Hat Jesus so gelebt und gehandelt, wie in der Bibel steht? Wer hat die Evangelien geschrieben: Augenzeugen Jesu oder Autoren, die Jesus nicht kannten? Ein Streit ist entbrannt zwischen Bibelwort-Gläubigen und Bibelkritikern. Die Berichte der Bibel scheinen von Legenden überwuchert. Man weiß wenig, fast nichts über Jesus.
Wort für Wort der berühmten Bergpredigt stamme von Jesus. Aufgeschrieben wurde sie von Matthäus, der einer der zwölf Jünger gewesen sein soll. Der Text der langen Predigt stehe authentisch im Evangelium, das nach diesem Apostel benannt ist. Und so habe es sich ereignet, glaubt Carsten Peter Thiede, 43, ein Papyrologe in Paderborn.
Ganz anders war es damals nach Ansicht von Gerd Lüdemann, 49, einem evangelischen Theologen der Universität Göttingen:
Die Bergpredigt hat nie stattgefunden. Der Verfasser des Matthäus-Evangeliums hat verstreute Worte Jesu aus schriftlichen Quellen zusammengestellt, ihm einige weitere in den Mund gelegt und sich eine Szene ausgedacht: "Als er aber das Volk sah, ging er auf den Berg . . ."
Laut Lüdemann war der Autor weder Jünger noch Apostel, er hieß auch nicht Matthäus, und Jesus hat er nie gesehen. Das Evangelium schrieb er erst etwa 60 Jahre nach dessen Tod.
So grundverschieden wie über die Bergpredigt denken der Paderborner Papyrologe und der Göttinger Theologe in nahezu jeder Hinsicht über die Evangelien und über Jesus.
Das gilt auch für das Wunder, mit dem Pfingsten als das Fest des Heiligen Geistes begründet wird. Laut Apostelgeschichte erschienen 120 Christen nach einem "Brausen vom Himmel her, Zungen wie von Feuer, die sich verteilten, auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab".
Für Thiede "ist das Gesamtgeschehen durchaus als historisch zu akzeptieren. Die Frage ist nicht, ob es geschah, sondern wie, warum und mit welchen Konsequenzen". Und er ist überzeugt, "daß es bis heute Christen gibt, die ähnliche Erfahrungen machen".
Für Lüdemann hingegen ist "allenfalls historisch, daß die Jünger in Ekstase geraten waren und eine Vision hatten". Und: "Daß der Geist über sie kam, werden sie geglaubt haben, aber sicher nicht, daß es der Heilige Geist der Dreifaltigkeit war. Den kannten sie damals so wenig, wie Jesus ihn gekannt hat."
Beide, der Bibelwort-Gläubige Thiede und der Bibelkritiker Lüdemann, sind davon überzeugt, daß die Wahrheit auf ihrer Seite ist, und mit missionarischem Eifer nutzen sie jede Chance, ihre Meinung in die Öffentlichkeit zu tragen.
Thiede will die Zeit um zwei Jahrhunderte zurückdrehen, etwa auf den Stand, bevor im Zeitalter der Aufklärung die Bibelkritik begann.
Bis dahin war fast unumstritten, daß alle 27 Teile des Neuen Testaments (4 Evangelien, 21 Briefe, Apostelgeschichte und Johannes-Offenbarung) von Aposteln oder deren engsten Mitarbeitern verfaßt wurden, also von Augenzeugen oder zumindest Zeitgenossen Jesu. Und verpönt, den Katholiken sogar verboten war jedweder Zweifel daran, daß Jesus so gelebt, gesprochen und gehandelt hat, wie es in der Bibel als dem "Wort Gottes" steht.
Nichts davon ist in den Büchern moderner Exegeten wie Lüdemann zu lesen. Deren Arbeit fußt auf der Gewißheit, daß kein einziges Stück des Neuen Testaments von einem Augenzeugen verfaßt ist und daß nur 7 der 21 Briefe von einem Apostel geschrieben wurden - von Paulus, der erst nach dem Tode Jesu zum Christen wurde.
In den anderen Texten, die viel später entstanden (der letzte Brief wurde erst etwa im Jahre 125, also knapp hundert Jahre nach der Kreuzigung verfaßt), ist nach Meinung dieser Theologen das wenige, was man über Jesus noch sicher oder wahrscheinlich weiß, von Legenden überwuchert.
Für all diejenigen, die erfahren wollen, wer Jesus war, ist das Neue Testament die einzige, aber eine denkbar schlechte Quelle: Es ist kein Geschichts-, sondern ein Glaubensbuch.
