Satirischer Fortsetzungsroman

11


Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.
Lutz dachte über diesen Satz nach, während er Gino und Obermaier die lange, links liegende Theke und den rechts gedrängten und besetzten Zweiernischen entlang folgte, schließlich abrupt stoppen und sich in den Spalt zwischen der überragenden Tischkante und vorspringenden Sitzfläche einfädeln durfte.
Obermaier schien die gleichen Worte zu benutzen und doch verstand er ihn nicht. Lutz hatte versucht, seine Gesellschaft während des Abendessens zu vermeiden, wollte aber nicht richtig deutlich und beleidigend werden und hatte sich mit Andeutungen, Ausreden und vorgeschobenen Hinderungsgründen beholfen.
Obermaier hatte seinerseits allem verniedlichende Argumente entgegenzusetzen gehabt, machte Konzessionen und Zugeständnisse, weigerte sich schlichtweg die verschlüsselte Botschaft hinter den vordergründigen Aussagen Lutz´ zu verstehen, die einfach, klar und unmissverständlich lautete: Verpiss´ dich.
Obermaiers Immunität gegen die freundlich vorgetragenen Abwehrformulierungen löste in Lutz eine von ihm normalerweise nicht empfundene Heftigkeit aus und er ahnte etwas von den Antriebskräften eines Killers, aber noch filterten die Schichten des Grosshirns solch pure Territorialansprüche des Kleinhirns und deshalb sass Obermaier gegenüber und lag nicht verblutend auf den Fluren der Polizeidirektion.
Gino hatte seinen Akzent über die achtzehn Jahre Deutschland hinweg gerettet, aber begierig die Redensarten seiner zeitweiligen Heimat aufgesogen. Der Verständlichkeit zuliebe lassen wir diese italienische Färbung weg (Wer Sie haben will, muss sie sich vorstellen: Isch ´abe gaaar kein Auto) und protokollieren in reinen, modernisiertem Deutsch.
Gino entfaltete die typisch weitläufige südländische Hektik, laut aber dynamisch, die durch ihren Charme besticht und von denselben Leuten ohne Hast freundlich aufgenommen wird, die draussen auf der Strasse gerade noch für einen Vorteil von zwei Sekunden durch waghalsige Überholmanöver mit der Gesundheit anderer ohne nachzudenken gespielt hatten.
»Ich habe eine neue Pizza, die Pizza ist rund, kann ich nur empfehlen. Oder einen Campari Soda, nach dem Essen ist vor dem Essen. Darf´s etwas mehr sein? Ein Essen dauert drei Gänge.Womit darf ich den Tisch zustellen?«
Lutz blockte den absehbaren Strom und bestellte einen grossen Salat, Obermaier führte seinen Anbiederungsfeldzug fort und schloss sich an.
Gino quittierte die voreilige und überhastete Bestellung mit einem mitleidigen Lächeln, dachte an die Lebensart der Bullen in seiner Heimat und: »Der Star ist der Salat.«
Falls Ihnen diese Sätze irgendwie bekannt vorkommen sollten, liegen Sie vollkommen richtig. Gino benutzte für seine eigenen, gastronomischen Zwecke abgewandelte Perlen der Fussballbundestrainer von Herberger bis Vogts. Falls Sie so ein Verhalten für verabscheuungswürdig halten, lassen sie den folgenden Satz in ihren Neuronen zergehen: »Der Ball ist rund.« Haben Sie es gespürt, dieses Schwingen dieser tief in Ihrem Inneren gespannten Saite, diese Resonanz, wie sie nur ursprüngliche und gewaltige Erkenntnisse auslösen.
Sie halten das für albern? Dann hören Sie sich das nächste Mal mal selber zu, wenn Sie über Fussball reden und Sie werden verstehen, was Qualität ist.
Gino hatte es verstanden oder gefühlt, er war ein Fussballfan, besser gesagt: Er hatte sich in Fussball versetzt, wurde zum Ball, atmete Fussball und begegnete ihm ständig und überall.
Folgerichtig wies sein Lokal keine fussballfreie Zone auf, weder Wände noch Decke noch Einrichtung, der grundlegende Bezug drang überall durch.
Gino kannte alle Fakten über die Nationalmannschaft, konnte selbst sofort nach dem Aufwachen Fragen wie: Wer schoss 1923 in der erste Minute das Tor und gegen wen?. Leider bezog sich dieses Wissen nur auf die italienische Mannschaft, weshalb wir auf die Auflösung dieser Frage verzichten (Wer sie weiss, schreibe an den Autor, niemand wäre mehr überrascht, auf eine erfundene Frage eine reale Antwort zu er-halten.). Wir waren bei dem profunden Wissen und seiner Einschränkung auf die italienische Nationalmannschaft, womit dieses Wissen in Deutschland nur selten oder gar nicht gefragt war und das nennt man Kulturschock. Gino hatte ihn überwunden, indem er die grossen deutschen Trainer studiert hatte, für weitergehenden Wissens- ließ ihm der Broterwerb keine Zeit.
Und wie viele dieser auf ein Ziel fixierten Spezialisten hatte er einen Schuss in den wesentlichen Dingen, seine Verehrung für einen konkreten Club äusserte sich mitten in Sachsenhausen am Offenbacher FC.
Falls Ihnen der Gag entgangen sein sollte, leben Sie nicht im Rhein-Main-Gebiet. Für diese bedauernswerten Menschen in aller Offenheit: Diese lebendige Region mit ihrem pulsierenden Leben und den landschaftlichen Schönheiten.... Moment? Haben die vom Fremdenverkehrsverband alle Raten bezahlt? Nein! Weg mit der Werbescheisse und zurück zur Sachlichkeit.
Es gibt Städte und Orte in Rhein - Main und Offenbach. Ravensburg und Weingarten wollte ihre Feindschaft mit einer Mauer krönen, West- und Ostberlin haben das gemacht und zwischen Frankfurt und Offenbach läuft eine unsichtbare, aber umso wirksamere Trennlinie, wer sie überschreitet, wird niemals mehr derselbe sein. Das geht soweit, dass die Anrede »Sie Offenbächer« selbst in Offenbach als Beleidigung aufgefasst wird. Ein OF auf einem Nummerschild löst die grässlichsten Katastrophen aus, nicht umsonst ist das Wetteramt in Offenbach. (Bevor Sie jetzt den Autor unter die Rassisten einordnen, will ich Ihnen ganz im Vertrauen ein Geständnis machen: Offenbacher sind auch Menschen, zumindest sehen sie ihnen ähnlich.)
Die Steigerung dieser Summe von Peinlichkeiten ist der Offenbacher FC.
Diese Heimat des Bundesligaskandals kickt heute in einer dieser Ligen, deren Bezeichnung selbst dem eingefleischtesten Fan immer wieder entfällt, aber man kann ja Gino fragen. Offenbach steigt seit Jahren auf und verwechselt am Saisonende immer die Richtung, abwärts statt aufwärts.
Fügt man diese Fakten zusammen, so entwickelt sich vor einem das ärmliche, abgegriffene Panorama der Verliererseite, deshalb zog Ginos Lokal auch die passenden Leute an, Lutz kam gerne hier her.
Der Salat wurde serviert und schmeckte, ganz im Gegensatz zu den obigen Ausführungen, hervorragend.
Über dem knirschenden Geräusch der zusammenbrechen-den Zelluloseverbände in den Salatblättern (Zellulose ist ein wesentlicher Grundstoff zur Herstellung von Zellwolle und hat genau so viel Nährwert wie Papiertaschentücher. Kühe sind nicht umsonst unentwegt fressende Wiederkäuer, sie verwerten die spärlichen Nährstoffe restlos. Menschen können das nicht. Trotzdem empfiehlt die medizinische Fraktion Salat als gesund. Wer da wohl von wem bezahlt wird?) entspann sich eine munter schleppende Unterhaltung.
»Du zahlst heute, nicht wahr?« klopfte Lutz in richtigen Moment an.
Obermaier beeilte sich mit der Gabel stopfend die noch im Freien befindliche Fläche eines Salatblattes unterzubringen, dann wischte er mit der schon aufgeweichten, aber jetzt sicher gut gewürzten Serviette die an Oberlippe und Kinn verbliebene Salatsauce ab, während er mir der Zunge die Fülle in die Backentasche faltete, bevor er patenmässig nuschelnd antwortet: »Du bist dran.« Die Salatfüllung verrutschte und unterband weitere Argumente, so dass Lutz, der sich den Mund freigehalten hatte, seine Gabel schwebte immer noch mit ihrer Beladung auf halbem Wege, abwehren konnte: »Aber nur Kaffee aus dem Automaten. Das letzte Essen hab´ ich ausgegeben.«
Obermaiers Mahlzähne hatten das Blatt in schluckbare Fasern (Erinnern Sie sich noch: Papiertaschentücher) zerlegt, damit war der Weg zur heftigen Erwiderung frei: »Das war ein Hamburger im Stehen. Den letzten Besuch beim Italiener hab´ ich bezahlt. Also?«
Lutz hatte eigentlich die kleinen, handlichen Käsestückchen aufpicken wollen, sie hätten nicht behindert, aber das Blatt auf der Gabel hatte sich der Abstreifung widersetzt und so hatte er zum Mund geführt. Er mahlte immer noch daran, als ihn die sophistische Beweisführung Obermaiers erreichte. Der fragende Tonfall am Ende der Ausführungen ließ, wollte er nicht unwiederbringliche Verluste erleiden, keine Verzögerung der Antwort zu, Schweigen könnte als Zustimmung gedeutet werden. Also versuchte Lutz seiner Entgegnung mit der Zunge einen Weg zu bahnen: »Essen (Vorstoss der Zunge bis zu den Lippen) ist (erneuter Vorstoss, diesesmal sogar mit einer Beseitigung eines Blattrestes verbunden) Essen.« Teile des Blattes fanden sich vor Lutz auf der Tischdecke wieder, er hatte das zweite Essen zu nachdrücklich betont.
Obermaier zerdrückte eines dieser kleinen und handlichen Käsestückchen mit der Zunge an der Innenseite an der Wange und konterte ungehindert: »Du bist blank. Stimmt´s?«
Lutz dachte an die, dank der beiden schweigsamen Spender, inzwischen auf zehn angewachsene Zahl der Scheine in seiner Tasche und unterdrückte gerade noch ein triumphierendes Lächeln, bevor er, scheinbar geknickt, zugab: »Du hast´s erfasst.«
Obermaier genoss den Erfolg und beging den Fehler, seinen Sieg auf sich wirken zu lassen, in der aufsteigenden Euphorie hörte er sich sagen: »Ich mach´ das.« und an Lutz Reaktion erkannte er sofort, dass Verhandlungen über eine totale oder auch nur teilweise Rücknahme dieser Zusage nutz-, sinn- und aussichtslos sein würden. Lutz würde auf die Prinzipien verweisen, die den richtigen Mann und Beamten ausmachen und damit einen gesichtsverlustfreien Rückzug vollständig versperren.
Lutz hatte die Folgereaktionen seines Gegenübers aufmerksam studiert und in allen Schritten nachvollzogen, er kam gleichzeitig mit Obermaiers Schluss, er habe verloren, zu seinem, also Lutz´ Schluss, er habe gewonnen und gab seinen Gefühlen kurz, aber prägnant Ausdruck: »Danke für die Einladung.«
Die restlichen Teile aus den Schüsseln vor ihnen verzehrten sie schweigend, Obermaier, weil er keinen Fehler mehr machen wollte, Lutz, weil er Hunger hatte.
Kurz bevor sie Gino verließen, kam ein Schwarzer, die Haare, nicht die Hautfarbe, mit dunklem Teint an der Nische vorbei und legte ein rotes Blatt auf den Tisch. Lutz sah ihm nach, wie er in den rauchigen Tiefen des Lokals verschwand und wunderte sich, dass der Mann keine weiteren Blätter mehr auf die folgenden Tische legte: »Scheint nur für uns zu sein?.«
Obermaier las und schob es zu Lutz: »Schon wieder für dich, ich versteh´s nicht.«
Lutz las die schwarzen, scheinbar tropfenden Frankensteinlettern:
Versetz´ dich in ihn, werde er, atme wie er, bewege dich wie er, sprich wie er, denke wie er und ihr werdet zusammentreffen. Du darfst jetzt gehen.
Mehr, aber auch nicht weniger stand dort, Lutz faltete das Blatt und steckte es in die Tasche, zu dem anderen Papier und sagte nur: »War wirklich für mich.«
Dann folgten sie der letzten Anweisung.
 
