Mich selbst immer besser zu finden und ich selbst zu sein.
Ich will dir nicht vorenthalten, dass der Prozess schwierig sein kann. Auf der anderen Seite: Was hat man denn eigentlich zu verlieren? Doch nur das eigene Selbstbild. Meditation hat auch mit Wertschätzung für sich selbst zu tun. Indem man meditiert, gibt man zu, dass man gerne mit sich im Reinen sein möchte, dass man etwas für sich selbst tun möchte. Dieser Wunsch alleine kann sehr heilsam sein, wenn er auf die eine oder andere Weise - es muss ja nicht unbedingt Meditation sein - zum Ausdruck gebracht werden kann.
Vipassana geht auf die buddhistischen Lehren zurück. Ein Kernstück dieser Lehren ist die Einsicht in die drei Daseinsmerkmale:
- Dukkha: Das Leben ist schmerzhaft, leidvoll, unbefriedigend. Glückliche Momente zerrinnen, unglückliche Momente sind sowieso leidvoll. Auch wenn man hier nicht unbedingt von "Leiden" sprechen muss, so kann es durchaus hilfreich sein, sich vor Augen zu halten, dass man irgendwann stirbt und damit alles verliert. Das ist also eine schwierige Situation, in der wir uns befinden.
- Anicca: Alles ist vergänglich. So sehr wir auch versuchen, Dinge festzuhalten (Menschen, Momente, Fotos, Erinnerungen, Geld usw.), so wenig haben wir letztlich Kontrolle über diese Dinge. Sie kommen, sie gehen. Und irgendwann vergeht unser Leben.
- Anatta: Wenn wir ernsthaft versuchen, uns selbst zu finden, so stossen wir auf ein Paradoxon. Wir finden dann zwar eine ganze Menge "Selbste" und "Ichs", beispielsweise ein "Vater-Ich" und ein "Angstellten-Ich", ein "Liebhaber-Ich" und ein "Fussballfan-Ich" und noch viele Ichs mehr, aber unter all diesen Ichs fehlt irgendwie ein einendes Prinzip. Im einen Moment identifizieren wir uns mit dem einen Ich, im anderen Moment mit einem anderen.
Vipassana-Praxis öffnet nach und nach die Augen für diese drei Wahrheiten. Und zwar auf einer weitaus tieferen, nachhaltigeren Ebene als der blossen intellektuellen. Bei korrekter Praxis wird das Verständnis für diese drei Wahrheiten oder Daseinsmerkmale immer tiefer. Und dann ist es möglich, dass eines Tages eine existentiell tiefe Krise eintritt, welche alles, die gesamte Existenz, in Frage stellt. Es wird einem mit absolut unmissverständlicher Deutlichkeit klar, dass diese drei Daseinsmerkmale wirklich so sind, wie geschildert. (In dieser Krise ist es äusserst empfehlenswert, Hilfe von aussen durch erfahrene Lehrpersonen zu haben.) Wer dieser Krise mutig ins Auge blickt und sich nicht durch sie entmutigen lässt, bei dem kann Loslassen stattfinden. Loslassen aller eigenen überheblichen Ziele, unrealistischer Wünsche, falscher Selbstbildnisse, unechter Masken. Wer diese Krise meistert, für den fühlt es sich an, als wäre er aus einem Traum erwacht, in welchem er sich davor unwissentlich befand. Deshalb spricht man oft von "Erwachen". Diese tiefe Einsicht in die eigene Existenz führt automatisch dazu, dass die Gelassenheit dem Leben gegenüber sprunghaft zunimmt.
Vipassana hat zum Ziel, einen an diesen Punkt und dann darüber hinaus zu führen.