Die Frage "Was will ich wirklich?", ebenso wie die Frage "Was ist Liebe?" (und streng genommen auch die Frage ("Was ist Gott?"), besitzen eine Hintergründigkeit, die dem Fragenden üblicherweise verborgen bleibt. Oft stelle ich mir in einem Gespräch die Frage: "Warum sprechen wir jetzt über genau diese Sache?" Ich gehe davon aus, dass ein Mensch jeweils einen Grund, eine Motivation hat, etwas zu tun oder über etwas zu sprechen. Die Menschen haben immer Gründe etwas zu tun oder zu unterlassen, aber oft ist es nicht einfach, diese Gründe auch nachzuvollziehen.
Nun hat einer, der die Frage nach seinem "wirklichen Wollen" stellt offenbar das Bedürfnis zu erfahren, welches denn sein wirkliches Wollen sei (sonst würde er nicht fragen). Das heisst aber eben auch: Im Moment des Fragens weiss er offenbar noch nicht oder nicht genau genug, was sein wirkliches Wollen ist. Wüsste er es ganz genau, dann würde er nicht fragen - (es sei denn, er hat andere Gründe, aus welchen er fragt, beispielsweise versucht er durch eine kluge Fragestellung in anderen Leuten etwas in Gang zu setzen).
Es muss daraus geschlossen werden, dass eine Art Entfremdung vom eigenen Willen stattgefunden hat, es ist jedenfalls eine Entfernung vorhanden. Dort ist der wirkliche Wille, hier bin ich - wie gehören die beiden nun zusammen? Wäre die Person unmittelbar eins mit ihrem wirklichen Wollen, so würde sich für sie die Frage gar nicht erst stellen, es wäre eine reichlich überflüssige und absurde Frage!
Darauf wollte ich hinaus: Alleine schon das Stellen der Frage impliziert Entfremdung, eine Entfremdung vom eigenen Wollen. Woher diese Entfremdung kommt, sei erstmal vernachlässigt, aber es gilt zu sehen, dass sie offenbar da ist und ihre Wirkung entfaltet. Ebenso für Liebe: Ein Mensch, der intuitiv weiss, dass er liebt, geliebt wird, der wird nicht die Frage aufwerfen, was denn Liebe nun sei. Er wird sie unmittelbar leben und nicht intellektuell darüber nachsinnen.
Folglich ist es auch klar, dass eine Antwort, die eine wirkliche Antwort sein soll, nicht darin bestehen kann, intellektuell wohlklingende Sätze zu liefern, sondern es geht darum, die bestehende Entfremdung aufzuheben, also den Menschen unmittelbar zum eigenen Wollen zurückzuführen. Dazu braucht er aber nicht in erster Linie Erklärungen, sondern die Einsicht und das Erleben der Identität mit dem eigenen Wollen. Also nicht "Ich habe einen Willen" sondern "Ich bin mein Wille". (Erich Fromm hat ein ganzes Buch der Frage nach Sein und Haben gewidmet.) Der Mensch hat nicht etwa einen Willen, sondern er ist sein Wille! Der Mensch tut in Wahrheit genau das, was er tatsächlich will - und zwar immer! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, etwas anderes zu tun als das, was ich tatsächlich will.
Ich kann mir einreden, ich würde "in Wahrheit" lieber etwas anderes wollen, und es aber nicht tun, weil ich etwa Angst habe, weil es gesellschaftlich mit Strafen sanktioniert sei, oder weil ich vielleicht sogar "krank" sei und entgegen meinem eigenen Willen handeln müsse. All diese Aussagen verschleiern die Wahrheit: Dass ich nämlich bereits eins mit meinem eigenen Willen bin, und es schon gar nicht erst werden kann.
Ein Drogenabhängiger, der sich ständig selbst vergiftet, will genau das: Drogen konsumieren. Er kann noch so viel die Schuld auf sich oder andere oder seine Kindheit schieben, das ändert nichts daran, dass es in Wahrheit sein Wille ist, Drogen zu konsumieren.