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12


Der Alte sprach zu Lutz: Zieh weg aus deinem Geist, von deinen Gefühlen und aus deiner Haut in den Killer, auf den Weg, den ich dir zeigen werde.
Das Flugblatt mit der aussergewöhnlich niedrigen Auflage in Lutz´ Tasche brannte im übertragenen Sinne den ganzen Rückweg zu seinem Büro auf seiner Haut, ätzte die aufgedruckte Botschaft durch das Papier auf seine Oberfläche und machte sich dringend.
Obermaier fuhr, sie hatten als Ersatz ein Fahrzeug der Hausverwaltung zugeteilt bekommen, dessen Zustand so schlecht war, dass ihm, trotz des hohen Alters, von den zu-ständigen Museen die Ehre eine Gnadenbrotes verweigert wurde. Die Marke war Lutz unbekannt. Und da er seit seiner Jugend alle Fabrikate auswendig hersagen konnte, musste dieser Hersteller bereits vor seiner Zeit verblichen sein.
Ursprünglich sollte an dieser Stelle ein ungefähr vierhundert Seiten starker und vollständiger Abriss der Geschichte unbekannter Autohersteller folgen, der vorwiegend aus Tabellen und dem Leidensweg der einzelnen Fahrzeuge bestehen sollte. Die schlagkräftigen Argumente des Schreibtischnachbarn der freundlichen Lektorin sowie eine Zahnarztrechnung, die höher als der Vorschuss für dieses Buch ist, führten schließlich zu der fundierten Auffassung, dass die Veröffentlichung dieses Kapitels einer späteren Generation vorbehalten bleiben sollte. Unsere Epoche ist noch nicht reif dafür. Leider werden die Leser so auch nie die Historie des von Obermaier und Lutz bewegten Wagens erfahren und so auch nicht in der Lage sein, die richtigen Folgerungen über die Auswirkungen auf die seelische Verfassung der Insassen zu ziehen, es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass der Wagen in der dunklen Zeit unserer Geschichte auf den Obersalzberg zugel..., neee¬eiiiin! nicht schlagen, ich hör´ ja schon auf.
Wir sind wieder zurück und stellen fest, dass der Wagen fuhr und in Zeiten heftiger öffentlicher Sparsamkeit (Sie müssten das doch an den ständig sinkenden Steuern gemerkt haben, unser Staat spart unentwegt. Ach nein? Sie haben auch das Gegenteil festgestellt.) mussten seine Beamten sich mit dem bescheiden, was ihnen zugeteilt wurde, der Wagen, der Kollege...
Obermaier parkte quer zum Bürgersteig in einer nicht existierenden Parklücke, ein weiterer Vorteil der bereits in der Vergangenheit produzierten Technik. Schon Kleinschnittger..., Bitte? ach das dient nur zur Bildung des Lesers..., Nein, das hat keine verdammte Ähnlichkeit mit dem abgelehnten Manuskript... Gut, auf Ihre Verantwortung.
Obermaier parkte quer zum Bürgersteig in einer nicht existierenden Parklücke, ein weiterer Vorteil der bereits in der Vergangenheit produzierten Technik. (Mehr lässt die mich umgebende, gegen sämtliche Menschen- und Grundrechte verstossende Zensur nicht zu, wenn ich möchte, dass das Buch gedruckt werden soll. Falls Sie anderer Meinung sein sollten, kaufen Sie einfach noch zehn Exemplare dieses Buches!)
Nachdem Obermaier also jetzt zweimal geparkt hat, das erste Mal wurden sie von einem uniformierten Kollegen vertrieben, stiegen sie aus und zu ihrem Büro im dritten Stock hoch, die Aufzüge wehrten sich gegen Benutzung mit dem Einwand: Feierabend, Ladenschluss. Für unsere ausländischen Leser, Ladenschluss verkörpert typisch deutsches und heftig gepflegtes Brauchtum und ist die Rache der Beschäftigten des Einzelhandels an den Kunden dafür, dass sie, also die Beschäftigten, anwesend sein müssen, um an das Geld der Kunden zu kommen. Die Politik hat das Unzeitgemässe daran klar erkannt, schließlich zeichnet sie sich ja durch grosse Bürgernähe aus und hat immer eine Hand in der Tasche ihrer Bürger, und nach langen Jahren der Diskussion und Meinungsbildung epochal reagiert und die Öffnungszeiten um eineinhalb Stunden verlängert. Sehe ich Erstaunen über diese mutige Entscheidung bei den fremdländischen Lesern? Ja, dieses Deutschland ist reformfähig und flexibel, glauben Sie die Horrorstories Ihrer einheimischen Presse nicht, die behauptet, die Germans seien fett und träge geworden, wir treiben Sport bis in´s hohe Alter und halten uns schlank und träge.
Inzwischen haben die beiden Helden unserer Geschichte, die sich nicht durch die kleinen Unzulänglichkeiten der sie umgebenden Gesellschaft in ihrer unentwegten Pflichterfüllung beeinträchtigen lassen, den dritten Stock erreicht und fallen, schwer atmend Obermaier, mit leicht erhöhtem Puls Lutz, auf ihre Drehstühle, ohne Lehnen, die Sparsamkeit, klar?
In das keuchende Japsen fragt Lutz: »Wo sind die Schwarzen?«
»Welche.. japs .. Schwarzen .. ?«
»Na, die Gegengesellschaft.«
»Liegt .. japs .. hier .. japs .. rum ..!«
»Wo.«
»Auf .. deinem .. Tisch. Bist du blind?«
»Nein. Wollte nur sehen, wie schnell du dich erholst. Mein Lieber, du bist miserabel in Form.«
»Lieber vorübergehend schlapp als immer neben der Spur.«
»Du kannst mich nicht beleidigen.«
»Schade.«
Lutz schlug den Ordner auf seinem Tisch auf und wühlte sich durch die chaotisch abgelegten Papiere. Die Adresse der Schwarzen lag als vorletztes Blatt im Ordner, Lutz kannte diese übliche Tücke ordnender Organisationsunterstützungsmittel und hatte hinten angefangen zu suchen, deshalb lag das gesuchte Blatt als zweites von vorn. »Gefunden!« triumphierte er.
»Fein.« kommentierte Obermaier und legte die Füsse auf seinen Schreibtisch. »Und was fangen wir damit an.«
»Besuchen.«
»Wann?«
»Jetzt!«
»Wozu?«
»Damit die sich nicht vernachlässigt fühlen.«
»Und wer?«
»Wir beide, wer sonst.«
»Und weshalb lässt du mich die Treppen erst hochsteigen, wenn du gleich wieder runter willst.«
»Höre ich da Anklänge von Unmut?«
»Sicher.« Obermaier streckte seine Beine bequem auf der Tischplatte.
»Wird das eine Meuterei oder eine Krankmeldung?«
»Weder noch, ich stelle nur deine Führungsqualitäten in Frage.«
»Wenn´s weiter nichts ist.«
»Du machst dir da gar nix draus?«
»Muss ich?«
»Nein.«
»Na also. Und jetzt komm.« Lutz stand auf, ging zur Tür und machte das Licht aus. Die Notbeleuchtung dämmerte durch die Öffnung.
Obermaier stellte resigniert beide Füsse auf den Boden. »Du machst dir wirklich nichts daraus?«
»Nein.«
»Hast du schon mal dran gedacht, in eine Selbsthilfegruppe einzutreten oder so?«
Lutz antwortete nicht, er war mit der tastenden Suche nach dem Ausgang genug beschäftigt.
 
13 (Stilecht geschrieben am Freitag, den 13.)


Von der Mitte zog Lutz in das Ostend hinauf.
»Bist du sicher, dass wir hier in der richtigen Gegend sind?« fragte Lutz und spähte misstrauisch durch die Windschutzscheibe in die spärlich erleuchtete Strasse.
»Sicher. Ich bin in diesem Stadtteil geboren.«
»Das erklärt vieles.«
»Spott?«
»Nenne es abwertende Bemerkung, trifft den Sinn eher.«
Obermaier stoppte abrupt den Wagen.
»Sind wir heute empfindlich?« fragte Lutz.
»Nein, wir sind da.«

»Diese Gesellschaft der Förderer der umfänglichen Markierung des Äquatorialkreises, Schwarze Sektion scheint nicht so feudal zu logieren wie ihre weissen Verwandten.« sagte Lutz und stieß sich zum wiederholten Male das Schienbein an einem herumliegenden Wrackteil. Der Vorgarten der gesuchten Adresse erhielt ausschließlich Licht von einer weitentfernten Strassenlaterne, deren Wattstärke während der letzten Sparaktion des grünen Kämmeres und Umweltdezernenten in Personalunion mit dem Argument: a) spart Geld und b)wenn ich das mit allen Laternen in dieser Stadt mache, ist das AKW Biblis A überflüssig und kann endgültig abgeschaltet werden, halbiert worden war. »Wieso vergisst du auch die Taschenlampe?«
»Ich habe sie nicht vergessen. Die Batterien waren leer, weil du vergessen hast, sie auszuschalten.«
»Wiederaufladbare Akkus wären eh ökologischer.« maulte Lutz im verbalen Rückzug begriffen.
»Möchtest du das ausdiskutieren? Ich würde mich ebenfalls in das Thema einbringen und über die aufladbare Lampe in einem gewissen, blauen Vectra reflektieren.«
Lutz stieß sich zur Abwechslung das andere Schienbein. »Meinst du, hier ist jemand ausser uns zwei? Ist das sinnvoll, was wir machen?«
»Wer wollte denn hierher?«
»Unsere Ermittlungen ließen es mir angebracht erscheinen.«
Obermaier schwieg, denn Schweigen ist auch eine Antwort.
Sie kamen endlich an einer vergammelten Hausfront an und tasteten sich am abblätternden Verputz bis zu einer noch vergammelteren Tür, die kreuzweise vernagelt war.
»Hast du Feuer?« fragte Obermaier.
»Musst du jetzt anfangen zu rauchen?«
»Quatsch. Hier ist ein Schild und ich kann es in der Dunkelheit nicht lesen.«
»Moment.« Lutz kramte in seinen Taschen und fand, wie er richtig vermutet hatte, ein Heftchen Streichhölzer, das er Obermaier mit den Worten: »Die sind privat.« in die Hand drückte.
Ein Ratsch und eine mickrige Flamme leuchtete. Obermaier buchstabierte: Wir sind unbekannt verzogen. Die Schwarzen. Die Flamme verlosch nach Obermaiers Aufschrei, sie hatte vorher seine Finger erreicht. »Scheisse. Verdächtig, die Typen.«
»Richtig. Und jetzt nichts wie raus.«
Die Beiden suchten den Weg zur....
DIES IST DER VIRUS BLOODY FRIDAY. IHR BUCH WIRD GELÖSCHT.
 
