Liebe Nica,
den Begriff vom Schatten kenne ich aus der Traumanalyse. Er stellt das andere Ich dar, also Wesenszüge, die man lieber verdrängt - an sich selbst vermisst oder nicht verstehen kann. In den Träumen werden diese Schatten deshalb häufig durch unterschiedliche Personen dargestellt.
Ich kenne die Kraft der Visionen und wäre deshalb mit einer solchen Suche nach Dämonen sehr vorsichtig, denn damit kann auch ein neuer Dämon in uns geboren werden. Etwas, das man leichter in der Seele verankern – als es wieder loswerden kann.
Du solltest dir auch darüber klarwerden, dass sich mit solchen Bildern die eigenen Wesenszüge verändern. Wer in seinen Visionen Dämonen erzeugt, wird in dieser Welt auch leben müssen.
Wie wäre es denn, wenn Du mit den guten Schattenseiten beginnen würdest – denn damit verlieren auch die dunklen ihre Kraft. Das Böse in uns können wir nur durch Gutes denken, Gutes reden und Gutes tun überwinden.
Merlin
(Zuerst einmal ein kurzes Dankeschön, ich lese deine Beiträge immer wieder gerne.)
Ich möchte nur auf den letzten Satz näher eingehen. Du schreibst:
[qutoe="DruideMerlin"]Das Böse in uns können wir nur durch Gutes denken, Gutes reden und Gutes tun überwinden.[/quote]
Das ist eine sehr, sehr interessante Aussage. Ich möchte das kurz kommentieren, dazu muss ich ein wenig ausholen. Einiges, was ich heir erzähle, ist vereinfacht dargestellt, ich habe hier keinen wissenschaftlichen Anspruch.
Es gibt nicht einfach
den Buddhismus, sondern es gibt mindestens drei verschiedene Buddhismen: die alten Schulen (davon hat nur die Therevada-Schule überlebt), sowie die beiden neueren Schulen des Mahayana, wovon wiederum der tibetische Buddhismus (Vajrayana) die jüngste ist. So wie die protestantische Kirche aus der katholischen hervorgegangen ist, und es wichtige Unterschiede gibt, so ist auch der Mahayana aus den alten Schulen hervorgegangen, und daraus wiederum der Vajrayana.
Alle Schulen haben sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie man nachhaltig den Geist trainieren kann, damit er weniger leidvolle Geisteszustände hervorbringt. Die alten buddhistischen Schulen glaubten, dass ein untrainierter und somit unerleuchteter Geist sozusagen recht zufällig (gemäss den karmischen Ablagerungen) positive, neutrale und negative Geisteszustände hervorbringt. Er reagiert einfach immer spontan auf äussere Erlebnisse. Eine zentrale Idee des meditativen Trainings im Therevada ist, dass negative Geisteszustände gezielt durch positive ersetzt werden. Wenn ich beispielsweise Gier verspüre, dann trainiere ich gezielt das Gegenteil von Gier, also Grosszügigkeit. Wenn ich Wut empfinde, dann trainiere ich gezielt das Gegenteil von Wut, also Gelassenheit. Auf dieser Basis funktionieren die Meditationen über
die vier "himmlischen Verweilszustände" (Brahma Viharas): metta (liebevolle Güte), karuna (Mitgefühl), muditta (Mitfreude) und upekkha (Gleichmut). Nach und nach beginnt mein Geist, weniger häufig negative und dafür öfters positive Geisteszustände zu produzieren. Das kann jeder nachvollziehen, der diese Schulung durchläuft. Man glaubte damals mehr oder weniger, dass die Menschen initial in einem unerleuchteten Zustand sind, und dann durch eine Schulung nach und nach, Schritt um Schritt in einen erleuchteten Zustand übergehen, bis vollständige Erleuchtung erlangt ist.
Vor tausenden von Jahren, als aus den älteren Schulen die jüngeren Schulen des Mahayana hervorgingen, gab es verschiedene philosophische Erklärungen, wie dieser Prozess im Geist genau abläuft bzw. warum der Geist eigentlich überhaupt negative Geisteszustände und -Momente hervorbringt. Entsprechend dieser Grundansichten war auch das meditative Training ausgerichtet. Der im Therevada vorgegebene Schulungsweg galt als lange und mühsam. Von den Vertretern der jüngeren Schulen wurde behauptet, dass Erleuchtung durch ein solches Training zwar erreicht werden konnte, dass man dafür aber viele Leben brauchen würde. Quasi als Kritik daran, wurde ein neues Modell des Geistes entwickelt. Nach diesem neuen Modell besitzt jedes fühlende Lebewesen schon von Anfang an erleuchtete Buddha-Natur, aber diese ist zu Beginn verschleiert. So wie Wolken die Sonne zeitweilig verdunkeln können, sie aber nicht grundsätzlich zerstören können, so glaubte man würden eben aus Karma geborene negative Geisteszustände die Buddha-Natur zeitweilig verschleiern, aber nicht grundsätzlich kaputt machen können. Die negativen Geisteszustände haben somit selbst keine metaphysisch reale Grundlage, sie sind nur temporäre Verschleierungen basierend auf einer täuschenden Sichtweise auf die Realität, wie sie tatsächlich ist.
