hat sich diese strapaziöse Reise gelohnt!“





In der Karawanserei herrschte emsiges Getriebe, als Ali und der Shrenk dort am Abend eintrafen. Es war eine lautstarke Mischung von Sprachen aus aller Herren Länder. Dazu das Wiehern der Pferde und streitlustige Kamele, die sich über ihre Herren oder ihre Lage ärgerten und dies lautstark zum Preis gaben. Auch ein paar bissige Karawanenhunde die herum kläfften. Die kreischende Winde eines Brunnens im Innenhof untermalte das Konzert obendrein. Essensgerüche, gemischt mit den Ausdünstungen der Tiere und Menschen hingen im den Kreuzgängen der Karawanserei.

Aber der Doktor war dankbar, hier ein Plätzchen zu finden, wo die bittere Kälte einem nicht so zusetzt. Die Nächte drauβen in der Wüste fielen bereits weit unter den Gefrierpunkt.

Zusammen mit den Mongolen und Ali, durchschritten sie die langen Gänge. Auch hier war der Geräuschpegel genauso laut. Fluchende Händler und feilschende Knechte überall.
Dann endlich ihr Raum mit zwei Strohmatten am Boden. Ali schloss die knarrende Tür und schnappte laut nach Luft.

„Was ist das nur für ein elender Schuppen, wo wir uns Läuse, Wanzen, Flöhe und allerlei anderes Ungeziefer einhandeln werden!“

„Läuse aus Kasachstan, Wanzen aus Afgahnistan, Flöhe aus Beijing und Skorpione aus dem Punjab, werte Ali. In der Tat, in der Tat!“

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Es war Kökötschü, in der Hand hielt er irgendwelche brennende Räucherware und meinte kichernd:


„Weilt der Gast auch nur kurze Zeit, so sieht er doch viel.“ Dann begann er ungefragt den Raum auszuräuchern, indem er die Räucherstäbe in der Mitte des Raumes aufstellte und dann Ali und den Doktor aufforderte ihm hinaus zu folgen.

„Wir wollen nun zusammen eine Mahlzeit einnehmen. Bis dahin ist alles Ungeziefer geflüchtet.“

„Wohin geflüchtet?“, fragte Ali neugierig, während sie neben Kökötschü herlief, der schnellen Schrittes in Richtung Essensraum ging. Sie fragte sich, wie alt der Schamane wohl sei, aber es war schwierig sein Alter festzulegen.

„Zum Nachbarn“, kicherte er.
 


Die Mongolen hatten sich um einen groβen Küchenofen versammelt, ein dampfender Suppenkessel thronte obendrauf. Ugedai winkte Ali und dem Shrenk und machte ihnen Zeichen, sich zu ihm zu setzten.

„Das sind Boten aus der Heimat, sie kommen vom Ordu“, sagte Ugedai und zeigte auf fünf Männer. Nachdem Der Doktor und Ali mit Kemur versorgt worden waren, fuhr Ugedai fort:
„Sie haben euch Geschenke mitgebracht.“

„Geschenke?“ Ali nahm sich eine Schüssel mit dampfender Nudelsuppe, in der Fleischstücke schwammen und begann hungrig zu essen. „Was für Geschenke, lieber Ugedai, bringen uns die Boten?“

Ugedai griff hinter sich und holte einen schweren Pelzmantel hervor. Das sind Dachas, doppelwändige Pelzmäntel. Der Winter kommt und ihr werdet sie brauchen. Auch Pelzmützen und Stiefel. Ihr werdet neu eingekleidet.“

„Oh, besten Dank, edler Ugedai. “ Der Shrenk befühlte den Mantel, er war von graubrauner, glänzender Farbe und besaβ langhaariges Fell. „Wie weich sie sind. Was ist das für ein wunderbar geschmeidiger Pelz?“

„Das ist Zobel und ein Geschenk von Temudschin persönlich. Als Dank dafür, dass ihr diese weite Reise auf euch genommen habt.“

„Danke, Ugedai.“

„Solche Dachas, hat Temudschin an Dschebe und Dschutschi, schicken lassen. Und noch weitere zehntausend Reiter. Insgesamt zwanzigtausend Dachas aus Lammfell für seine Truppen denn Dschebe muss ab jetzt mit seinem Reiterregiment über die verschneiten Berge ziehen.“

„Wer ist Dschutschi?“

„Dschutschi ist Temudschins Sohn.“

„Ah. Und wer seid ihr, Ugedai?“

„Ich bin Ugedai, mehr nicht“, lachte er schelmisch, dass seine Zähne blitzten.