14


Damals führten Boris, der Zar der Russen, Drago, der Ataman der Serben und Damir, der Häuptling der Bosnier ihre Heere der Nacht gegen uns.
Aber die Polizei hatte bei ihren verfemten Kollegen im Osten gelernt und Spitzel gestreut.
Anmerkung: Wir haben das Buch aus den einzeln herumliegenden Buchstaben wieder rekonstruiert und empfehlen unverbindlich, es vor dem nächsten Freitag, den 13. fertigzulesen, nochmals machen wir uns nicht an diese Arbeit.
»Wir sollten IeM befragen.« schlug Obermaier vor, als sie wieder auf der schummrig ausgeleuchteten Strasse bei ihrem ungeliebten Auto standen und sich die Schienbeine massierten.
»Wo finden wir ihn?«
»Um diese Zeit?« sann Obermaier. »Wahrscheinlich im 24-Stunden-Copyshop am Bahnhof.«
»Ist das ein Treffpunkt-für-du-weisst-schon?«
»Ne. Er kopiert dort immer seine Berichte. Drei Exemplare. Eins für uns, eins für die Russen und eins für sich, damit er später noch weiss, wen er wie verraten hat.«
»Okay, fahr´n wir.«

Der 35. Geburtstag der Wegwerfwindel war gerade angebrochen, als sie vor dem Copyshop einparkten. Mitternacht, die Zeit der Vampire, Werwölfe, Gespenster und der Strassenreinigung. Lutz öffnete die Tür des Einsatzfahrzeuges genau in dem Moment, als das Sprengfahrzeug auf gleicher Höhe war, also eindeutig im Abseits. Er trocknete sein Gesicht an Obermaiers Hemd ab, soweit gehen die Pflichten eines nachgeordneten Beamten, fern und abgeschnitten vom Personalrat.
»Dann wollen wir mal.« streckte sich Lutz: »Wo ist der Laden?«
»Wir stehen vor ihm.«
»Aber der ist ganz dunkel.«
»Was hast du erwartet, Ladenschluss.« erinnerte Obermaier an den Standort.
»Aha.«
»IeM ist sicher da, er arbeitet schließlich verdeckt.«
»Aber nicht ohne Licht.«
»Das hat was miteinander zu tun. Komm´ jetzt.« Obermaier hatte leise und mit betontem Rhythmus an der Eingangstür geklopft und es ward ihm aufgetan.
»Könnt ihr kein Licht machen?«, Lutz sah schon wieder seine immer noch schmerzenden Schienbeine gefährdet.
»Psst.« kam es zweistimmig zurück.
Sie tasteten sich durch einen Gang und betraten ein Zimmer. IeM schaltete das Licht ein, eine Schreibtischlampe, die auf die Augen der beiden Beamten gerichtet war und ziemlich blendete.
»Ich kann gar nichts sehen.« stellte Lutz fest.
»Das ist Absicht.« kam es aus der Dunkelheit hinter der Lampe.
»Aber wir sind doch auf der gleichen Seite.«
»Richtig. Sie auf ihrer, ich auf meiner und so ist das gut. Ausser dem grossen Chef kennt keiner mein Gesicht.«
»Und wie rasieren Sie sich?« wollte Lutz wissen.
»Ich trage Vollbart.«
»Aha.«
Obermaier mischte sich ein: »Wir brauchen Informationen.«
IeM begann zu leiern: »Morgen beginnt der jährliche Räumungsverkauf bei Randahars Teppichparadies. Die Preise sind um bis zu achtzig Prozent reduziert. Die Russenmafia plant eine Namensänderung in Moskowiter Mafia, da neunzig Prozent der Mitglieder aus der Hauptstadt stammen und sich so besser gegen die Kiewer und die Ukrainer Mafia abgrenzen können. Crack ist für diese Nacht ausverkauft, aber es gibt ein Überangebot an Ecstasy und Speed, Speed notiert 27, das sind zehn Prozent niedriger als gestern. Die deutschen Kiezgangster haben ihren Aktionsbereich endgültig nach Mallorca verlagert, dort ist nur das Nachtleben heiss, aber nicht der Boden. Die Politik plant die Besteuerung der Renten und wird dafür, wenn sie es wirklich durchzieht, die Ehrenmitgliedschaft im Verband des organisierten Verbrechens erhalten. Wenn Sie weitere Informationen wollen, dann werfen sie zehn Mark ein.«
Lutz entgegnete ärgerlich: »Alles nur alter Mist. Wir brauchen brandneue Informationen.«
»Wenn Sie brandneue Informationen wollen, werfen Sie hundert Mark ein.«
Jetzt empörte sich Obermaier: »Wir haben einen Vertrag. Und danach sind Informationen kostenlos. Ist das nicht so?«
»Diese Information ist wert- und damit kostenlos.« kam die Antwort des Spitzels. »Auf Basis der neuesten Diskussion über Steuererleichterungen und der dadurch absehbaren Erhöhungen sind Informationen im Preis gestiegen. Wollen Sie die gestiegen Preise nicht bezahlen, so brauchen Sie einfach nur auf die Informationen zu verzichten. Beschweren Sie sich bei ihrem obersten Dienstherrn und nicht bei mir.«
Lutz hatte nachgedacht und ausnahmsweise ein Ergebnis er-halten, bevor die bedachte Situation beendet war: »Und was kostet ein Gespräch unter Freunden?«
IeM schaute ihn erstaunt an: »Nichts. Für was für einen Menschen halten Sie mich, dass Sie mir eine kommerzielle Auswertung freundschaftlicher Gespräche unterstellen. Nur auf dieses bewusste Wort reagiere ich infolge einer früheren Prägung in dieser unfreundlichen Art.«
Lutz strahlte Obermaier an und teilte ihm nonverbal mit, dass er offensichtlich doch nicht für den Trottel gehalten werden durfte, für den ihn Obermaier offensichtlich hielt. Verbal und ausgesprochen teilte er mit: »Ich habe da heute einen Killer kennengelernt, der eine sehr eigene Handschrift besitzt. Vielleicht ein gemeinsamer Bekannter?«
»Sie meinen den Hirnentferner vom Ben-Gurion-Ring und den Gesichtsdieb aus dem Gericht?«
»Genau.«
»Muss neu oder ein Aussenseiter sein. Zumindest ist er mir nicht begegnet und auch niemandem, den ich kenne.«
»Gibt es Mutmassungen?« setzte Lutz das Gespräch fort.
»Aber sicher. Die Gerüchte fliegen nur so über den Markt.«
Obermaier war für sein Empfinden schon viel zu lange untätig gewesen und hatte seinem Chef die Initiative überlassen. Er murmelte: »Das Wort Information vermeiden.«, sagte dann laut: »Und welche Informationen fliegen über den Markt?«, nur um sofort seinen Lapsus zu bemerken, aber ohne Gelegenheit zur Verbesserung zu erhalten, denn IeM sagte mit fester Stimme: »Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.«
»Aber Gespräche sind noch möglich?« versuchte Obermaier doch noch zu reparieren.
»Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.«
»Und wenn wir dafür bezahlen?« intervenierte Lutz, blickte auf Obermaier und setzte hinzu: »Besser gesagt, er bezahlt.«
»Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.«
Ein Mann muss wissen, wann er verloren hat. Wie sonst käme ein neues Spiel zustande? Lutz gehörte zu den sensitiven Geschöpfen, die eine Niederlage zu einem besonders frühen Zeitpunkt erkennen konnten, denn bei ihm war jeder Zeitpunkt richtig für Verluste. »Lass´, das hat keinen Sinn mehr. Für heute ist die Quelle versiegt.«
»Du willst einfach aufgeben?«
Lutz stupste anstatt einer Antwort IeM an und wurde mit dem Satz: »Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.« belohnt.
»Du meinst, er wird...«, Obermaier stieß den Spitzel ebenfalls an und: »Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.« »...uns nicht mehr mehr als das (erneutes Stupsen, heftiger diesmal und die Reaktion war nur: »Diese Einheit gibt keine Informationen preis, auch nicht unter Folter.«) sagen.«
»Genau« sagte Lutz und stieß den IeM an.
Bevor dieser mit seiner anscheinend auf einer Endlos-schleife gespeicherten Antwort zum wiederholten Male beginnen konnte, stieß Obermaier von der anderen Seite zu. Der IeM blieb stumm, blickte, schnell wechselnd, von Lutz zu Obermaier und zurück, zuckte mit den Schultern und sagte: »Deppen.«.
Dann war es still. Nur das Geräusch eines Kopierers im Nebenzimmer brach in die Gedanken der drei Männer.
Lutz fasste sich als erster: »Ich habe Hunger.«
Obermaier schloss sich, froh über diesen Themawechsel, an: »Ich habe noch Kekse im Wagen.«
»Dann geht.« bestärkte sie der IeM.

Lutz biss in das runde, kernige Plätzchen und es verteilte sich in Form von Bröseln über seine Hose. »War wohl schon über das Zerfallsdatum?«
»Aber die Atomfabrik in Hanau wird doch abgebaut.«
»Der Keks.«
»Das Keks.«
»Ein Scheisskeks.« schlossen sie im Chor den befreienden Kompromiss.
 
