Einfach Mensch
Sehr aktives Mitglied
11
Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.
Lutz dachte über diesen Satz nach, während er Gino und Obermaier die lange, links liegende Theke und den rechts gedrängten und besetzten Zweiernischen entlang folgte, schließlich abrupt stoppen und sich in den Spalt zwischen der überragenden Tischkante und vorspringenden Sitzfläche einfädeln durfte.
Obermaier schien die gleichen Worte zu benutzen und doch verstand er ihn nicht. Lutz hatte versucht, seine Gesellschaft während des Abendessens zu vermeiden, wollte aber nicht richtig deutlich und beleidigend werden und hatte sich mit Andeutungen, Ausreden und vorgeschobenen Hinderungsgründen beholfen.
Obermaier hatte seinerseits allem verniedlichende Argumente entgegenzusetzen gehabt, machte Konzessionen und Zugeständnisse, weigerte sich schlichtweg die verschlüsselte Botschaft hinter den vordergründigen Aussagen Lutz´ zu verstehen, die einfach, klar und unmissverständlich lautete: Verpiss´ dich.
Obermaiers Immunität gegen die freundlich vorgetragenen Abwehrformulierungen löste in Lutz eine von ihm normalerweise nicht empfundene Heftigkeit aus und er ahnte etwas von den Antriebskräften eines Killers, aber noch filterten die Schichten des Grosshirns solch pure Territorialansprüche des Kleinhirns und deshalb sass Obermaier gegenüber und lag nicht verblutend auf den Fluren der Polizeidirektion.
Gino hatte seinen Akzent über die achtzehn Jahre Deutschland hinweg gerettet, aber begierig die Redensarten seiner zeitweiligen Heimat aufgesogen. Der Verständlichkeit zuliebe lassen wir diese italienische Färbung weg (Wer Sie haben will, muss sie sich vorstellen: Isch ´abe gaaar kein Auto) und protokollieren in reinen, modernisiertem Deutsch.
Gino entfaltete die typisch weitläufige südländische Hektik, laut aber dynamisch, die durch ihren Charme besticht und von denselben Leuten ohne Hast freundlich aufgenommen wird, die draussen auf der Strasse gerade noch für einen Vorteil von zwei Sekunden durch waghalsige Überholmanöver mit der Gesundheit anderer ohne nachzudenken gespielt hatten.
»Ich habe eine neue Pizza, die Pizza ist rund, kann ich nur empfehlen. Oder einen Campari Soda, nach dem Essen ist vor dem Essen. Darf´s etwas mehr sein? Ein Essen dauert drei Gänge.Womit darf ich den Tisch zustellen?«
Lutz blockte den absehbaren Strom und bestellte einen grossen Salat, Obermaier führte seinen Anbiederungsfeldzug fort und schloss sich an.
Gino quittierte die voreilige und überhastete Bestellung mit einem mitleidigen Lächeln, dachte an die Lebensart der Bullen in seiner Heimat und: »Der Star ist der Salat.«
Falls Ihnen diese Sätze irgendwie bekannt vorkommen sollten, liegen Sie vollkommen richtig. Gino benutzte für seine eigenen, gastronomischen Zwecke abgewandelte Perlen der Fussballbundestrainer von Herberger bis Vogts. Falls Sie so ein Verhalten für verabscheuungswürdig halten, lassen sie den folgenden Satz in ihren Neuronen zergehen: »Der Ball ist rund.« Haben Sie es gespürt, dieses Schwingen dieser tief in Ihrem Inneren gespannten Saite, diese Resonanz, wie sie nur ursprüngliche und gewaltige Erkenntnisse auslösen.
Sie halten das für albern? Dann hören Sie sich das nächste Mal mal selber zu, wenn Sie über Fussball reden und Sie werden verstehen, was Qualität ist.
Gino hatte es verstanden oder gefühlt, er war ein Fussballfan, besser gesagt: Er hatte sich in Fussball versetzt, wurde zum Ball, atmete Fussball und begegnete ihm ständig und überall.