„Glaubt ihr, dass Dschebe es schaffen wird?“

"Sage von einem Paß nie, er sei unüberwindlich! Wenn du nur hinaufsteigst und keine Anstrengung scheust, wirst du ihn überschreiten. Und sage auch nicht, es sei zu weit und ihr könntet es nicht schaffen! Wer geht, kommt schließlich auch an!"

„Oh ist die schön“, bedankte sich Ali, als Ugedai ihr eine Pelzmütze überreichte. Stolz setzte sie sie probehalber auf. Die Mütze war genauso wie die von Ugedai und den anderen Mongolen angefertigt: kapuzenartig und mit einem breiten Rand aus dickem Pelz der zu beiden Seiten nach hinten über die Schulter hinab fiel.

„Damit ihr nicht friert, ab jetzt wird es von Tag zu Tag kälter werden.“




Kökötschü hatte sich unbemerkt neben den Doktor gesetzt. Erst als der Shrenk lautes Schmatzen und schlürfende Geräusche neben sich vernahm, drehte er sich zu ihm hin. Kökötschü leerte gerade seine Suppenschale und wischte sich dann zufrieden mit dem Handrücken den Mund ab. „Heute möchte ich euch etwas erzählen.“ Der Doktor nickte gespannt und lauschte aufmerksam Kökötschüs Erzählung:

„Temudschins Urahnen stammen von einem Wolf und einer weiβen Hirschkuh ab.“

„Ach wie zauberhaft, edler Kökötschü.“

„Es war der graue Wolf Börtä-Tschino des Himmels und die weiβe strahlende Hirschkuh Maralghoa der Erde. Sie begründeten unser Volk, die Mongolen.“

„Ich verstehe, hm… ein Mythos aus Urzeiten, nehme ich mal an, um so dem Herrscher den Status eines Gottes zu verleihen. Ist ja durchaus üblich gewesen.“ Ali, die auch zugehört hatte stieβ den Doktor unwillig mit dem Ellbogen an und murmelte: „Seid nicht so ungläubig, Doktor. Es kann ja wahr sein.“

Kökötschü lächelte den Shrenk wohlwollend an und fuhr fort:

„Der Wolf ist das Ebenbild des Kriegers und steht für unsere Kraft. Eine unerschöpfliche Kraft. Die Hirschkuh ist das Zeichen der Schamanen und der Stämme. Nach ihrer Heirat schwammen beide den Onon Fluss hinab und lieβen sich am heiligen Berg Burkahn-Khaldun nieder. Dort kam ihr erster Sohn Bataschian zur Welt.“

In diesem Augenblick flog die Tür mit lautem Knall auf und jemand rief irgendetwas aufgeregt in den Raum. Ugedai wandte sich an Ali und den Shrenk:

„Eure Kamele sind durchgebrannt und veranstalten ein Wettrennen in den Gängen der Karawanserei!“
Ali erhob sich sofort und das Gleiche tat der Shrenk, gefolgt von einigen Mongolen aus der Karawane.

„Wir müssen sie einfangen, Doktor. Was sollen wir nur tun?“ Aber da hatte Ugedai sie schon eingeholt und vekündete lachend, während er im Laufschritt neben ihnen herlief:

„Vertraue Allah, aber binde dein Kamel gut fest!“

„Das ist bei Akhbar nicht möglich, der schafft es jeden Knoten zu öffnen“, schnaufte Ali, die inzwischen ganz auβer Atem war, ihre Kamele durch den endlosen Kreuzgang zu verfolgen.