15


Nach diesen Ereignissen ging das Wort des Killers in einem Telefonat an Lutz.
Sie sassen noch vor dem dunklen 24-Stunden-Copy-Shop im parkenden Auto und Lutz versuchte die Brösel des zerfallenen Kekses mit der Hand in den Fussraum zu wischen, aber die Krümel krümelten weiter und verwandelten sich in gut an der Hose haftenden Staub.
»Schau dir diese Sauerei an.« klagte Lutz und wies auf seinen mehligen Schoss.
Obermaier verfolgte der ansteigende Erregung seines Kollegen relativ interessiert, aber doch weitgehend teilnahmslos. Lutz salbaderte weiter, Obermaiers Handy meldete sich, dann Obermaier, der den Apparat Lutz hinstreckte: »Für dich.«
»Lutz.«
»Hier sprich ihr freundlicher Sprachausgabechip.« tönte es mit Hans Albers Stimme. »Sie hinken hinter meinem Zeitplan hinterher, Herr Oberkommissar Lutz. Wenn Sie so gut wären, wie sie sich einschätzen, dann müssten sie jetzt auf dem Weg zur dritten Leiche sein. Sie aber sitzen sinnlos im stehenden Wagen und wissen nicht wohin. Richtig?«
Lutz antwortete aus Gewohnheit: »Richtig.«
Hans Albers schöpfte aus der Tiefe seiner Stimme: »Dies war eine rein retorische Frage, dieser Chip beherrscht zwar die Sprachausgabe in unzähligen Varianten, aber nicht die Analyse, unsere Beziehung wird also einseitig bleiben müssen. Aber zurück zu unserem ursprünglichen Gespräch. Sie sitzen also dumm rum und der zu Ihnen so hervorragend passende Assistent Obermaier hilft ihnen dabei. Das ist der Stand. Dürftig, Lutz, sehr dürftig. Wie sollen da die Bürger das Gefühl entwickeln, dass sie für ihre Steuergelder richtig beschützt werden. Die Medien haben die Leichenfunde verbreitet. Ich habe übrigens eine Bandaufnahme unseres ersten Gesprächs vermisst. Haben Sie mir etwa geglaubt?«
Die programmierte Pause gab Lutz die Chance in der Dunkelheit des Wagens unbemerkt über die Panne mit der nicht eingelegten Kassette beschämt zu erröten, bevor die Stimme aus dem Handy fortfuhr: »Ich verstehe ja, dass Sie im Moment nicht so gut drauf sind, mit den ganzen Schwierigkeiten am Hals, Frau, Geld und Kollegen. Wenn unsere Beziehung nicht was anderes vorsehen würde, würde ich sagen: Kommen Sie her und weinen sich aus. Aber das ist nicht so geplant, sondern ich jage Sie und Sie jagen mich und wir bewegen uns im Kreis, nur Sie sind vorn und bestimmen die Richtung.
Lassen Sie mich etwas helfen, indem ich mit einer Zusammenfassung beginne: Sie haben zwei Leichen mit absurder Todesursache, zwei Telefaxe, obskure Verbindungen zu zwei noch obskureren Gesellschaften und kein Motiv und keinen Verdacht. Das ist nicht viel. Vielleicht würde eine dritte Leiche helfen. Und da ich ein hilfsbereiter Mensch bin, habe dafür gesorgt. Stellt sich die Frage: Wo?«
Die Stimme räusperte sich und sang dann das Lied von den Schiffen im Hafen und der Sehnsucht nach der Ferne und der Sehnsucht nach Zuhause und den süssen Mädchen und den Stürmen des Meeres und den Stürmen des Gemüts. Lutz verstand jetzt, warum er mit Hans Albers sprach, besser gesagt, zuhören durfte.
»Das war der erste Hinweis.« kehrte Albers Sprechstimme wieder und setzte hinzu: »Der zweite Hinweis sollte ihnen näher liegen. Stellen Sie sich vor, Sie gehen abends in die Disco und sehen dort ein Mädchen, das Ihnen unheimlich gefällt. Was werden Sie als nächstes tun?«
Wieder fand Lutz in der entstehenden Pause Gelegenheit zur Äusserung seiner Gefühle: »Scheisse.«
Hans Albers ließ sich durch diesen Einwurf nicht beirren und fuhr ungerührt fort: »Der dritte Hinweis wäre bei einem scharfsinnigen Menschen überflüssig, aber Sie brauchen ihn: Was liegt am Wasser und steht meist leer. Wenn Sie jetzt an den Bundestag denken, ist das zwar richtig, hilft aber nicht weiter. Deshalb den letzten Tip dieses Gespräches. Wo schlafen Schiffe und Dinge, die schwimmen? Für Ihre Fahndung: Ich sehe so aus, wie ich mich anhöre. Gute Nacht.« Die Verbindung brach ab.
Obermaier sah zu Lutz und sagte bestürzt: »Was war das?. Du bist so bleich, du leuchtest schon im Dunkeln.«
»Unser Killer. Er klingt wie Hans Albers und singt dessen Lieder. Dabei labbert er von Hinweisen und führt nur in die Irre.«
»Was für Lieder?«
»Das mit den Matrosen, auf Matrosen oheh, in die wogende See und so weiter.«
»Und das soll ein Tip sein? Wofür?«
»Zur nächsten Leiche.«
»Aha.«
Nach dieser profunden Bemerkung kehrte eisige Stille im Innenraum des Einsatzkleinwagens ein. Die Scheiben beschlugen, als sich die Atemfeuchte vor dem einsetzenden Mikrowinter zurückziehen wollte. Die Temperatur fiel schneller als der Schall und nahm den Luftdruck mit, fallende Barometer sind entweder schlecht aufgehängt oder kündigen Sturm an.
Lutz sprang aus der sich entwickelnden Marsatmosphäre aus dem Auto und blickte den ebenfalls entkommenen Obermaier über das reifbeschlagene Dach des Wagens an: »Was zum Teufel war das?«
Obermaier schlug aufwärmend die Arme um den Oberkörper: »Kein Grund zur Beunruhigung. Das war nur ein fehlgeleiteter Satz aus dem Marskrimi, der im nächsten Jahr spielt. In fünf Minuten können wir weiter.«
»Stellt sich die Frage: Wohin?« Lutz imitierte Obermaiers Armschlagen, ein zufällig und unbemerkt vorbeikommender Obdachloser und vormaliger Sozialpolitiker wurde so nachhaltig von der offensichtlich in der falschen Jahreszeit (Die Temperatur betrug zu dieser späten Stunde noch 27° C) durchgeführten Bewegung geschockt, dass er das Trinken aufgab und eine zweite Karriere in der Politik machte. Wenn Sie an dieser Geschichte interessiert sein sollten, senden Sie ihre Bestellung an den Verlag, Ihr Buch wird dann angefertigt werden.
Wir sitzen immer noch auf der fundamentalen Frage herum, wohin die nächsten Ermittlungsschritte führen sollten, zur Auswahl standen: eine Plattenfirma, das Schiffahrtsmuseum, eine Müllkippe, das Wetteramt in Offenbach, eine Kneipe mit dem Namen "Zum Anker" und der Hafen.
Lutz und Obermaier wandten die beliebte Methode der Reduktion von Möglichkeiten durch Nichtwissen an und strichen alles aus der Liste, was sie nicht sofort und spontan zuordnen konnten. Die Plattenfirma fiel durch, weil beide kein Unternehmen dieser Art kannten. Das Schiffahrtsmuseum war jetzt geschlossen. Die unerlässlichen Möwen auf der Müllkippe würden schlafen. Das Wetteramt lag in Offenbach. In der Kneipe "Zum Anker" hatte Obermaier Hausverbot, auch dies eine Geschichte, die späteren Generationen vorbehalten bleibt.
Uns und den Beiden verbleibt noch der Hafen.
Das Innere des Autos hatte sich inzwischen auf Sibirienstandard erwärmt und so fuhren sie durch nächtlich ruhige Strassen in immer ruhigere Bereiche, begegneten immer weniger Menschen und Fahrzeugen, die in Betrieb waren und stießen schließlich auf den Main.
Obermaier hatte, nach Lutz´ Warnruf, noch rechtzeitig vor der Kante des Ladekais angehalten, beide Vorderräder standen noch auf dem Pflaster, nur die Stossstange ragte über das nächtlich schwarze, streng riechende Wasser.
»Hier sind wir.«
Lutz beschloss, die weiterführende Lösung des Rätsels an Obermaier zu delegieren: »Stell´ dir vor, Obermaier, du bist in der Disco...«
Obermaier fiel ihm in´s Wort: »Schwierig. Zu Leise. Zu dunkel. Und die falsche Gesellschaft.«
»Nimm dein bisschen Fantasie zusammen und stell´ dir vor, da ist eine unheimlich gute Frau. Was machst du jetzt?«
»Was geht dich mein Geschlechtsleben an?« blaffte ein konsternierter Obermaier.
»Das ist rein dienstlich und ein weiterer Hinweis des Killers.«
»Dann würde ich sie anmachen?«
Beide blickten in die Runde, aber zu dem Begriff anmachen wollte ihnen nichts einfallen.
»Vielleicht meint er ansprechen?«
Wieder der zweifache ratlose Blick in die kreisförmig verstandene Umgebung.
»Mich spricht hier nichts an.« versicherte Lutz und fragte dann: »Sag´ mal, seit wann schwimmt hier eine Kirche?«
»Kirche? Wo?«
»Da.« und Lutz wies auf die schwarze Silhouette vor dem dunklen Sachsenhäuser Ufer.
»Das ist ein Bagger.«
»Bagger? Anbaggern, ich würde sie anbaggern.«
»Wenn du meinst.« stimmte Obermaier zu.
»Das ist der Platz, den wir suchen sollten. Ruf´ ein paar Streifenwagen.«
»Wieso, hast du Angst alleine?«
»Nein. Aber die haben funktionierende Taschenlampen. Mach´ hin.«
 
16


Der Killer aber hatte Lutz den richtig verschlüsselten Hinweis gegeben.
»Wenn wir unser Auto in die richtige Position bringen, strahlen die Scheinwerfer den Schwimmbagger an. Vielleicht lässt sich dann schon was erkennen?« Obermaier versuchte die Zeit bis zum Eintreffen der Streifenwagen sinnvoll zu füllen.
»Einverstanden.« stimmte der wegen des Einfalls seines Untergebenen saurer Lutz zu und entblödete sich nicht, die Warnung: »Fahr aber nicht in´s Hafenbecken.« hinzuzufügen.
Selbsterfüllende Warnung wird in der Psychologie das Phänomen genannt, wenn eine gutgemeinte Warnung genau die Gefahr auslöst, die vermieden werden sollte. Das prominenteste Beispiel ist Sly Stallone. Seine Mutter verbot ihm mit dem Essen zu spielen, und die Folge waren die Rockyfilme eins bis unendlich mit diesen Kühlhausszenen und den Rinderhälften. Ein weniger prominentes Beispiel gefällig? Die Tochter des Autors mit der Warnung: »Belehr´ nicht immer deine Leser.« Dieser Gefahr sind Sie gerade entronnen.
Wer jetzt daran glaubt, dass Obermaier seine Fahrt in den Tiefen des Frankfurter Hafenbeckens beenden wird, hat die subtile Wirksamkeit dieses Mechanismusses noch nicht richtig verinnerlicht.
Obermaier fährt eingedenk der Warnung langsam und vorsichtig, deshalb reicht der Schwung nicht aus, das Auto vollständig über die Kante der Kaimauer zu tragen, es bleibt am Unterboden knapp hinter den Vorderrädern hängen und wird später, was wir hier im Vorgriff auf weitere Ereignisse zur Vereinfachung bereits erwähnen, von vier uniformierten Kollegen wieder zurückgezogen und so für die Staatskasse ein weiterer, unnötiger Verlust vermieden. Warum das Wort weiterer verwendet wurde, wo es doch auf noch andere, unnötige Verluste schließen lässt? Nehmen Sie einen beliebigen Posten eines beliebigen öffentlichen Haushalts und davon 20% und Sie kennen die Grösse dieser speziellen, weiteren, verschleuderten, durch erbärmliches Wirtschaften entstandenen Verluste, wer will da über Autos richten.
Noch sass Obermaier hinter dem Steuer und lauschte dem kreischenden Zumstehenkommen des Unterbodens. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und erkundete das Terrain tastend mit dem Fuss. Der vorgefundene Zustand entsprach seinem Geschmack und er stieg aus. Die Gefahr war vorbei.
»Was stinkt hier so?« fragte ihn Lutz bei ihrem Zusammen-treffen: »Bist du das?«
»Ich hab´ Schnupfen. Ich rieche fast nichts.«
»Es stinkt nach Scheisse.« präzisierte scharfsinnig Oberkommissar Lutz. »Hundescheisse, um genau zu sein.«
Obermaier musterte seine Schuhe und die zugehörigen Sohlen und stellte das Vorhandensein einer in der Dunkelheit nicht näher zu identifizierenden Masse fest. Lutz´ zu Hilfe genommene Nase vertiefte den anfänglichen Verdacht auf Hundeexkrement. Bevor Obermaier in das Stadium der Entsorgung eintreten konnte, schleuderten drei blaulicht- und sirenenbewehrte Fahrzeuge auf die Kaimauer und entluden ihre Besatzungen.
Der Dienstälteste meldete sich bei Lutz und, als er erkannte, wer ihn da angefordert hatte, warnte er seine Kollegen. »Wer noch nicht länger als zwei Stunden mit dem Essen fertig ist, bleibt am Kai. Das ist Lutz und der sammelt unappetitliche Leichen.« Daraufhin stieg eine Besatzung wieder in ihr Fahrzeug und verließ die Szene.
»Wo ist die Leiche?« fragte der uniformierte Anführer.
»Irgendwo auf dem Bagger.« antwortete Obermaier.
»Vermutlich.« setzte Lutz unvorsichtig hinzu.
»Ihr seid gar nicht sicher?«
»Es ist eine Leiche im Hafen. Und wenn ich sie selber herschaffen muss. Basta. Und nun sucht.« explodierte Obermaier aus dem Stand in eindrucksvoller Manier.
Die Uniformierten schwärmten aus, Lutz und Obermaier sahen den schwankenden Lichtern der Taschenlampen nach. »Ist doch wahr. Dauernd bin ich der Depp.«