Für einen Meditierenden bedeutet das eine enorme Erleichterung, weil er jetzt sich selbst zugestehen kann: Ich habe/bin in meinem Wesenskern Buddha-Natur - selbst dann, wenn temporär alles in Negativität versinkt. Das, wogegen ich ankämpfe, liegt sozusagen nicht im Kern meines Wesens, sondern nur an der Peripherie. Es wurde noch stärker als vorher darauf verwiesen, dass die wesentlichen Merkmale des Geistes nicht nur die drei Daseinsmerkmale seien (Nicht-Selbst, Vergänglichkeit und Leidhaftigkeit/"Unzufriedenstellendheit"), sondern v.a. Leerheit und Mitgefühl. Mitgefühl und damit stellvertretend letztlich alle vier Brahma Viharas wurden als spontaner Ausdruck von Buddha-Natur verstanden. Also nicht ausschliesslich als etwas, was erst durch lange Schulung erreicht werden musste, sondern quasi die Grundfähigkeit oder der Wesenskern jedes fühlenden Wesens. Wesentlich war für den Mahayana jetzt das Beseitigen der falschen Sichtweise. Würde diese erst einmal beseitigt, dann würde entsprechend die Buddha-Natur ganz von alleine die positiven Geisteszustände zum Vorschein bringen. So wie die Sonne spontan von sich selbst aus scheint, wenn erst einmal die dunkeln Wolken weggehen. Man braucht nicht die Sonne zum Scheinen zu bewegen, sie scheint von sich aus, ganz natürlich.
Im Vajrayana wurde diese Sichtweise dann noch einmal etwas modifiziert. Es wurde kritisiert, dass das Beseitigen der täuschenden Sichtweise noch immer relativ lange dauern konnte. Zwar glaubte man, dass auf die Weise des Mahayana das Geistestraining bedeutend schneller vonstatten gehen würde, aber noch immer mehrere Leben in Anspruch nehmen würde. Auf dieser Basis entstanden dann Trainingssysteme wie Mahamudra und Dzogchen, welche als "pfadlos" angesehen wurden. Die Erleuchtung, welche zuvor noch auf irgendeine Weise gesucht wurde, wird in diesen Systemen (aus der höchsten Sichtweise) als bereits jetzt spontan vollständig vorhanden interpretiert. Es gibt nichts mehr zu tun, nirgendwo, wo man hingehen oder hingelangen könnte. Alles und jedes ist ausnahmslos erleuchtet. Das einzige, was jetzt noch zu tun ist, ist, das anzuerkennen und sich danach auszurichten. Paradoxerweise treten aber bei ausnahmslos allen Meditierenden noch immer viele negative Geisteszustände auf, selbst wenn sie diese Sichtweise einnehmen. Ausserdem war auch im Vajrayana immer implizit klar, dass ein intensives Training nötig ist, auch wenn "es nichts zu tun gibt". Das mag paradox erscheinen, aber es geht hier letztlich um das Zusammenspiel zwischen einem metaphysischen Erklärungsgerüst, welches benutzt wird, und einem meditativen Schulungspfad. Also nicht zwingend um rigorose, logisch widerspruchsfreie Metaphysik wie in der westlichen Philosophie. Es wurde postuliert, dass in jedem einzelnen Geistesmoment ein Same sich auf zweierlei Arten entfaltet: entweder auf unerleuchtete oder auf erleuchtete Weise. Aus einem Geistesmoment kann entweder unerleuchtete Wut oder erleuchtete Gelassenheit werden. Oder unerleuchtete Gier oder erleuchtete Grosszügigkeit. Ein ziemlicher Kontrast also zu den alten buddhistischen Schulen!
Es wurde auch diskutiert, ob es nicht ausgerechnet das Machen des Unterschieds zwischen beiden Möglichkeiten sein könnte, welches einen unerleuchteten Geist von einem Erleuchteten unterscheiden würde. Aus diesem Grund gilt im Tantrismus in einem absoluten Sinne alles als (jenseits von unrein und) rein. Aus diesem Grunde wird dort rituell gegen sämtliche Vorschriften verstossen. Es wird Fleisch gegessen, Alkohol konsumiert und - zumindest dem Geiste nach - sexuelle Vereinigung zwischen Mann und (einer menstruierenden) Frau vorgenommen.
Wenn also DruideMerlin hier schreibst, das Böse könne man nur durch das Gute überwinden, dann entspricht das mehr oder weniger der Vorstellung der alten buddhistischen Schule. Die jüngsten buddhistischen Schulen würden das vermutlich anders formulieren, bzw. ein modifiziertes Weltbild postulieren. Und die
Chöd-Praxis, auf welcher eben die besagte Meditationstechnik basiert, gehört letztlich diesen jüngsten buddhistischen Schulen an.