Folgerichtig wies sein Lokal keine fussballfreie Zone auf, weder Wände noch Decke noch Einrichtung, der grundlegende Bezug drang überall durch.
Gino kannte alle Fakten über die Nationalmannschaft, konnte selbst sofort nach dem Aufwachen Fragen wie: Wer schoss 1923 in der erste Minute das Tor und gegen wen?. Leider bezog sich dieses Wissen nur auf die italienische Mannschaft, weshalb wir auf die Auflösung dieser Frage verzichten (Wer sie weiss, schreibe an den Autor, niemand wäre mehr überrascht, auf eine erfundene Frage eine reale Antwort zu er-halten.). Wir waren bei dem profunden Wissen und seiner Einschränkung auf die italienische Nationalmannschaft, womit dieses Wissen in Deutschland nur selten oder gar nicht gefragt war und das nennt man Kulturschock. Gino hatte ihn überwunden, indem er die grossen deutschen Trainer studiert hatte, für weitergehenden Wissens- ließ ihm der Broterwerb keine Zeit.
Und wie viele dieser auf ein Ziel fixierten Spezialisten hatte er einen Schuss in den wesentlichen Dingen, seine Verehrung für einen konkreten Club äusserte sich mitten in Sachsenhausen am Offenbacher FC.
Falls Ihnen der Gag entgangen sein sollte, leben Sie nicht im Rhein-Main-Gebiet. Für diese bedauernswerten Menschen in aller Offenheit: Diese lebendige Region mit ihrem pulsierenden Leben und den landschaftlichen Schönheiten.... Moment? Haben die vom Fremdenverkehrsverband alle Raten bezahlt? Nein! Weg mit der Werbescheisse und zurück zur Sachlichkeit.
Es gibt Städte und Orte in Rhein - Main und Offenbach. Ravensburg und Weingarten wollte ihre Feindschaft mit einer Mauer krönen, West- und Ostberlin haben das gemacht und zwischen Frankfurt und Offenbach läuft eine unsichtbare, aber umso wirksamere Trennlinie, wer sie überschreitet, wird niemals mehr derselbe sein. Das geht soweit, dass die Anrede »Sie Offenbächer« selbst in Offenbach als Beleidigung aufgefasst wird. Ein OF auf einem Nummerschild löst die grässlichsten Katastrophen aus, nicht umsonst ist das Wetteramt in Offenbach. (Bevor Sie jetzt den Autor unter die Rassisten einordnen, will ich Ihnen ganz im Vertrauen ein Geständnis machen: Offenbacher sind auch Menschen, zumindest sehen sie ihnen ähnlich.)
Die Steigerung dieser Summe von Peinlichkeiten ist der Offenbacher FC.
Diese Heimat des Bundesligaskandals kickt heute in einer dieser Ligen, deren Bezeichnung selbst dem eingefleischtesten Fan immer wieder entfällt, aber man kann ja Gino fragen. Offenbach steigt seit Jahren auf und verwechselt am Saisonende immer die Richtung, abwärts statt aufwärts.
Fügt man diese Fakten zusammen, so entwickelt sich vor einem das ärmliche, abgegriffene Panorama der Verliererseite, deshalb zog Ginos Lokal auch die passenden Leute an, Lutz kam gerne hier her.
Der Salat wurde serviert und schmeckte, ganz im Gegensatz zu den obigen Ausführungen, hervorragend.
Über dem knirschenden Geräusch der zusammenbrechen-den Zelluloseverbände in den Salatblättern (Zellulose ist ein wesentlicher Grundstoff zur Herstellung von Zellwolle und hat genau so viel Nährwert wie Papiertaschentücher. Kühe sind nicht umsonst unentwegt fressende Wiederkäuer, sie verwerten die spärlichen Nährstoffe restlos. Menschen können das nicht. Trotzdem empfiehlt die medizinische Fraktion Salat als gesund. Wer da wohl von wem bezahlt wird?) entspann sich eine munter schleppende Unterhaltung.
»Du zahlst heute, nicht wahr?« klopfte Lutz in richtigen Moment an.