Eine halbe Stunde später war sein Widerspruchsgeist wesentlich leiser geworden. Die Polizisten hatten den Schwimmbagger durchsucht und nichts Verdächtiges gefunden.
»Wir sind durch. Nichts.« triumphierte der Führer.
Lutz leistete seine gute Tat für diesen Tag: »Dann wart ihr nicht gründlich genug. Ich geh´ selber.« Er suchte den Weg über die schmierig rutschige, schmale und nur einseitig mit einem Geländer versehene Gangway und ignorierte dabei das obszön einladend glucksende Wasser unter ihm.
Dann ging dieser Moment grosser persönlicher Gefahr vorbei und die übliche berufliche Gefahr nahm wohltuend wieder ihren Platz ein. Wir wollen in diesem Zusammenhang nicht die vielen Beamten vergessen, die ihre Pflicht gewissenhaft und nach besten Vermögen erfüllen, wenn sie sich nicht gerade über ihre Kollegen aus diesem Buch ärgern.
Lutz sprang auf das Deck, dessen Beschaffenheit eine Steigerung zum Zustand der Gangway darstellte, der ganze Grund des Main, und der Main ist lang, hatte dort seinen Spuren hinterlassen, garniert mit maschinellen Rückständen wie altem Öl und gebrauchten Putzlappen. »Gleich wird sich dein Problem mit der Hundescheisse erledigt haben.« kündigte er dem nachfolgenden Obermaier an.
Der sprang ebenfalls, kam mit dem Absatz auf, rutschte weg, leuchtete mit der einen Hand und der Taschenlampe in den Himmel und griff mit anderen nach Halt und fand Lutz.
»Was ist das?« rief der aus und schüttelte seinen Kollegen in die Decksschmiere ab. Lutz leuchtete der abgebrochenen Bahn der Taschenlampe seines Kollegen nach und streifte dabei den A-förmigen Ausleger. Dort war die Leiche. »Kommt her. Ich hab´ sie gefunden.«
Um Lutz herum bildete sich ein Halbkreis, in den sich auch der wiederauferstandene Obermaier einreihte, die Taschenlampen wurde zum Ausleger gerichtet und brachten einen nackten, nur mit einem Lendentuch bedeckten, Gekreuzigten zum Vorschein.
»Das glaube ich nicht.« stöhnte der Anführer der Uniformierten: »Mehr Licht.«
»Habe ich bestellt. Die Feuerwehr kommt gleich.« kam aus dem hinteren Dunkel.
Lutz stolperte über das Deck bis zum unteren Fixpunkt des Auslegers. Die Leiche musste jetzt genau über ihm sein. Er leuchtete senkrecht nach oben, aber der Lichtstrahl wurde von den Trossen und Einbauten abgelenkt. »Wir werden warten müssen.«
»Ich komm´ da hoch.« versprach Obermaier und turnte die Stahlkonstruktion nach oben. »Bin da, habe seine Kleider gefunden. Achtung.«
Lutz wurde von dem heruntergeworfenen Kleiderbündel am Kopf getroffen, aber die Spannung unter den umstehenden Männern war so gross, das keiner die naheliegenden Witze über die Verzichtbarkeit dieses Körperteils auspackte.
Das Bündel war wirklich ein Bündel, ordentlich und auch so verschnürt. Lutz versuchte den Knoten zu lösen, aber fand in dem schwachen Taschenlampenlicht den richtigen Ansatz nicht. »Mehr Licht!« forderte er und wurde in gleissend blendende Helle getaucht. Als sich seine Augen darauf eingestellt hatten, erkannte er die Feuerwehr auf dem Kai. Obermaier rief von oben: »Helft mir hier runter, mir schläft das Bein ein.«
In der entstehenden Hektik konnte Lutz das Bündel ungestört, in Ruhe und alleine untersuchen. Er fand die erwarteten fünf Tausender und brachte sie in seiner Hosentasche in Sicherheit.
Der Personalausweis lautete auf Hartmut Friedrich, Friedrich war als Nachname eingetragen. Der Tote war fünfundfünfzig. Keine Visitenkarten, nichts. Der Tote schien Beruf und Arbeitgeber verschweigen zu wollen. Lutz knetete die Brieftasche und fand ein bisher übersehenes Fach, darin einen Notfallausweis. Der Ausweis verbot es, seinem Besitzer irgendwelche Organe zu entnehmen und bat darum, im Notfallfalle das Finanzamt Mitte, Vollstreckungsabteilung, zu benachrichtigen. Weiter kam eine Fotografie zum Vorschein, die den Toten zusammen mit einigen anderen in seinem Alter zeigte. Auf der Rückseite war notiert: Betriebsausflug 1996.
»Ob den jemand vermisst?« fragte sich Lutz und weiter zu dem inzwischen geretteten Obermaier: »Wird ´ne Premiere für dich. Keine Angehörigen, nur Kollegen. Hier die Adresse. Und anschließend Finanzamt.«
»Und er ist wirklich Single?«
»Schau selbst.« antwortet Lutz und hielt Obermaier die Papiere hin. Der las, notierte und ging ab.
Ein Leichenbeschauer namens Quincy betrat das Schiff und kam missbilligend auf Lutz zu und beschwerte sich ab drei Meter Abstand: »Wir haben die beiden ersten noch nicht voll-ständig untersucht. Und ihr habt schon wieder einen. Könnt ihr nachts nicht wie anständige Menschen schlafen?«
»Wo ist das Problem?« foppte Lutz, er war inzwischen müde, gereizt und hatte das Gefühl, als ob er teilweise neben sich stände und sich bei seinen untauglichen Bemühungen zusah.
»Ich mag keine männlichen Leichen, schon gar nicht nachts. Ausserdem ...« Dieser Quincy schaute nach oben zu der angestrahlten Leiche, die dort Werbung für eine Sekte machen zu schien: »... ausserdem habe ich Höhenangst. Aber ich vermute, dass Sie nicht nach oben und ihn abmachen wollen?«
»Ich?«
»Dachte ich mir.« Der Arzt griff in die Tasche seines weissen Mantels und holte eine aufgezogene Spritze heraus. »Für Notfälle.« grinste er und schoss sich die klare Flüssigkeit in die bereits mit zahlreichen Stichen versehene Armbeuge. »Hilft immer.« Er steckte die Spritze weg und fiel langsam in sich zusammen.
 