Ein Mensch, der sich ständig dem Chef unterordnet und bei der Freundin über den schlechten Job beklagt, aber nichts unternimmt, um die Missstände zu ändern, will in Wahrheit genau den Job, den er hat, mit genau diesem Chef, den er hat. Er mag sich noch so sehr einbilden, er würde "in Wahrheit" etwas besseres verdient haben und einen anderen Job wollen - so lange er nicht in der Realität tatsächlich etwas unternimmt, das zur Veränderung beitragen könnte, so lange will er tatsächlich auch nichts anderes als genau das, was er hat.
Ein Mensch, der sich über seine Partnerin ärgert und heimlich tausend anderen Frauen nachtrauert, die er in seinem Leben nicht gehabt hat, will in Wahrheit nichts anderes als dies: Den anderen Frauen nachtrauern. Seine Phantasie liefert ihm so viel Befriedigung und Genugtuung, dass er sie bei weitem dem Risiko vorzieht, das es mit sich bringt, die Realität tatkräftig zu ändern.
Der Mensch ist bereits sein Wollen, und was er tut, ist immer das, was er will. Nicht das, was er sich vorstellt zu wollen, sondern das, was er wirklich will.
Ich gebe zu - diese Einsicht ist nichts für schwache Gemüter. Es gibt Situationen, da steht unglaublich viel auf dem Spiel. Ein Jude in einem Konzentrationslager hat nicht viel Wahl: Er kann sich der Situation unterordnen und überleben oder etwas tun und dafür brutalste, hinterhältigste Strafen oder sogar den Tod riskieren. Aber auch hier gilt alles, was ich vorher gesagt habe. Ich verstehe jeden, der es unter solchen Umständen vorzieht, sich unterzuordnen in der Hoffnung, vielleicht lebend noch rauszukommen. Ich würde höchstwahrscheinlich nicht anders handeln als genau auf diese Weise. Das hat absolut nichts mit Feigheit zu tun! Aber es gilt, präzise hinzuschauen und nichts zu verschleiern. Denn auch hier ist letztlich klar, wo das wirkliche Wollen (unter den gegebenen Umständen) ist. Das kurzfristige Überleben hat Priorität und dominiert jedes andere Wollen. Somit ist der wirkliche Wille auch hier nicht irgendein heroischer, glorioser Kampf gegen die eigene Gefangenschaft (sowas kommt i.a. in Hollywood-Filmen vor), sondern ein stilles Akzeptieren des Gegebenen. Und das hat nun wirklich gar nichts an sich, das einer Kritik würdig wäre. Unter so schlimmen, schwierigen und menschenunwürdigen Umständen nur nicht schon einfach zu verzweifeln ist bereits eine grosse Leistung. Noch mehr von Menschen zu fordern wäre völlig daneben.
Was will ich? Ich will das, was ich tue. Um herauszufinden, wo mein Wollen liegt, muss ich also nicht in mich hineinhorchen und dort irgendwelche netten Phantasien hegen, sondern ganz einfach hinschauen, was ich tue.
Diese Vorstellung gefällt vielen Menschen ganz und gar nicht. Warum? Weil es sie völlig entlarvt, weil es gnadenlos ehrlich ist und jede Selbstlüge im Nu aufdeckt. Ein Mensch, der behauptet, etwas anderes zu wollen, als was er tut, belügt sich am Ende immer nur selbst. Er ist der von sich selbst entfremdete Mensch, der sich dann eben vor die Frage gestellt sieht, was eigentlich sein Wollen sei, und wie er wirklich wissen könne, ob er wolle, was er denke, das er wolle und so weiter und so fort. Wenn man sich einmal auf die intellektuellen Schleifen eingelassen hat, kommt man da nicht mehr raus. Es gilt daher, mit einem einzigen Schnitt all die falschen Gedanken abzuschneiden und einfach mal bloss hinzuschauen: Was tue ich wirklich? Das ist es, was ich in Wahrheit will. Und nichts anderes.