Wer sich ein Bild machen will von jener fernen Zeit und dem Land, in dem Jesus lebte, braucht die Bibel gar nicht erst aufzuschlagen. Nirgends wird geschildert, wie brutal die Römer als Besatzer in Palästina herrschten. Jahr für Jahr starben Hunderte Juden, verurteilt von den Römern, am Kreuz; aber den Autoren der Evangelien - neben Matthäus werden Markus, Lukas und Johannes genannt - geht es nur um jenes eine Kreuz, an dem Jesus hing.
Und der Statthalter Pontius Pilatus, der unfähiger und korrupter war als andere Römer in solchen Ämtern, kam nur deshalb in die Evangelien und ins Credo, weil er Jesus zum Tode verurteilt hatte.
Nur wegen eines Irrtums wird der römische Kaiser Augustus in der Weihnachtsgeschichte des Lukas-Evangeliums erwähnt, in der populärsten Passage der Bibel: Von ihm sei ein Gebot ausgegangen, "daß alle Welt sich schätzen ließe". Wahrscheinlich gab es eine solche Zählung gar nicht, und sicher ist, daß Josef und die schwangere Maria aus solchem Anlaß nicht von Nazareth nach Bethlehem hätten reisen müssen.
Im übrigen ist Augustus, der erste römische Kaiser, den vier Evangelisten keine Zeile wert. Der Großneffe und Adoptivsohn Cäsars, der schon zu Lebzeiten wie ein Gott verehrt und postum zum Gott erklärt wurde, hatte ein Reich übernommen, das von Nordafrika bis zum Kaspischen Meer reichte, und er erweiterte es noch.
Die Dichter Vergil und Horaz rühmten die Staatskunst des Augustus, der nach einem eigenen Wort Rom als Stadt der Ziegel übernahm und zu einer Stadt des Marmors machte. In den Provinzen herrschte er zwar meist mehr mit Geschick als mit Gewalt, aber Unruhen gab es oft und fast überall - auch bei den Germanen, die sich noch in Tierfelle hüllten und als Ober-Gott Wotan verehrten.
Germanen vom Stamm der Cherusker besiegten die Römer 9 n. Chr. im Teutoburger Wald. Die Juden waren weit aufsässiger als die Germanen, scheiterten aber 66 bis 70 n. Chr. im Krieg gegen die Römer.
Palästina war zur Zeit Jesu ein Pulverfaß, weil zwei Glaubenswelten aufeinandertrafen. Für die Römer war der Himmel voller Götter, die Juden hingegen glaubten an einen einzigen Gott, hielten sich für sein auserwähltes Volk, widersetzten sich dem römischen Kaiserkult und duldeten in ihrer heiligen Stadt Jerusalem nicht mal die Feldzeichen der Besatzer mit ihren Kaiserbildern.
Juden jener Zeit treten in den Evangelien nur als Gegner oder als Anhänger Jesu auf. Daß die meisten ihn gar nicht wahrnahmen, wird verschwiegen oder sogar vertuscht. Wenig ist in den Texten zu spüren von der Atmosphäre im Palästina jener Zeit, die erfüllt war von religiösem Eifer und Zwist.
Mehrere Gemeinschaften standen sich feindlich gegenüber. Die beiden bedeutendsten waren die Essener, die nirgends im Neuen Testament erwähnt werden, und die Pharisäer, deren Bild in den Evangelien polemisch verzerrt ist, weshalb man noch heute Heuchler als "Pharisäer" bezeichnet.
Hinzu kamen die Sadduzäer, die den Hohenpriester, den höchsten jüdischen Geistlichen, stellten und als Tempelaristokratie mit den Römern kooperierten. Daß es Zeloten gab, die Gewalt bejahten und sich gegen die Römer erhoben, erfährt der Bibelleser nur deshalb, weil einer von ihnen zum Jünger Jesu konvertierte.
Sogar über ihren eigenen Jesus schrieben die Evangelisten nur, was ihnen für den Glauben wichtig schien. Wann er geboren und gestorben ist, steht nicht in ihren Texten. Es ist auch aus keiner anderen Quelle zu erfahren. Von Jesus hat die Geschichte seinerzeit nicht Notiz genommen.
Zeitgenössische Historiker erwähnen ihn entweder gar nicht oder nur beiläufig. Der Jude Flavius Josephus etwa berichtet von der Steinigung eines gewissen Jakobus und weist darauf hin, es handele sich um einen "Bruder des Jesus, der Christus genannt wird". Der Römer Tacitus berichtet, daß Kaiser Nero eine Gruppe von "Christianern" verfolgt habe. Der Name dieser Anhänger eines "abscheulichen Aberglaubens" gehe zurück auf "Christus, den der Prokurator Pontius Pilatus zum Tode verurteilt hatte".
Alles Liebe. Gerrit