Gestern saß ich lange auf einer Bank in der Stadt und dachte über mein Leben nach. Meine Familie macht sich Sorgen um mich, weil ich jetzt als Nomade lebe, aber der Grund zur Sorge liegt auch in ihr selbst, nämlich die Angst, mich zu verlieren, nicht nach mir greifen zu können, mich nicht zu erreichen, mich nicht mehr einspannen und verpflichten zu können. Nach Jahren weinte ich das erste Mal am Telefon, weil ich meine Schwester um Verständnis bat, dass ich dieses Wochenende nicht hüten kann, bei aller Liebe für meine Nichte, aber ich hab Fristen einzuhalten bei behördlichen Angelegenheiten und mein Körper schreit vor Schmerz, weil ich so überfordert bin durch den Fristendruck. Ich brauche dieses Wochenende FÜR MICH. Sie hat dann endlich nachgegeben, weil ich sonst nie weine. Außerdem war ich so was von gereizt und überdreht im Stress, sodass sie einfach spürte, warum ich diese Zeit für die behördliche Arbeit brauche, auch zu ihrem Besten. Es geht ja nicht nur um mich dabei. Aber dass ich so für meine Freiheit kämpfen muss, mein Dasein so gar nicht als freiwilliges Geschenk von mir wahrgenommen wird, sondern als Verpflichtung, als wär ich die Mutter und nicht die Tante, zeigt einfach, wie stark ich vereinnahmt werde und wie schwer es mir fällt, den für mich nötigen Freiraum zu erhalten. Deshalb war es die richtige Entscheidung, mich für ein Nomadenleben zu entscheiden, weil ich dort den verlorenen Freiraum ausgleichen kann und für die Zukunft mehr Freiraum dazugewinnen werde. Nicht von ungefähr kämpft meine Familie gegen mein Nomadenleben an, weil ich mir nun das nehme, was mir zusteht, meinen eigenen Freiraum für ein eigenes Leben.
Mein Schmerztherapeut (ein Professor, der auch oft unterwegs ist aus beruflichen Gründen) findet mein Nomadenleben gut. Er sieht es im Gegensatz zu meiner Familie als Fortschritt, denn es macht mich gesund, ich kann mich trotz Schmerzen aufraffen, bewege mich, mache was, bin nicht bettlägerig. Ich setze mein Leben dort fort, wo ich es verloren habe in meiner Jugend, wo auch meine Schmerzkrankheit ausbrach. Nach unzähligen medizinischen Abklärungen weiß ich für mich, dass der damalige Abbruch meines mobilen Lebens die Schmerzkrankheit auslöste, weil ich damit meinen Freiraum verlor und von da an komplett vereinnahmt wurde vor der Familie.