Die Karwanserei Tash Marab, am Rand der Oase Kutscha gelegen, war ein zweistöckiger, quadratischer Bau von mindestens fünfzig Metern an jeder Seite. Die Wände bestanden aus gebrannten Lehmziegeln, an jeder Ecke war auβen ein runder Wachturm mit Schieβscharten angebaut und in der Mitte befand sich ein Innenhof mit einem Brunnen. Im unteren Stock waren die Ställe untergebracht und in der oberen Etage die Zimmer für die Gäste, die Essensräume, Küchenstuben und Teestuben. Es gab auch eine kleine Moschee, ganz am einen Ende des Gangs.

„Auβerdem sind meine Kamele, Meharis. Das sind Rennkamele und sie erreichen bis zu 45 Stundenkilometer, versteht ihr Ugedai?“

„Ja, natürlich.“

Inzwischen waren einige Mongolen auf ihren Pferden in den Gängen unterwegs, auf der Jagt nach Alis Kamelen. Sie wollten Akhbar mit der Urga einzufangen. Aber vergeblich. Akhbar ritt so schnell wie der Teufel und Miriam hinterher. In der Taklamakan mussten sie langsam reiten, wegen dem Sand, dem Schotter, den Steigungen der Bergpässe und dem schweren Gepäck, was auf ihren Rücken aufgeschnürt war. Nicht hier in der Karawanserei. Die Gänge waren ebenerdig, ihre Rücken waren ohne leidige Gepäckstücke. Der Hafer und die Datteln die Ali ihnen vorhin verfütterte, tat sein Übriges. Alis Kamele fühlten sich voller Kraft und rannten in Hochstimmung durch die Gänge der Karawanserei. Um den Pferden mit ihren mongolischen Reitern zu entkommen, stiegen sie in Windeseile die Treppen hinauf in den oberen Stock und setzten ihre Rennen dort fort. Neugierig hatten die übrigen Gäste sich im Innenhof um den Brunnen geschart. Andere blieben vorsichtshalber an der Schwelle zu ihren Räumen stehen und blickten neugierig den wilden Mongolenreitern hinterher, die noch wildere Kamele verfolgten.


In Windeseile musste sich Kökötschü umgezogen haben, er hatte sich genau neben dem Brunnen im Hof hingestellt. Langsam begann er auf seiner Trommel zu schlagen, während er seinen Oberkörper zusammen mit der Trommel, vor und zurück warf. Bald glitt er hinüber in die andere Welt, und begann plötzlich laut zu knurren. Es schien, als trete er in Kontakt mit den Geistern von Akhbar, Miriam, Suleika und Omar, um sie zu besänftigen, was ihm anscheinend nicht so richtig gelingen wollte. Seine Knurrlaute wurden immer lauter, abwechselnd stieβ er grelle Schreie aus, dann wieder ein dröhnendes Knurren. Der weise Mann entschied sich zur Herrin der Tiere zu reisen um die Freigabe von Akhbars Geist zu erreichen und um eine gereinigte Atmosphäre in der Karawanserei herbeizuführen.


Etwas abseits vom Brunnen stand eine kleine Gruppe finsterer Gestalten. Sie waren in dunkle Mäntel gehüllt, auch ihre Turbane waren schwarz. Gesichter von sonnengegerbter Haut, geschmückt von langen Bärten, dunkle Augen, die aufmerksam die Situation musterten. Schweigend verfolgten die zehn Männer den wilden Aufruhr, bis endlich ihr Anführer Rashid, leise zu den anderen meinte: „Solche verrückten Kamele, könnten unser Vorhaben vermasseln. Wir müssen vorsichtig sein.“


 