Obermaier beeilte sich mit der Gabel stopfend die noch im Freien befindliche Fläche eines Salatblattes unterzubringen, dann wischte er mit der schon aufgeweichten, aber jetzt sicher gut gewürzten Serviette die an Oberlippe und Kinn verbliebene Salatsauce ab, während er mir der Zunge die Fülle in die Backentasche faltete, bevor er patenmässig nuschelnd antwortet: »Du bist dran.« Die Salatfüllung verrutschte und unterband weitere Argumente, so dass Lutz, der sich den Mund freigehalten hatte, seine Gabel schwebte immer noch mit ihrer Beladung auf halbem Wege, abwehren konnte: »Aber nur Kaffee aus dem Automaten. Das letzte Essen hab´ ich ausgegeben.«
Obermaiers Mahlzähne hatten das Blatt in schluckbare Fasern (Erinnern Sie sich noch: Papiertaschentücher) zerlegt, damit war der Weg zur heftigen Erwiderung frei: »Das war ein Hamburger im Stehen. Den letzten Besuch beim Italiener hab´ ich bezahlt. Also?«
Lutz hatte eigentlich die kleinen, handlichen Käsestückchen aufpicken wollen, sie hätten nicht behindert, aber das Blatt auf der Gabel hatte sich der Abstreifung widersetzt und so hatte er zum Mund geführt. Er mahlte immer noch daran, als ihn die sophistische Beweisführung Obermaiers erreichte. Der fragende Tonfall am Ende der Ausführungen ließ, wollte er nicht unwiederbringliche Verluste erleiden, keine Verzögerung der Antwort zu, Schweigen könnte als Zustimmung gedeutet werden. Also versuchte Lutz seiner Entgegnung mit der Zunge einen Weg zu bahnen: »Essen (Vorstoss der Zunge bis zu den Lippen) ist (erneuter Vorstoss, diesesmal sogar mit einer Beseitigung eines Blattrestes verbunden) Essen.« Teile des Blattes fanden sich vor Lutz auf der Tischdecke wieder, er hatte das zweite Essen zu nachdrücklich betont.
Obermaier zerdrückte eines dieser kleinen und handlichen Käsestückchen mit der Zunge an der Innenseite an der Wange und konterte ungehindert: »Du bist blank. Stimmt´s?«
Lutz dachte an die, dank der beiden schweigsamen Spender, inzwischen auf zehn angewachsene Zahl der Scheine in seiner Tasche und unterdrückte gerade noch ein triumphierendes Lächeln, bevor er, scheinbar geknickt, zugab: »Du hast´s erfasst.«
Obermaier genoss den Erfolg und beging den Fehler, seinen Sieg auf sich wirken zu lassen, in der aufsteigenden Euphorie hörte er sich sagen: »Ich mach´ das.« und an Lutz Reaktion erkannte er sofort, dass Verhandlungen über eine totale oder auch nur teilweise Rücknahme dieser Zusage nutz-, sinn- und aussichtslos sein würden. Lutz würde auf die Prinzipien verweisen, die den richtigen Mann und Beamten ausmachen und damit einen gesichtsverlustfreien Rückzug vollständig versperren.
Lutz hatte die Folgereaktionen seines Gegenübers aufmerksam studiert und in allen Schritten nachvollzogen, er kam gleichzeitig mit Obermaiers Schluss, er habe verloren, zu seinem, also Lutz´ Schluss, er habe gewonnen und gab seinen Gefühlen kurz, aber prägnant Ausdruck: »Danke für die Einladung.«
Die restlichen Teile aus den Schüsseln vor ihnen verzehrten sie schweigend, Obermaier, weil er keinen Fehler mehr machen wollte, Lutz, weil er Hunger hatte.
