Über Traumata und Gene
"Jeder auf diesem Planeten möchte glücklich sein. Aber ebenso verbreitet wie dieser Wunsch ist bei den meisten Menschen das Unvermögen, ihr Ziel, diesen Glückszustand, zu erreichen. (…
Können Sie mir sagen, was nach Ihrer Meinung und Ihrer Erfahrung die Ursache des Unglücks und des Leids in der Welt ist? (…
„Ist es das Böse?“ (…
„Das Böse“ ist ein großes Wort. Aber indem man es ausspricht, entfernt man sich von seinem Ursprung. Es ist als würde man sich selbst oder alles Gute in sich von der Natur des Bösen lossagen, in dem Glauben, dadurch könne man geheilt und geschützt werden. In Wirklichkeit ist es umgekehrt. Wenn Sie sich von der Quelle des Leids distanzieren, wenn Sie es als das Gegenteil dessen betrachten, was Sie sein wollen (…
, dann bringen Sie sich um die Chance, es zu ändern. Denn es lebt weiter in Ihnen fort, als Teil von Ihnen, der Ihre Entscheidungen beeindflusst. Aber weil Sie sich weigern, das zu erkennen, verharren Sie in naiver Ignoranz und werden weiterhin leiden. (…
Wenn etwas Sie verletzt und Sie das nicht voll und ganz als Teil Ihrer persönlichen Geschichte akzeptieren, entsteht eine Lücke in Ihrer Erinnerung; eine Lücke, die, wenn die Verletzung schlimm genug ist oder häufig wiederholt wird, von einem Dämon besetzt wird. Sie brauchen sich darunter nicht unbedingt ein altmodisches, scheussliches Monster vorzustellen, das auf Ihrem Rücken sitzt und Ihnen das Blut aussaugt. (…
Sie können (…
jede Metapher benutzen, die Ihnen gefällt. Es spielt keine Rolle, Was wichtig ist, ist der Prozess. Der interne psychsiche Prozess, der sich häufig über Generationen durch die Vererbung von Traumamustern fortsetzt, die vielleicht vor sehr langer Zeit bei einem Ihrer Vorfahren durch eine unerträgliche Verletzung entstanden ist.
Menschliche Gene sind wesentlich flexibler, als wir glauben. Sie nehmen wahr in demselben Masse, wie sie agieren. Wenn sich eine Verletzung erst einmal in den Genen niedergeschlagen hat, agieren diese anders und verzerren die Erinnerung. Dadurch bleibt sie unvollständig. Es entsteht eine Lücke in der Erinnerung, und der Dämon des Traumas nistet sich ein, unbemerkt von unserem Bewusstsein. (…
“
Manche Menschen lernen, ihre Tragödien in der Geschichte ihrer Familien „vor sich selbst und vor ihren Kindern zu verbergen. Sie spielen Verstecken mit den Dämonen, und raten Sie mal, was passiert. Meistens verlieren sie das Spiel, denn selbst wenn sie sich nicht erinnern, die Gene – diese unfehlbaren Gedächtnisbausteine – erinnern sich ganz genau, und der Schmerz bleibt, bis er geheilt wird.
Derselbe Mechanismus funktioniert auch bei kleineren Dingen. Sobald wir in diese Welt eintreten, fangen wir an, im Korb unseres Gedächtnisses individuelle Verletzungen zu sammeln. Wie sich dieser Prozess weiter fortsetzt, entspricht Darwins Vorstellungen vom Überleben des Stärkeren, aber er dehnt sich aus auf die psychische Ebene. Jedes Geschöpf versucht zu überleben. Das gilt auch für die Dämonen des Traumas. Sie müssen „essen“. Sie sind immer hungrig. Sie schaffen „Nahrung“ für sich, indem sie mehr Schmerz erzeugen. Wie kommt das Paradox zustande, dass Opfer von Misshandlungen selbst zu den schlimmsten Misshandlern werden? Das ist nicht logisch, aber für die Dämonen des Traumas ist es absolut „folgerichtig“, in Opfern von Misshandlungen zu wachsen und sich zu ernähren, indem sie den Schmerz wieder von neuem erzeugen. (…
Krankheiten sind das Mittel, mit deren Hilfe der Organismus versucht, das Trauma auf eigene Faust zu bekämpfen. Wie oft habe ich erlebt, dass Menschen in ganz bestimmten Lebenssituationen krank werden und nach Hilfe verlangen, Situationen, in denen der Dämon bei einem Menschen mit lückenhafter Erinnerung plötzlich aktiv wird. Deswegen treten viele Heilerfolge dann ein, wenn der Patient in der Lage ist, die Wurzel des Traumas auszumerzen. (…
Auszug aus "Samarkand", S. 61 - 65