Oh Gnädigste, was ist das nur für eine windgepeitschte und entsetzliche Wüste, diese Taklamakakan. Und jetzt wieder diese wilden Gebirgsschluchten.“
„Taklamakan“, antwortete Ali einmal wieder geduldig, aber vergeblich, der Doktor schaffte es nicht diese Wüste beim richtigen Namen zu benennen. Seit genau einem Tag und einer Nacht waren sie in nordwestlicher Richtung unterwegs nach Kizil, zu den Höhlen der tausend Buddhas. Begleitet nur von Altan und einem anderen Mongolen, die als Führer dienten, damit Ali und der Shrenk nicht abhanden kämen in dieser unwirtlichen und für die Beiden, völlig unbekannten Gegend. Um Zeit zu sparen, wurde nachts weitergeritten und
auf dem Kamel geschlafen, während abwechselnd Altan und der andere Mongole die Führung übernahmen.

„Was macht man nicht alles für einen kulturellen highlight“, meinte Ali schlecht gelaunt. „Wir hätten besser einen Tag in der Oase Kutscha verbracht und uns dort in umgesehen. Wenigstens ein wenig Zivilisation. Aber nein, der Herr Doktor muss unbedingt zu diesen verdammten Höhlen reiten und in dem Ruinenfeld eines verlassenen buddhistischen Klosters herum stolpern!“
„Werteste! Dieses Ruinenfeld geht auf das Konto von Temudschin. Wer von uns beiden ist hier Buddhist? Solch eine Gelegenheit dürften wir niemals mehr in unserem Leben erhalten und ihr beschwert euch über so ein grandioses Geschenk.“
„Wart ihr es nicht gerade, der sich über die Taklamakan beschwerte?“
„Nicht aber über die Höhlen der Tausend Buddhas! Ich hoffe nur, wir sind bald da.“

„Wir müssten es gleich geschafft haben. Seht einmal, dort unten im Tal, da schlängelt sich ein Fluss und das dürfte der Muzart sein.“

Der Weg nach Kizil führte mehr und mehr bergab, erste Pappeln am Flussufer tauchten auf und wiegten sich im Wind, auch zeigte sich ein schmaler Grünstreifen, entlang des Flussbettes, wo die Anwohner von Kizil Gemüsebeete angelegt hatten. Weinreben wuchsen hier, direkt dahinter zeigten sich die kahlen braunen Felswände, die wie eine Steilklippe schroff hinauf ragten.

„Schaut, dort!“, rief der Doktor und zeigte nach rechts, zur Felswand, wo hunderte von Grotten, wie Bienenwaben in den Fels eingehauen waren. An manchen hatte man terrassenartige Tempelanlagen angebaut, mit pagodenartigen Dachformen, die Ali von tibetischen Tempeln kannte. Bis zu sieben Stockwerke hoch, zählte Ali. Andere wieder schienen mehr dem chinesischen Einfluss zu besitzen. Ein fantastischer Anblick, diese Balustraden aus farbig lackierten Hölzern, die die Steilwand verschönerten.

„Das ist wie eine Zeitkapsel, Gnädigste! Ich habe auch meinen Laptop mitgebracht, um euch durch die Grotten zu führen.“
„Was meint ihr mit Zeitkapsel?“ Ali gähnte ausgiebig und blickte den Shrenk verständnislos an.
„Weil diese Grotten vor siebenhundert Jahren gebaut wurden und im 21 Jahrhundert nicht mehr so aussehen. Inzwischen sind sie durch mehr als ein Jahrtausend zerfallen, mit Sand zugeschüttet und einige endgültig zerstört. Ich habe es euch alles schon erzählt, Ali. Ihr hört mir nie richtig zu.“
„Hm. Habs wohl vergessen. Dann erzählt es mir einfach nochmal.“
„Ich habe viel darüber gelesen, und ihr als Buddhistin solltet eigentlich längst darüber Informationen eingeholt haben. Ich habe auf meinem Laptop eine PDF Datei, die sehr ausführlich die Höhlen von Kizil erklärt, ihr hättet es längst lesen können.“
„Was soll der vorwurfsvolle Ton? Ihr hattet euren Laptop wegen der Sandverwehungen unter strengem Verschluss!“