Kurz bevor sie Gino verließen, kam ein Schwarzer, die Haare, nicht die Hautfarbe, mit dunklem Teint an der Nische vorbei und legte ein rotes Blatt auf den Tisch. Lutz sah ihm nach, wie er in den rauchigen Tiefen des Lokals verschwand und wunderte sich, dass der Mann keine weiteren Blätter mehr auf die folgenden Tische legte: »Scheint nur für uns zu sein?.«
Obermaier las und schob es zu Lutz: »Schon wieder für dich, ich versteh´s nicht.«
Lutz las die schwarzen, scheinbar tropfenden Frankensteinlettern:
Versetz´ dich in ihn, werde er, atme wie er, bewege dich wie er, sprich wie er, denke wie er und ihr werdet zusammentreffen. Du darfst jetzt gehen.
Mehr, aber auch nicht weniger stand dort, Lutz faltete das Blatt und steckte es in die Tasche, zu dem anderen Papier und sagte nur: »War wirklich für mich.«
Dann folgten sie der letzten Anweisung.
Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.
Lutz dachte über diesen Satz nach, während er Gino und Obermaier die lange, links liegende Theke und den rechts gedrängten und besetzten Zweiernischen entlang folgte, schließlich abrupt stoppen und sich in den Spalt zwischen der überragenden Tischkante und vorspringenden Sitzfläche einfädeln durfte.
Obermaier schien die gleichen Worte zu benutzen und doch verstand er ihn nicht. Lutz hatte versucht, seine Gesellschaft während des Abendessens zu vermeiden, wollte aber nicht richtig deutlich und beleidigend werden und hatte sich mit Andeutungen, Ausreden und vorgeschobenen Hinderungsgründen beholfen.
Obermaier hatte seinerseits allem verniedlichende Argumente entgegenzusetzen gehabt, machte Konzessionen und Zugeständnisse, weigerte sich schlichtweg die verschlüsselte Botschaft hinter den vordergründigen Aussagen Lutz´ zu verstehen, die einfach, klar und unmissverständlich lautete: Verpiss´ dich.
Obermaiers Immunität gegen die freundlich vorgetragenen Abwehrformulierungen löste in Lutz eine von ihm normalerweise nicht empfundene Heftigkeit aus und er ahnte etwas von den Antriebskräften eines Killers, aber noch filterten die Schichten des Grosshirns solch pure Territorialansprüche des Kleinhirns und deshalb sass Obermaier gegenüber und lag nicht verblutend auf den Fluren der Polizeidirektion.
Gino hatte seinen Akzent über die achtzehn Jahre Deutschland hinweg gerettet, aber begierig die Redensarten seiner zeitweiligen Heimat aufgesogen. Der Verständlichkeit zuliebe lassen wir diese italienische Färbung weg (Wer Sie haben will, muss sie sich vorstellen: Isch ´abe gaaar kein Auto) und protokollieren in reinen, modernisiertem Deutsch.
Gino entfaltete die typisch weitläufige südländische Hektik, laut aber dynamisch, die durch ihren Charme besticht und von denselben Leuten ohne Hast freundlich aufgenommen wird, die draussen auf der Strasse gerade noch für einen Vorteil von zwei Sekunden durch waghalsige Überholmanöver mit der Gesundheit anderer ohne nachzudenken gespielt hatten.
»Ich habe eine neue Pizza, die Pizza ist rund, kann ich nur empfehlen. Oder einen Campari Soda, nach dem Essen ist vor dem Essen. Darf´s etwas mehr sein? Ein Essen dauert drei Gänge.Womit darf ich den Tisch zustellen?«
Lutz blockte den absehbaren Strom und bestellte einen grossen Salat, Obermaier führte seinen Anbiederungsfeldzug fort und schloss sich an.
Gino quittierte die voreilige und überhastete Bestellung mit einem mitleidigen Lächeln, dachte an die Lebensart der Bullen in seiner Heimat und: »Der Star ist der Salat.«
Falls Ihnen diese Sätze irgendwie bekannt vorkommen sollten, liegen Sie vollkommen richtig. Gino benutzte für seine eigenen, gastronomischen Zwecke abgewandelte Perlen der Fussballbundestrainer von Herberger bis Vogts. Falls Sie so ein Verhalten für verabscheuungswürdig halten, lassen sie den folgenden Satz in ihren Neuronen zergehen: »Der Ball ist rund.« Haben Sie es gespürt, dieses Schwingen dieser tief in Ihrem Inneren gespannten Saite, diese Resonanz, wie sie nur ursprüngliche und gewaltige Erkenntnisse auslösen.