17


Als der Fall 17 Stunden alt war, wünschte sich Lutz, dass die Polzeiverwaltung in den letzten Jahren konsequent nur Fachleute eingestellt hätte.
Ein neuer Quincy hatte seinen Kollegen medizinisch ver- und dann für den Abtransport gesorgt. Dann managte er kompetent den Abbau der Leiche und untersuchte sie auf dem Deck.
Eine Zigarette anzündend gesellte er sich schließlich zu Lutz. »Interessante Sache,...« sagte er und wies nach hinten: »...das. Er ist richtig gekreuzigt worden, unter Beachtung aller in der Literatur bekannten Ratschläge. Zum Beispiel hat er die Nägel nicht durch die Handflächen geschlagen, wie man das immer falsch auf Gemälden sieht, nein. Er ging durch die Handwurzel.« Der Arzt brach seine Ausführungen infolge der Äusserungen Lutz´ Körpersprache ab. »Ist Ihnen schlecht?«
»Lassen Sie die Details weg. An was ist er gestorben?«
»Herz. Die Haltung, der Blutverlust und der Schock, zusammen brechen sie kurz oder lang jedes Herz, wie die Liebe.«
»Und wann?«
»Gekreuzigt wurde er nach Einbruch der Dunkelheit, gestorben ist er vor zwei Stunden.«
»Okay. Schreiben Sie einen ihrer schönen Berichte, voll mit diesen unverständlichen, aber magenfreundlichen Begriffen.«
Lutz ging über die jetzt mit einem zweiten Geländer versehene Gangway und dachte über sein Transportproblem nach, Obermaier hatte den Wagen.
Aus dem Inneren eines der Streifenwagen wurde gerufen: »Lutz, ist hier ein Oberkommissar Lutz?«
»Ja, hier.«
»Telefon!«
»Danke« und in das Handy: »Lutz.«
»Obermaier hier. Ich bin in der Wohnung und du hattest recht, er war Single, und was für einer. So aufgeräumt sieht´s bei mir noch nicht mal nach dem Aufräumen aus. Aber was anderes, er hat einen Schrebergarten auf dem Lohrberg. Vielleicht findet man dort was.«
»Ich soll also möglichst dort hin?«
»Habe ich mir so gedacht.«
Lutz empfand diese eigentlich alltägliche und in keinster Weise unübliche Aufgabenteilung plötzlich als Angriff auf sein Ego. Obermaier degradierte ihn zur Untersuchung einer Gartenhütte. »Warum gehst du nicht?«
»Ich bin hier noch nicht fertig. Und dann muss ich zum Finanzamt.«
»Verstehe.« Lutz vermeinte die Ahnung einer fernen Möglichkeit zu spüren, dass Obermaier nicht angegriffen, sondern nur nicht nachgedacht hatte. »Eine Gartenhütte? Auf dem Lohrberg?«
»Ein richtiger Schrebergarten für 800 Maak Jahrespacht und da kriegt man schon was dafür.«
»Okay, ich mach´s. Sonst noch was, was ich wissen müsste?«
»Noch ´ne ganze Menge, aber ich will dich nicht verwirren. Bis später im Präsidium.«
Lutz sah sich um und fand den Mann, der ihn zum Telefon gerufen hatte: »Ich brauch´ einen Wagen zum Lohrberg.«
»Privatfahrten sind nicht gestattet.«
»Rein dienstlich.«
»Gut, steig ein. du weisst, wo wir hin müssen?«
»Ungefähr. Wieso, kennt ihr euch nicht aus.« Der Fahrer war inzwischen auch eingestiegen.
»Wir sind nach Frankfurt abgeordnet worden, vorgestern.«
»Wo kommt ihr her?«
»Wetterau.«
Lutz hielt betroffen seine fast fertig vorbereitete Antwort zurück. Die beiden Leute vor ihm mussten unter einem heftigen Zivilisationschock leiden und konnten alle Hilfe brauchen, die sie bekamen. »Wetterau. Und genau?«
»Eichen.«
»Sagt mir nichts.«
»Sonst auch niemandem in dieser Stadt. Liegt bei Höchst.«
»Das ist doch nicht in der Wetterau.« protestierte Lutz.
»Dieses Höchst schreibt sich mit Ö und nicht OE und hat mit Chemie rein gar nichts zu tun. Nur Landschaft, gute Luft und kein Verbrechen. Was ein schöner Job für Bullen und dann werden wir hier her versetzt.«
Lutz´ Betroffenheit steigerte sich nach dieser heiser vorgebrachten Liebeserklärung an die Heimat und er fragte vorsichtig: »Seid ihr dort geboren und aufgewachsen?«
»Quatsch. Wir kommen aus Bernem.« Das ist Bornheim und bedeutet alteingesessen, urfrankfurterisch.
Der Fahrer setzte eine verspiegelte Sonnenbrille auf und verließ den Hafen mit kreischenden Reifen.
»Muss das sein?« sprach Lutz den Bebrillten an.
Der andere Uniformierte wies auf ein Schild am Dachhimmel: Nicht mit dem Fahrer sprechen! und sagte: »Er braucht das, sonst sieht er zuviel vom Grossstadtverkehr und wird unsicher. Wir sind im Einsatz, richtig?«
»Ja.«
»du darfst Blaulicht und Sirene einschalten.« Der Uniformierte wandte sich wieder Lutz zu: »Er freut sich immer noch darüber.«
Die stroboskopische Fahrt wurde schneller und lauter, denn der Mann am Steuer schaltete den vorschriftswidrigen CD-Player ein und überflutete den Innenraum mit heavy metal, Metallica und Enter Sandman gegen die Sirene, die Musik gewann.
Lutz rief seinen Protest gegen die Beschallung vom Rücksitz in den vorderen Teil des Wagens, verstand sich aber noch nicht einmal selbst und so bleiben seine Beschimpfungen auch uns vorenthalten. Die erbetenen Richtungshinweise wickelte er mittels Schulterklopfen ab.
Sie hielten in einer schmalen Gasse zwischen Hecken und Zäunen. Der weisse, ordentliche Kies leuchtete im Mondschein hinter dem schmiedeeisernen Gartentor. »Hier muss es sein. Das passt zum Psychoprofil.« Lutz griff über das Tor und öffnete es mit der nur innen vorhandenen Klinke. Sie, denn die beiden Beamten folgten ihm, gingen an einer Versammlung gärtnernder Zwerge vorbei über den aufgeräumt knirschenden Kies auf die Voralpenstilgartenhütte zu. Die Beleuchtung ging an, Infrarot-Bewegungsmelder, tippte Lutz. Das Licht legte die gnadenlose Ordnung und ein Schild frei:
Dieser Garten entspricht in seiner gesamten Erscheinung den hohen Idealen unserer Gemeinschaft. Friedrich, wir danken dir. Der Gartenverein, dieses Frühjahr.
»Passt alles zusammen.« Lutz zeigte auf die sorgsam beschnittenen Gartengehölze und den absolut gleichmässigen Rasen. »Gehen wir rein.«
Die Tür war natürlich verschlossen. »Aufbrechen?« fragte die Spiegelbrille, die mit jedem Moment einen amerikanischen Mittelwestmotorradbullen ähnlicher wurde, es fehlten nur noch die Stiefel.
Lutz überlegte noch.
»Aufbrechen.« befahl sich der Cop und rannte mit der Schulter gegen die Tür. Sie hielt ihm stand, auch den drei folgenden Versuchen.
»Lass´ mich mal.« forderte sein Kollege und drängte ihn beiseite. Er stellte sich so vor dem Schloss auf, dass seinen Aktivitäten verborgen blieben, nur die Bewegung seiner Schultern zeigte an, dass er was tat. »Bitte.« sagte er schließlich und zog die Tür auf. »Immer gut, wenn man ein Handwerk gelernt hat.«
»Schlosser?« fragte Lutz.
»Einbrecher. Sonst war keine Lehrstelle frei. Bin aber resozialisiert.«
Sie traten in das - na was schon, richtig - ordentliche Innere der Hütte, alle Geräte hingen oder standen gereinigt und griff¬bereit an dem dafür vorgesehenen und beschrifteten Platz.
Hier ein Wort in persönlicher Sache. Das Betonen der Ordnung im Leben des Hartmut Friedrich, Vollstrecker beim Finanzamt Mitte, ist nur dann verständlich, wenn man weiss, dass der Autor ein Vertreter der Schule des kontrollierten Chaos ist. Die Chaostheorie bestätigte sich in den letzten Jahren als das grundlegende Prinzip unserer Natur. Daraus ist m. E. der Schluss durchaus zulässig, dass Schlamper im Einklang mit der Natur, also ökologisch leben und im Gegensatz dazu, die Ordentlichen den Ablauf stören. Transponiert man diese Ansicht in das alltäglich menschliche, dann stellt Hartmut Friedrich den ewig Gestrigen und der g´schlamperte Lutz die Moderne dar. Die sich aufdrängenden Essays verkneift sich der Autor zugunsten notleidender Feuilletonredakteure und hofft auf diesem Wege zur Lösung eines brennenden Generationenkonflikts beitragen zu können.
»Fällt euch was auf?« fragte Lutz seine beiden Begleiter.
»Ausser einer diesem Ort anhaftenden und ihn charakterisierenden zwanghaften Perfektion nicht viel.« antwortete Spiegelbrille durch das Kaugummikauen in höchster Verständlichkeit. »Immer gut, wenn man ein Handwerk gelernt hat.«
»Psychologie?«
»Werbetexter. Ich stamme aus einer Familie, die die Traditionen des Märchens hochhält.«
Lutz wollte schon den häufig in diesen Genre verwendeten letzten, prüfenden Blick werfen, als ihm die Tür im hinteren Teil der Hütte auffiel. »Da wollen wir noch reinschauen.« ordnete er an.
Der Kollege von Spiegelbrille, der Handwerker mit der Affinität zu Schlössern packte den Knauf und zog daran. Die Tür ging überraschend auf und ein Strom wirrer Dinge ergoss sich über seine Füsse, stieg bis zu den Knien an.
»Ruft die Spurensicherung.« befahl Lutz: »Die sollen aufräumen.«
»Jetzt kennen wir die Abgründe seiner Seele.« kommentierte fachmännisch Spiegelbrille.
 
18


Der Killer erschien Lutz beim Präsidium der Polizei.
Lutz freute sich auf die Stille und Einsamkeit seines Büros und eilte beschwingt die Treppen nach oben. Obermaier sollte noch Stunden ausbleiben und die Spurensicherung würde mindestens solange brauchen, um die Kammer in Friedrichs Gartenhütte auszuräumen und verwertbar zu ordnen.
Die letzten Stufen vor jedem Treppenabsatz musste Lutz in Dunkelheit bewältigen, da die Automatik der Beleuchtung sich von der Sparsamkeit des Amtes hatte anstecken lassen. Aber auch diese Erschwernis konnte seinen Optimismus nicht trüben, die Nacht war alt und langsam sollten ihr die erschreckenden Überraschungen ausgehen.
Sie erinnern sich noch an den Absatz über sich ungewollt realisierende Warnungen? Das funktioniert auch mit Wünschen. Und so treten wir in abrupt in eine Horrorszenerie ein.
Das Licht schaltete sich mit einem im ganzen, kalten Treppenhaus nachhallenden Klacken aus. Düsternis fiel über Lutz und legte sich wie erstickender Samt auf Mund und Augen. Sein Atem ging schwer und stossweise. Er setzte zögernd den Fuss auf die nächste Stufe, in Erwartung einer Falle. Da! Mischte sich in das Geräusch des eigenen Absatzes nicht ein fremdes? Schlich sich da jemand an und nutzte Lutz´ Lebensäusserungen geschickt und heimtückisch als Tarnung aus? Lutz verhielt Schritt und Atem, lauschte in die umgebende undurchdringliche Finsternis. Stille. Lutz machte einen Schritt und da war wieder das kaum wahrnehmbare Echo. Angst stieg kalt in ihm auf und griff nach seinem rasenden Herz. Der Magen lag wie ein Bleibarren auf den sich furchtsam zurückziehenden Därmen. »Wer da?« rief er, seiner Stimme mühevoll Substanz, Fülle und Zuversicht verleihend. Die Worte entfernten sich hallend und wurden schließlich von einem schrecklich irren Gelächter beantwortet. Lutz versuchte das Gelächter mit einem sinnlosen »Zeig dich.« niederzukämpfen, erntete aber nur mehr und schrecklicheres Gelächter. Lutz spürte, wie die Quelle dieses furchtbaren Freudenausbruches näherkam, und sprang vorwärts. Er stieß sich Schienbeine und Zehen, kam in´s Straucheln und warf sich mit letzter Kraft auf den retten¬den Treppenabsatz. Das Gelächter kam immer näher, über¬wand die schützende Distanz im rasen¬den Rhythmus seines Herzschlages. Lutz drehte sich mühsam in der Dunkelheit auf den Rücken und fuhr hastig suchend mit der Hand über den rauhen Putz. Seine Haut wurde aufgeschürft. Das Gelächter schien ihn erreicht zu haben, es hackte jetzt von allen Seiten auf ihn ein. Lutz schlug wie wild auf die Wand ein, in der Hoffnung den Schalter zu treffen. Eine Gestalt schien sich über ihn zu beugen. Das Gelächter brach ab. »Noch nicht Lutz, noch nicht. Aber bald.« donnerte die Stimme des grausamen Lachers. Lutz spürte die beruhigende Kühle der Plastikabdeckung des Lichtschalters unter seinen Fingern, als er mit dem Rücken an die Wand zurückwich und drückte entschlossen zu. Die Helligkeit sprang rettend aus den Lampen an der Decke und Lutz fand sich alleine, zusammengekrümmt auf dem Treppenabsatz sitzen. Um ihn Stille, nur über ihm brummte der Starter einer Leuchtstoffröhre.

Entschuldigung, dass es solange gedauert hat, bis es weiterging, aber nach dieser atemberaubenden Szene musste auch der Autor erstmal Luft schöpfen. Wir fahren jetzt wieder mit dem gewohnt ruhigen, seine Spannung in subtiler Methodik aufbauenden Stil fort und wenden uns dem täglichen, nicht von plötzlicher Dunkelheit abhängigen Grauen zu, wie der versifften Kaffeekanne, die Lutz jetzt zur Toilette trägt, um sie zu füllen.
Folgen wir einem in sein Büro zurückkehrenden Lutz, der, ein Lied auf den Lippen und die gefüllte Kanne in der Hand, friedvoll zu der Kaffeemaschine auf dem baufälligen Sideboard tritt. Er hat seine Beschwingtheit wiedergewonnen, wenn er auch immer wieder verstohlen über die Schulter blickend den Rückraum sichert. Die unappetitlichen Einzelheiten, die aus dem Umfeld der Kaffeemaschine zu erzählen wären, ersparen wir uns und ihm, warum ohne Not die Stimmung trüben.
Lutz verfolgt interessiert das Arbeiten der Maschine, lauscht dem Atmen des Wassers und verfolgt sein Ablaufen in die Kanne als Kaffee. »Die Nacht ist jung.« denkt er kurz, erschrickt über die nach einem ähnlichen Gedanken vorhin hereingebrochene Gefahr und denkt lieber gar nichts mehr, sondern macht sich nützlich, indem er aufräumt.
Er hebt die Zuckerzange von Boden auf, wo sie seit dem Morgen liegt und drapiert sie über dem Zuckernapf. Er rückt die ungespülten Tassen ordentlich in Reih´ und Glied, stellt sich seinen Becher bereit zum Einschenken und nimmt das Fax aus dem Ablagefach des Geräts.
Wieder tritt ein Fax in die Geschichte ein und Lutz sieht auf den ersten Blick, das Struktur und Anordnung des Textes und der Buchstaben auf dem Blatt denen der bereits bearbeiteten Faxe entsprechen. Nur stellt sich ihm sie Frage, ob es ein eine neue Leiche ankündigendes oder ein nacheilendes Fax sei. Er verschafft sich lesend Gewissheit:

Ene, mene, miste,
faul stinkt dort die Kiste,
Ene, mene, muh,
Blut ist im Schuh.