Der Doktor schwieg, er wollte keinen erneuten Streit mit Ali und blickte erwartungsvoll in die Richtung zu den Höhlen, die immer näher rückten. Die Mongolen geleiteten sie sicher bis zum Ufer des Muzir. Nun galt es den Fluss zu durchqueren, der zwar nicht sehr viel Wasser mit sich führte, doch erforderte er auβerordentliche Konzentration, da war keine Zeit für sinnloses Diskutieren. Endlich, am anderen Ufer angelangt, wurde ein Lager aufgeschlagen und ein Feuer entfacht. Nachdem sie sich mit Tee und einer kräftigen Nudelsuppe gestärkt hatten, machten Ali und der Doktor sich auf den Weg um die Grotten zu besichtigen.

„Und ihr glaubt alleine zu den Tempeln zu gehen?“, fragte Altan. Ali nickte.
„Wenn die Sonne über der Felswand im Westen steht, kommt ihr zurück, und zwar bevor es dunkel wird“, ermahnte sie Altan. Er saβ zufrieden mit seinem Freund und den Kamelen und den Pferden und trank Kemur. „Wir werden inzwischen ein Schläfchen abhalten, denn die Rückreise nach Kutscha, ist mindestens genauso anstrengend wie der Ritt hierher.“

„Unglaublich schön!“, staunte Ali. Zusammen mit dem Doktor kletterte sie von einer Höhle zur nächsten und bewunderte die Wandmalereien voller Buddhas auf Lotusblüten sitzend, schwerelos schwebend und einem Lächeln das in die Unendlichkeit zu blicken schien. Aber es gab auch Grotten, die das Leben an der Seidenstraβe schilderten, die Gefahren durch Räuber und Sandstürme waren an Wände gemalt. Händler der Seidenstraβe mit langen Nasen und Schlapphüten, runzlige indische Mönche in weißen Gewändern.
In anderen Höhlen waren Feste und die Bauern am Pflügen, Diener am chinesischen kaiserlichen Hof.

„Oh, Gnädigste! - Hier haben wir bereits den griechischen Einfluss, die Gandhara-Kunst aus Nordindien. Seht nur die flieβenden Falten der Gewänder von diesen traumhaft schönen Buddhas!“

Ein wenig müde hatten beide sich in einer Höhle hingesetzt und blickten hinauf zur Decke, wo zarte, engelgleiche Geschöpfe wie durch die Lüfte zu fliegen schienen. Tausende Buddhas leuchteten an den Wänden in Gold, mitgebracht von Karawanenhändler aus fernen Ländern und zum Schutz vor der Durchreise durch die tückische Taklamakan an die Mönche gespendet. Musikanten in Lapislazuli-Blauen Gewändern und vermittelten den Eindruck von Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
„Da oben das sind Apsaras.“ Der Doktor blickte in seinen Laptop und zeigte dann zur Decke.
„Apsaras?“
„Ja, Gnädigste. Wir erleben hier ein Kaleidoskop von vielen Jahrhunderten und die Begegnung von Ost und West!“

„Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen“, schlug Ali vor und erhob sich.
Der Doktor verstaute seinen Laptop im Rucksack und schnallte ihn sich auf den Rücken.

Plötzlich waren Ali und der Shrenk, von dunklen Gestalten umringt. Eh der Doktor es sich versah, hatte man ihn gefesselt und ihm einen Knebel in den Mund gesteckt. Auch Ali erging es nicht anders. Man zerrte sie hinaus, hievte sie auf wartende Pferde und verschnürte sie so fest.
Ali konnte es nicht fassen und blickte fragend zum Shrenk rüber. Sie zählte zehn Männer, alle waren sie in dunkle Mäntel gekleidet. Sie hatten schwarze Bärte, finster blickende Augen und Habichtsnasen.
 
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Das kann ja heiter werden, dachte Ali und verstand gar nichts mehr. Sie fragte sich das eine ums andere Mal, was die Männer wohl von ihnen wollten, während die hohe Felswand mit den Tausend Buddha Höhlen in der Ferne verschwand. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie ritten einem Ziel entgegen, das Ali und dem Doktor unbekannt war.