Sie halten das für albern? Dann hören Sie sich das nächste Mal mal selber zu, wenn Sie über Fussball reden und Sie werden verstehen, was Qualität ist.
Gino hatte es verstanden oder gefühlt, er war ein Fussballfan, besser gesagt: Er hatte sich in Fussball versetzt, wurde zum Ball, atmete Fussball und begegnete ihm ständig und überall.
Folgerichtig wies sein Lokal keine fussballfreie Zone auf, weder Wände noch Decke noch Einrichtung, der grundlegende Bezug drang überall durch.
Gino kannte alle Fakten über die Nationalmannschaft, konnte selbst sofort nach dem Aufwachen Fragen wie: Wer schoss 1923 in der erste Minute das Tor und gegen wen?. Leider bezog sich dieses Wissen nur auf die italienische Mannschaft, weshalb wir auf die Auflösung dieser Frage verzichten (Wer sie weiss, schreibe an den Autor, niemand wäre mehr überrascht, auf eine erfundene Frage eine reale Antwort zu er-halten.). Wir waren bei dem profunden Wissen und seiner Einschränkung auf die italienische Nationalmannschaft, womit dieses Wissen in Deutschland nur selten oder gar nicht gefragt war und das nennt man Kulturschock. Gino hatte ihn überwunden, indem er die grossen deutschen Trainer studiert hatte, für weitergehenden Wissens- ließ ihm der Broterwerb keine Zeit.
Und wie viele dieser auf ein Ziel fixierten Spezialisten hatte er einen Schuss in den wesentlichen Dingen, seine Verehrung für einen konkreten Club äusserte sich mitten in Sachsenhausen am Offenbacher FC.
Falls Ihnen der Gag entgangen sein sollte, leben Sie nicht im Rhein-Main-Gebiet. Für diese bedauernswerten Menschen in aller Offenheit: Diese lebendige Region mit ihrem pulsierenden Leben und den landschaftlichen Schönheiten.... Moment? Haben die vom Fremdenverkehrsverband alle Raten bezahlt? Nein! Weg mit der Werbescheisse und zurück zur Sachlichkeit.
Es gibt Städte und Orte in Rhein - Main und Offenbach. Ravensburg und Weingarten wollte ihre Feindschaft mit einer Mauer krönen, West- und Ostberlin haben das gemacht und zwischen Frankfurt und Offenbach läuft eine unsichtbare, aber umso wirksamere Trennlinie, wer sie überschreitet, wird niemals mehr derselbe sein. Das geht soweit, dass die Anrede »Sie Offenbächer« selbst in Offenbach als Beleidigung aufgefasst wird. Ein OF auf einem Nummerschild löst die grässlichsten Katastrophen aus, nicht umsonst ist das Wetteramt in Offenbach. (Bevor Sie jetzt den Autor unter die Rassisten einordnen, will ich Ihnen ganz im Vertrauen ein Geständnis machen: Offenbacher sind auch Menschen, zumindest sehen sie ihnen ähnlich.)
Die Steigerung dieser Summe von Peinlichkeiten ist der Offenbacher FC.
Diese Heimat des Bundesligaskandals kickt heute in einer dieser Ligen, deren Bezeichnung selbst dem eingefleischtesten Fan immer wieder entfällt, aber man kann ja Gino fragen. Offenbach steigt seit Jahren auf und verwechselt am Saisonende immer die Richtung, abwärts statt aufwärts.
Fügt man diese Fakten zusammen, so entwickelt sich vor einem das ärmliche, abgegriffene Panorama der Verliererseite, deshalb zog Ginos Lokal auch die passenden Leute an, Lutz kam gerne hier her.
Der Salat wurde serviert und schmeckte, ganz im Gegensatz zu den obigen Ausführungen, hervorragend.