5. Hinweis für Bullen:
Das waren drei Leerzeilen und noch nicht das Ende. Es fol-gen zwei weitere Leerzeilen und dann wieder Text. Dies ist die letzte Belehrung dieser Art, also passt auf.


6. Hinweis für Bullen:
Hans Albers geht in die Hafendisco und sieht dort ein un-heimlich tolles Mädchen. Er will sie anbaggern und frägt: »Wie kommt ein so gut aussehendes Mädchen wie du an einen Ort wie diesen?« Sie schaut ihn an und antwortet kopf-schüttelnd: »Mit dem Schiff, wie sonst?«

Lutz kombinierte messerscharf (Was ist eigentlich aus Nick Knatterton, dem deutschen Vorläufer von James Bond geworden, hat den jemand in letzter Zeit gesehen?), dass mit diesem Fax keine neuen Aufregungen verbunden sein würden. Er schloss das vor allem aus dem schlechten Witz am Schluss.
Entwarnung und Zeit für den inzwischen fertigen Kaffee.
Das heiss-bittere Getränk setzte neue Energien in ihm frei. Lutz verspürte plötzlich einen unwiderstehlichen Drang zur Aktivität und schaltete den Computer ein. Er schaffte es zum erstenmal in diesem Monat sich auch mit genau so vielen Versuchen einzuloggen. Nach den üblichen Zickigkeiten des Systems, es bestand auf der sklavisch korrekten Eingabe des Passworts und akzeptierte kein ; für ein , auch nicht bei Mehrfachversuchen. Dann war das zentrale Datenbankprogramm erreicht und Lutz machte sich an die Abfrage nach der neuen Adresse der Schwarzen.
Das System verweigerte die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Hinweis, dass eine Gruppierung mit der Bezeichnung Gesellschaft der Förderer der umfänglichen Markierung des Äquatorialkreises. Schwarze Sektion nicht erfasst sei. Lutz ließ sich nicht entmutigen, er verfügte inzwischen über genug Erfahrung mit dieser Art passiven Widerstands und er wandelte den Gruppennamen leicht ab. Nach weiteren Modifikationen und Kürzungen stand noch »die Schwarzen« auf dem Monitor und Lutz´ Geduld wurde mit einer Adresse belohnt. Es war zwar die Strasse und Hausnummer, die er am vergangenen Abend erfolglos aufgesucht hatte, aber immerhin.
Weitere Versuche brachten allerdings keine Verbesserung dieses Ergebnisses. Lutz lehnte sich enttäuscht zurück.

Lutz starrte eine halbe Stunde regungslos und enttäuscht auf den widerborstigen Bildschirm. »Eigentlich kann ich das Ding auch ausschalten.« murmelte er, wie er das gerne im Zusammenhang mit technisch anspruchsvollen Aktivitäten hielt. »Die Escapetaste? ... Nee. ... Dann eine der Funktionstasten?« Lutz probierte die oberste Tastenreihe durch - und erhielt eine neue Anzeige mit der Überschrift: Kraftfahrzeugzulassungsstelle, Fahrzeuge der Schwarzen. Die angegebene Adresse sah unbekannt aus und blieb das, auch nach einem hastigen Vergleich.
»Ist um diese Zeit eh keiner da.« sagte er und nickte ein.
 
19


Die beiden Schergen aber kamen am frühen Morgen nach Sodom.
Lutz schläft jetzt bereits seit fünf Minuten. Noch ist sein Schlaf leicht und störanfällig, das Rascheln eines Blattes könnte ihn wecken, aber in dem nächtlichen Präsidium gibt es zwar genug Papier, aber zur Zeit niemand, der es rascheln lassen könnte.
Dann schaltete die Gebäudeautomatik die Flurbeleuchtung von Nacht auf Tag, die lange Reihe Leuchtstofflampen zuckt mehrmals hörbar, bevor sie ruhig und hell brennt. Lutz sass gerade und aufmerksam lauschend hinter seinem Schreibtisch. Dann hatte er die Ursache des Geräusches erkannt und trank beruhigt Kaffee und wunderte sich, dass der Kaffee so schnell abkühlt war.
Vor ihm auf dem Bildschirm flimmerte immer noch provozierend die neu ermittelte Adresse der Schwarzen: co. Palais d´Amour, Bahnhofsviertel. Dort würde auch um diese Uhrzeit noch geöffnet sein.
Lutz wählte und eine verschlafene Stimme meldete sich: »Fahrbereitschaft?«. »Ich brauche einen Wagen.« »Hab´ ich keinen mehr.« »Dann rufen Sie einen Streifenwagen.« »Bin ich nicht zuständig.« »Und wer ist zuständig?« »Auf jeden Fall nicht ich.« Die Verbindung verendete an diesem Punkt des Gespräches jäh, die Stimme hatte sich überhaupt nicht mehr verschlafen angehört.
Lutz wählte wieder, hörte zuerst hohl klingende Worte und dann, nah, fast in seinem Ohr: »Funkzentrale.« »Ich brauche einen Wagen.« »Macht die Fahrbereitschaft, die sind auch da.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Lutz wählte wieder, hörte zuerst hohl klingende Worte und dann, nah, fast in seinem Ohr: »Funkzentrale.« »Ich brauche einen Streifenwagen.« »Kollege kommt gleich.« Die Verbindung wurde nicht unterbrochen, aber fiel in die unergründlichen Tiefen einer Warteschleife, gefüllt mit dem Triumphmarsch aus Aida, schließlich: »Funkzentrale, Leitstelle Streifenwagen.« »Ich brauche einen Wagen.« »Wohin?« »Bahnhofsviertel.« »Privat oder dienstlich?« »Dienstlich.« »Wieviel Personen?« »Eine.« »Wann?« »Schnellstens.« Nach dieser Antwort knackte es in der Leitung und eine Computerstimme (gerade noch als weiblich zu erkennen) sagte: »Ihre Anforderung wurde aufgenommen. Sollte zu gegebener Zeit ein Wagen frei werden, werden Sie benachrichtigt. Die durchschnittliche Wartezeit beträgt zur Zeit zwei Stunden.« Lutz fiel der Hörer aus der Hand.
Er sprang auf und fuhr mit dem Lift (auch diese wurden von der Gebäudeautomatik wieder eingeschaltet, man könnte zu recht sagen: Das Haus ist erwacht.) in das zweite, atombombensichere Untergeschoss und stieß, mit der Kraft der zweiten Wut, die Panzertür auf.
Das Personal der Zentrale sah nur kurz von ihren Tätigkeiten auf, sie waren solche Auftritte gewohnt.
»Seid ihr verrückt geworden!« brüllte Lutz.
»Reg´ dich ab, Mann. Immer cool.«
»Ich will aber nicht cool sein.«
»Solltest du aber. So erreichst du gar nichts bei uns. Wir sind durch Vorschriften perfekt abgesichert. Was du brauchst, ist ein persönlicher Gefallen. Und mit deiner Art... ?« Der Typ mit den Rastalocken ließ das Ende des Satzes vielsagend in der Luft hängen, wo sich die aneinander gereihten Worte dreidimensional im Raum drehten, bis sie von Lutz gepflückt und recyclt wurden.
»Was stimmt nicht an meiner Art und was raucht ihr hier.«
»Du bist uncool und es war Razzia heut´ Nacht.«
»Cool sein würde wohl helfen und das muss gutes Zeug sein.«
»Es würde sehr viel helfen und das Zeug ist phänomenal.«
»Eh, Mann, wenn du ein Auto übrig hättest und dann kannst du mir noch ein Bisschen von dem Zeug einpacken, für zu Hause.«
»Na also, es geht doch. Der Wagen steht draussen, das Zeug liegt im Handschuhfach.«
»Cool, Bruder, cool.«
»Bis dann, Bruder.«

Der Wagen stand, wie zugesagt, mit laufendem Motor vor dem Haupteingang. Von aussen ließ nichts auf eine Verbindung mit diesen auf Lebenszeit beamteten Ausgeflippten schließen, die im Keller des Präsidiums gehalten wurden, oder sollte Lutz Zeuge eines gruppendynamischen Prozesses der Selbstfindung gewesen sein? Egal. Hauptsache, er hatte einen Wagen.
Lutz stieg ein und musste erst die im Fussraum herumliegenden Verpackungen einer namhaften, amerikanischen Schnellimbisskette (Hinterlegen Sie hunderttausernd in kleinen, unregistrierten Scheinen im Briefkasten des Autor, dann kann hier Ihr Name stehen.) zusammendrücken, bevor er seine Knie unter der Armaturentafel einfädeln konnte.
»Ist ´n Bisschen eng hier.« kam vom Fahrersitz.
»Sie müssten nur mal Abfall entsorgen.«
»Darf nicht, muss fahren.«
»Und wenn Sie mal müssen?«
»Hab´ ´nen Abfluss im Bodenblech.«
»Das ist unmenschlich.« regte sich Lutz auf, sah den Fahrer zum ersten Mal genauer an und verstand: »Zum Bahnhofsviertel.«
Eine haarige Schnauze wandte sich Lutz zu: »Okay, Massa.«
Der Gorilla fuhr diszipliniert und sicher durch die sich langsam belebenden Strassen. Es war der Zeitraum zwischen Nacht und Morgen, dieser lange Moment in jeder Nacht, wo müde, alkoholisierte Nachtschwärmer mit noch nicht wachen, restalkoholisierten Frühaufstehern kollidierten. Der Gorilla wich elegant aus und informierte jedesmal die Strassenreinigung: »Wracks Ecke ...strasse und ...strasse.«.
Lutz glitt in einen im Ganzen gesehenen angenehmen Zu-stand, die Bewegungen des Fahrzeuges waren gleitend glatt und in keinster Weise abrupt, das helle Singen der Reifen ließ an die demnächst fälligen Lerchen denken und der tiefe Bass des Fahrers teilte sich beruhigend dem Zwerchfell mit. Bilder entstanden, Bilder, die in ihrer persönlichen Sicht viel zu intim sind, als dass wir sie hier veröffentlichen wollen.
Dann hielten Sie und die seit langem erste ruckartige Bewegung rief Lutz in die Realität zurück und hinterließ nur noch eine gelöschte weisse Leinwand in der Abteilung Bewusstsein. Lutz würde sie mit neuen Erlebnissen füllen müssen.
»Gehen wir.« sagte ein entschlossener Lutz.
»Darf nicht.« antworte ein ebenso entschlossener Fahrer.
»Ich brauche einen Zeugen.« erklärte Lutz.
»Gorillas gelten vor Gericht nicht, also bin ich nutzlos.« er-klärte die Gestalt auf dem Fahrersitz.
»Das ist ja mein Auto!« rief Lutz aus, nachdem er eigentlich Argumente suchend durch die Windschutz geblickt hatte. Er sprang aus dem Wagen und eilte an den in der zweiten Reihe parkenden Fahrzeuge entlang nach vorn. Er war noch ein Fahrzeug entfernt, als der Motor des blauen Vectras aufheulte und das Auto mit quietschenden Reifen einen Blitzstart hinlegte, der es rasend schnell entfernte, bis es endgültig schleudernd um die nächste Ecke verschwand. Lutz hatte zwei schwarze Hüte erkannt.
Er ging langsam und atemholend zu dem Wagen zurück, mit dem er gekommen war, sah den Fahrer fragend an, schüttelte den Kopf ebenso fragend und erhielt ein bestimmtes, nicht falsch zu interpretierendes Kopfschütteln als Antwort.
Lutz drehte sich dem Haus zu und ging durch das farbige Kaleidoskop der Leuchtreklamen zum Eingang. Neben der Tür hing ein Schild: Schwarze Sektion, darüber leuchtete eine kleine Schrift: Sie kommen als Fremder und gehen als Freund und darunter klebte ein handgeschriebener Zettel:

Palais d´Amour: 1x klingeln.
Mitzi: 2x klingeln.
Schwarze: 3x klingeln.