Keine Pausen gönnten sich die Männer und keine Rast. Seit Stunden ritten sie durch die Dunkelheit. Die Knebel hatte man Ali und dem Shrenk abgenommen, und kaum war dies geschehen musste Ali sich des Doktors Gejammer über ihre Lage anhören.

„Könnt ihr nicht endlich damit aufhören?“, rief Ali erbost. „Damit werden wir gar nichts ändern, nur meinen Schlaf nehmt ihr mir, das ist alles!“ Der Shrenk schloss die Augen und schwieg beleidigt. Endlich war Ruhe eingekehrt, bis auf das Rhythmische Aufschlagen der
Hufe, dass Ali und auch den Shrenk, in den Schlaf holte.


Es war Frühmorgens, als Ali erwachte. Fröstelnd blickte sie auf ein Meer von Sand, das sich endlos zum Horizont ausbreitete.
Die Sonne blendete bereits, warf fahlgelbes Licht auf die riesigen Sanddünen der Taklamakan, es war das unheimliche Bild eines versteinerten Ozeans. Es schien Ali, dass aus ihm die lautlosen Schreie der vielen Menschen von den verschollenen Karawanen drangen.
Sie rieb sich ihren schmerzenden Rücken, fühlte sich wie gerädert, durch den langen Ritt ohne Pause und hatte Durst.

Da endlich erreichten sie ein Zeltlager und hielten. Der Shrenk erwachte und blickte verwirrt um sich.

„Wo sind wir, Gnädigste?“
„In der Taklamakan, wo denn sonst?“


Sie durften absteigen und sich die Beine vertreten, Tee wurde gereicht und trockene Brotfladen.
Ali ging zum Anführer und blickte ihm fest in die Augen.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie ihn in Arabisch. Vergeblich, der Anführer schwieg und lieβ sie einfach stehen.
„Es kann sich nur um eine unglückliche Verwechslung handeln!“, rief sie ihm nach, aber wieder vergeblich. Achselzuckend und unverrichteter Dinge wandte sie sich dem Doktor zu.
Die Männer hatten inzwischen mit Hilfe des Trupps vom Lager, die Pferde ausgewechselt und gesattelt. Proviant wurde auf die neuen Pferde gepackt, sofort aufgesessen und weitergeritten.

„Ganz schön clever!“, rief der Shrenk. Auf diese Weise schaffen es unsere Mongolen nicht mehr uns einzuholen, denn ihre Pferde werden ermüden. Da steckt ein genau ausgeklügelter Plan dahinter…“
„Was für ein Plan könnte es sein?“
„Wenn ich das wüsste, Gnädigste. Wir scheinen jedenfalls eine wertvolle Fracht für diese finsteren Gestalten zu sein.“
„Wirklich? Hm. Also ihr glaubt, dass wir ganz bewusst entführt werden?“
„Ich nehme es an. In der Tat“, seufzte der Shrenk.
„Wo werden wir hingebracht, und warum?“
„Oh, Werteste, das ist eine gute Frage, denn seht einmal hinüber zum Gebirge.“

Ali blickte zu den Bergen, deren schneebedeckte Gipfel, durch die Sonne Rosagolden schimmerten und stieβ demonstrativ die Luft aus.

„Ihr seid wirklich unmöglich, Doktor! Anstatt sich zu fragen, wo wir hingebracht werden, soll ich die romantischen schneebedeckten Gipfel des Tien Shan Gebirges bewundern?“

„Ali! Versteht ihr nicht? Wo ist das Tian Shan Gebirge?“
„Na dort!“, zeigte Ali.
„Eben…“
„Was meint ihr?“
„Das Gebirge ist im Westen und rechterhand. Als wir von Kashgar nach Kutscha unterwegs waren, da war es links. Wir reiten zurück!“
„Zurück?“, fragte Ali entsetzt. Der Doktor nickte mit düsterer Miene. „Wir reiten zurück in Richtung Kashgar.“
 
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