Mir scheint, hier herrscht ein ziemliches gedankliches Durcheinander, auch wenn ich den Verdacht habe, dass eigentlich alle mehr oder weniger dasselbe meinen.
Meine Aussage, dass die Frage nach dem Warum des Leidens keine Antwort im Verstand kennt, war eher folgendermassen gemeint:
Es gibt eine Kategorie von existentiellen Fragen, die den Menschen schon so lange beschäftigt, seit es ihn gibt. Die meisten davon sind eben genau Warum-Fragen bzw. Fragen nach dem Sinn und den Gründen: "Warum gibt es überhaupt etwas und nichts einfach nichts?", "Wozu lebe ich?", "Wer bin ich?", "Warum gibt es Leiden in der Welt?" usw.
Diese Fragen haben eine Gemeinsamkeit, nämlich dass die "Antwort" nicht direkt durch Worte vermittelbar ist. Ich kann nicht wie bei einer Mathematikaufgabe die Antwort ausrechnen und sie dann jemandem geben. Gerade in der Eso-Szene wird dann daraus der falsche Schluss gezogen, unser Verstand sei nicht befähigt, wenn es um die letzten und tiefsten Erkenntnisse gehe. Das ist so falsch wie richtig.
Zuerst einmal denke ich muss das "Verstehen mittels des Verstandes" klar gegen das abgegrenzt werden, was ich "intuitives Verstehen" nennen möchte.
Während das denkerische Verstehen (also mit dem Verstand) jeweils Dinge, Gründe und Zusammenhänge in der Aussenwelt begreifen, und dadurch integrieren, kann, ist das denkerische Verstehen völlig ungeeignet, wenn es um innere Vorgänge beim Menschen geht. Um innere Prozesse wirklich zu verstehen, benötigen wir einer Art "Innenschau" oder eines "intuitiven Verstehens". Beispielsweise erlaubt es uns diese Art Verständnis, dass wir eine Emotion wie "Wut" überhaupt als solche "korrekt wahrnehmen" können.
Aber schon das wird oft falsch verstanden! Die meisten Leute vermischen diese beiden Arten des Verstehens nach innen und des Verstehens nach aussen. Das Verstehen nach aussen erzeugt ein Begreifen, welches auf Kategorien von "wahr/falsch" beruht. Dies ist die typische Vorgehensweise ALLER (heutigen) Wissenschaften (inkl. Psychologie, Soziologie usw.!). In den Naturwissenschaften ist das ja auch einfach und verständlich. Man macht Experimente, die reproduzierbar sind und deren Resultate daher überprüft und allenfalls widerlegt werden können. Ausserdem kann man sich um die Vorgehensweise streiten.
Freud und Jung haben EBENFALLS eine Wissenschaft betrieben, welche das Verstehen mittels des Verstandes, also das Verstehen IM AUSSEN (und nicht im Innen!) als methodisches Vorgehen gewählt hat. Sie haben nämlich die Innenwelt des Menschen, also das, was eigentlich ausschliesslich mittels intuitivem Verstehen dem Menschen wirklich zugänglich ist, in gedankliche Modelle gefasst, also sie auf die Kategorien des Verstehens mittels Verstand abgebildet. Was die Psychologie heute betreibt ist damit also nicht wirklich ein intuitives Verstehen des Inneren, sondern ein Verstehen durch den Verstand von (geistigen) Abbildern des Inneren.
Das Problem ist natürlich genau der Schritt der Abbildung des inneren Prozesses auf ein äusserlich fassbares Modell. Dieser Schritt bedarf erstens des intuitiven Verständnisses des Innen, welches dann zweitens durch INTERPRETATION auf ein entsprechendes Abbild gebrochen wird. Dadurch können wir also zwar die NACH der Interpretation entstandenen Abbilder mit der Kategorie von wahr/falsch überprüfen (und werden entsprechend wenig aussagende Resultate erzielen), aber um die Ergebnisse unseres intuitiven Verstehens zu überprüfen - also die Ergebnisse des intuitiven Verständnisses - bedürfen wir einer andern Kategorie, nämlich die der WAHRHAFTIGKEIT. Wir können innere Vorgänge in andern Menschen nur dann mittels intuitiven Verstehens "überprüfen", wenn wir selbst dazu in der Lage sind, uns in die entsprechende Situation einzufühlen. Dann aber lässt sich die Wahrhaftigkeit durchaus feststellen.
Dann ist da noch das Problem der Sprache. Sie funktioniert nämlich NUR im Aussen, also nur über das Verstehen mittels Verstand. Das macht es umso schwieriger, über innere Prozesse zu kommunizieren, weil dann wiederum der Doppelschritt (erstens: Verstehen des in Sprache gekleideten Modells mittels des Verstandes, zweitens: Verstehen der Nachricht bezüglich eines inneren Prozesses selbst mittels intuitivem Verstehen) vonnöten ist.
So, das musste jetzt mal klargestellt werden.
Zurück zum Thema der Sinnfragen. Wie ich geschrieben habe, sind diese Fragen existentielle Fragen, das heisst, sie können nur aus dem Sein des Menschen zur Gänze verstanden werden. Das Sein des Menschen umfasst aber beide Arten von Verstehen: Verstehen mittels des Verstandes und intuitives Verstehen. Wird die eine Seite weggelassen, so kann ein Mensch niemals wirklich eine befriedigende Antwort auf eine Sinnfrage erkennen.
Aber eben: Was beispielsweise im Thread "Massenschicksale" getan wird, ist der Versuch eine Erklärung zu finden, welche alleine durch das Verständnis im Äusseren erklärend ist. Das geht einfach nicht. Eine Person, welche eine derartige Erklärung als einleuchtend vorgibt ist letztlich einfach nur nicht sensibel (oder ehrlich) genug um zuzugeben, dass eine Erklärung wie "Schuld aus früherem Leben" in keinster Weise für eine befriedigende Erklärung, ein zufriedenstellendes Verstehen im Menschen ausreicht. Ebensowenig wie der vor allem von Diana immer wieder vorgebrachte Verweis auf das "Suchen im Innern". Beides hat seine Berechtigung, doch beides ist nichts, ohne das jeweilige andere.
Weil in der heutigen Welt aber praktisch ausschliesslich Verstehen mittels des Verstandes praktiziert und gefordert wird, haben wir praktisch total vergessen, intuitives Verstehen ebenfalls zu praktizieren. Das war nicht immer so, es gibt und gab immer Gesellschaften, bei welchen beide Teile zu gleichen Massen ausgebildet wurden. Aber aus diesem Grunde ist es sozusagen schon fast richtig, wenn man den heutigen Menschen dazu aufruft, zuerstmal im Innern suchen zu gehen, ganz einfach darum, weil er so völlig einseitig in Äusserlichkeiten lebt, dass man gar nicht erst noch speziell eine Aufforderung geben muss, er solle im Aussen ebenfalls noch suchen gehen.