Und darunter ragte ein runder Knopf freundlich auffordernd aus der Wand. Lutz klingelte, zählte: Eins, Zwei, Drei.
Oben ging ein Fenster auf und der Kopf einer gutaussehenden, jüngeren Frau wurde sichtbar: »Wer will zu mir?«
»Ich suche die Schwarzen.«
»Können Sie nicht lesen. Dreimal klingeln.«
»Hab´ ich doch.«
»Nein, denn ich bin Mitzi.«
»Entschuldigung.«
Das Fenster schloss sich heftig und Lutz stand unschlüssig vor dem Klingelknopf. Dann versuchte er es wieder: Eins, Zwei, Drei.
»Schon wieder der. Ich komm´ runter und zeig´ dir wie´s geht.« Das Fenster schloss sich noch etwas heftiger, der Schlag hallte in Lutz noch nach, als die Tür vor ihm geöffnet wurde. Mitzi kam heraus, drängte ihn wortlos weg und drückte auf die Klingel: Eins, Zwei, Drei und dann zuckte ihr Finger noch einmal kurz. Sie warf die Tür hinter sich zu und erschien kurze Zeit später wieder oben am Fenster: »Wer will zu den Schwarzen?«
»Ich.«
»Wer ist ich?«
»Lutz, Mordkommision.«
»Die Tür ist offen.«
Lutz zog die Tür (Kneipentüre, Lutz ist lernfähig.) auf und trat in einen düsteren Vorraum.
»Hier oben.« kam es von links oben und dort stand sie, drei Stufen höher. Lutz überwand sportlich die trennende Höhe und stand schließlich neben ihr. »Kommen Sie« sagte sie und ging durch eine Tür, einen kurzen Flur entlang und öffnete einladend eine weitere Tür: »Treten Sie ein, Sie werden erwartet.«
Der Raum entsprach in allem einem modernen Büro, heller Schreibtisch mit passendem Sessel und Besucherstuhl, eine kleine Besprechungsecke und Sideboard. Die Leuchtstofflampe war mit Tageslichtröhren bestückt und schuf eine Atmosphäre von Wärme und Behaglichkeit.
Auf dem Schreibtisch stand ein Messingschild, in das, natürlich mit schwarz ausgelegten Buchstaben, eingraviert war: Schwarze Sektion. Sie sprechen mit Frau Mechthild Börner.
Mitzi setzte sich hinter den Schreibtisch und verwandelte ihre Haltung in die respektable Frau Börner, die offene Kleidung blieb und schuf einen reizvollen Kontrast. »Was kann ich für Sie tun?«
»Sie haben den Namen ziemlich abgekürzt, finde ich.«
»Wir sind der arme Teil der Bewegung.«
»Höre ich da sowas wie Bitterkeit oder vielleicht sogar Feindschaft.« hackte Lutz zu.
Frau Börner blieb ruhig und ließ sich nicht, wie von Lutz beabsichtigt, provozieren: »Sie sollte sich untersuchen lassen. Solche Gefühle sind uns Schwarzen fremd. Besonders, nachdem wir zwar arm, aber wesentlich erfolgreicher als die Weissen sind.«
»Wie das?«
»In den jungen Staaten Afrikas ist Weiss nicht unbedingt gern gesehen. Wir haben dort einen prinzipiellen Vorteil.«
»Sie nutzen die rassistischen Vorbehalte einer kolonialen Vergangenheit?«
»Wir tragen dem gewachsenen Selbstbewusstsein Rechnung und sind nicht so arrogant wie unsere Schwestergesellschaft. Ich nehme an, dass ihnen der Baron seine üblichen Lügen aufgetischt und uns kräftig verleumdet hat. Sie dürfen nie ausser acht lassen, wie er heisst.«
»Danke für die Warnung.« und Lutz wollte ihr glauben dürfen, denn sie sah wesentlich besser aus als der alte Baron. »Sagen Ihnen die Namen: Friedrich, Lütze - Bärmann, Roth oder Lutz was?«
»Roth heisst unser Ehrenvorsitzender. Die anderen Namen sagen mir nichts. Sollten sie das?«
»Nicht unbedingt. Ausser Lutz, das bin ich und ich möchte Sie wiedersehen.«
»Dem steht nichts im Wege, ich führe ein offenes Haus.« Mitzi stand auf und ging zur Tür: »Sonst noch was?«
»Nein.« stotterte Lutz verlegen und folgte ihr zum Ausgang.
»Hat mich gefreut.« verabschiedete sie ihn und wies auf die Leuchtschrift: »Sehen Sie, es stimmt.« und schloss die Tür, bevor er antworten konnte.

Der Wagen stand, wo ihn Lutz verlassen hatte. Der Gorilla hinter dem Steuer kaute auf einem dieser nach dem männlichen Einwohner eines norddeutschen Stadtstaats benannten Teil (Bitte beachten Sie die elegante Umschreibung des Begriffs Hamburger, aber die fragliche Firma hat immer noch nicht bezahlt.).
»Eins interessiert mich doch. Wie kommt ein Gorilla in den Polizeidienst?«
»Beziehungen, Mann, Beziehungen.«
Und sie rollten auf den Hauptbahnhof zu, ein kauender Gorilla und ein sprachloser Lutz, aber das würde nicht von Dauer sein.
 
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20


Lutz brach von dort aus auf und zog auf den Lohrberg.
Sie fuhren gerade die Rampe in den Theatertunnel hinab, als Lutz seinen Namen im Funk hörte und schnellentschlossen »Stopp« rief. Diese Entschlossenheit tat not, denn im Theatertunnel hält man sich bei der in Frankfurt üblichen, zugegebenermassen etwas überhöhten Geschwindigkeit zirka zehn Sekunden im Funkkernschatten auf. Der Fahrer brachte den Wagen mit kreischenden Pneus und wild über alle Spuren schleudernd quer über zwei Fahrbahnen zum Stehen. Lutz suchte das Mikro¬on zwischen dem Abfall auf dem Boden, hob es auf und meldete sich: »Lutz hört.«
Zwischen den Störgeräuschen wurde etwas wie: »... hier schlecht an. Melden ..., wenn ... Tunnel raus.« hörbar.
Der Gorilla startete den abgewürgten Motor neu und fuhr durch das kurze Stück Tunnel.
»Lutz hört.«
»Wir sehen Sie jetzt kristallklar.« dröhnte es aus dem Lautsprecher. »Die Schrebergärtner haben angerufen. Sie seien fertig. Ob Sie kommen, oder ob sie aufräumen können?«
»Richten Sie aus, wir sind auf dem Weg.« bestätigte Lutz. »Roger, Over und Ende.«
»Mann, ist das out. Sowas von Out.« kam zurück.
Lutz hängte das Mikrofon ein, schaltete den Funk aus und wies den Fahrer an: »Zum Lohrberg. Und vorher zum Frühstücken, soviel Zeit muss sein.«
»Ich kenne da eine gute und schnell liefernde Franchisekette, die auch Frühstück liefert. Sie heisst: ...« Lutz fiel ihm in´s Wort: »Nein! Nicht in einem öffentlich - rechtlichen Fahrzeug. Die Leser haben es auch so begriffen.«

Über der Skyline von Frankfurt lag das Gold des frühen Morgens, nicht zuletzt weil der immerwährende Smog noch in den verschatteten Strassen kauerte. Lutz stand am Eingang von Friedrichs Schrebergarten und blickte auf die im Talkessel zu seinen Füssen liegende Stadt. »Für uns Beide ist diese Stadt zu klein.« zitierte er aus dem Westerngenre und ließ offen, ob er den Killer oder Obermaier meinte. Dann ging er über den knirschenden Kies in´s Gartenhaus.
Die Männer von der Spurensicherung hatten gute Arbeit geleistet und den Inhalt der Rumpelkammer übersichtlich auf die verfügbaren Flächen verteilt.
»Wenn wir wüssten, wonach Sie suchen? Dann wäre das alles einfacher. Was uns relevant erschien, liegt auf dem Tisch.« erläuterte der Chef des Spurensicherungstrupps.
»Was im Leben ist schon einfach?« erwiderte Lutz und balancierte auf Zehenspitzen zwischen den Dingen zum Tisch.
Wäre der Autor einer von diesen nach Zeilen bezahlten Lohnsklaven, müssten Sie sich jetzt durch eine für den Fortgang der Erzählung irrelevante Auflistung der auf dem Tisch liegenden Dinge lesen und mühsam die Fortsetzung des eh schon dünnen und unauffälligen Erzählfadens suchen. Da aber dieser Autor zur freien, rechtlosen und immer knapp über dem Sozialhilfesatz lebenden und in unserer Gesellschaft vom Aussterben bedrohten Spezies der unangepassten Individualisten gehört, bleibt diese Seite sauber und Sie sind in den Genuss dieses literarisch-moralischen Exkurses gekommen. Da aber die Geschichte mit einem vom Tisch hoch¬genommenen Gegenstand weitergehen muss, klinken wir uns einfach in das Ende der üblichen Aufzählung ein:
.... und schließlich lag da noch ein Buch, das seinen Titel verschwieg, aber durch den altersgebräunten und angegriffe-nen Umschlag neugierig machte. Lutz nahm es zielsicher aus der Unzahl der Dinge auf und öffnete es. Der Titel sprang ihn an:
Über die Vielfalt der Gestalten unserer Welt und wie sie von den hochgelehrten Herren der Wissenschaft und Philosophie gesehen, beschrieben und verteidigt wird. Ein Werk in sieben Büchern mit scharfgestochenen Abbildungen derer Gestalten aller erwähnten und gefundene Theorien. Gedruckt und gebunden zu Prag von Golem Press.
Das Buch lag schwer in der Hand, so als wolle es das Gewicht der versammelten Meinungen und Erkenntnisse materiell unterstützen.
»Wo habt ihr das gefunden?« fragte Lutz den neben ihm stehenden Chef.
»Das stand in dem Regal an der Rückwand. Es war noch das einzige Ding dort, als wir uns durch die anderen Dinge gearbeitet hatten.«
»Okay. Ich nehm´s mit. Der Rest ist Schrott und kann weg.« Lutz verließ die Gartenhütte und hörte hinter sich die Anordnung des Chefs: »Ihr könnt euch jetzt nehmen, was ihr ausgesucht habt. Den Rest veteilt ihr auf die Mülltonnen der Nachbarschaft. ... Langsam. Nicht drängeln. Ich sagte doch: Nicht drängeln. Wo bleibt eure Diszipl...« Die Tür schlug zu und schnitt alles Weitere gnädig ab.
»Lass uns nach Hause fahren.« ächzte Lutz, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ.
»Zu mir oder zu dir?«
»Ein Mann ist überall zu Hause, wo er die Füsse auf den Tisch legen kann.«
»Also in´s Präsidium.«
 
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