Über dem knirschenden Geräusch der zusammenbrechen-den Zelluloseverbände in den Salatblättern (Zellulose ist ein wesentlicher Grundstoff zur Herstellung von Zellwolle und hat genau so viel Nährwert wie Papiertaschentücher. Kühe sind nicht umsonst unentwegt fressende Wiederkäuer, sie verwerten die spärlichen Nährstoffe restlos. Menschen können das nicht. Trotzdem empfiehlt die medizinische Fraktion Salat als gesund. Wer da wohl von wem bezahlt wird?) entspann sich eine munter schleppende Unterhaltung.
»Du zahlst heute, nicht wahr?« klopfte Lutz in richtigen Moment an.
Obermaier beeilte sich mit der Gabel stopfend die noch im Freien befindliche Fläche eines Salatblattes unterzubringen, dann wischte er mit der schon aufgeweichten, aber jetzt sicher gut gewürzten Serviette die an Oberlippe und Kinn verbliebene Salatsauce ab, während er mir der Zunge die Fülle in die Backentasche faltete, bevor er patenmässig nuschelnd antwortet: »Du bist dran.« Die Salatfüllung verrutschte und unterband weitere Argumente, so dass Lutz, der sich den Mund freigehalten hatte, seine Gabel schwebte immer noch mit ihrer Beladung auf halbem Wege, abwehren konnte: »Aber nur Kaffee aus dem Automaten. Das letzte Essen hab´ ich ausgegeben.«
Obermaiers Mahlzähne hatten das Blatt in schluckbare Fasern (Erinnern Sie sich noch: Papiertaschentücher) zerlegt, damit war der Weg zur heftigen Erwiderung frei: »Das war ein Hamburger im Stehen. Den letzten Besuch beim Italiener hab´ ich bezahlt. Also?«
Lutz hatte eigentlich die kleinen, handlichen Käsestückchen aufpicken wollen, sie hätten nicht behindert, aber das Blatt auf der Gabel hatte sich der Abstreifung widersetzt und so hatte er zum Mund geführt. Er mahlte immer noch daran, als ihn die sophistische Beweisführung Obermaiers erreichte. Der fragende Tonfall am Ende der Ausführungen ließ, wollte er nicht unwiederbringliche Verluste erleiden, keine Verzögerung der Antwort zu, Schweigen könnte als Zustimmung gedeutet werden. Also versuchte Lutz seiner Entgegnung mit der Zunge einen Weg zu bahnen: »Essen (Vorstoss der Zunge bis zu den Lippen) ist (erneuter Vorstoss, diesesmal sogar mit einer Beseitigung eines Blattrestes verbunden) Essen.« Teile des Blattes fanden sich vor Lutz auf der Tischdecke wieder, er hatte das zweite Essen zu nachdrücklich betont.
Obermaier zerdrückte eines dieser kleinen und handlichen Käsestückchen mit der Zunge an der Innenseite an der Wange und konterte ungehindert: »Du bist blank. Stimmt´s?«
Lutz dachte an die, dank der beiden schweigsamen Spender, inzwischen auf zehn angewachsene Zahl der Scheine in seiner Tasche und unterdrückte gerade noch ein triumphierendes Lächeln, bevor er, scheinbar geknickt, zugab: »Du hast´s erfasst.«
Obermaier genoss den Erfolg und beging den Fehler, seinen Sieg auf sich wirken zu lassen, in der aufsteigenden Euphorie hörte er sich sagen: »Ich mach´ das.« und an Lutz Reaktion erkannte er sofort, dass Verhandlungen über eine totale oder auch nur teilweise Rücknahme dieser Zusage nutz-, sinn- und aussichtslos sein würden. Lutz würde auf die Prinzipien verweisen, die den richtigen Mann und Beamten ausmachen und damit einen gesichtsverlustfreien Rückzug vollständig versperren.
Lutz hatte die Folgereaktionen seines Gegenübers aufmerksam studiert und in allen Schritten nachvollzogen, er kam gleichzeitig mit Obermaiers Schluss, er habe verloren, zu seinem, also Lutz´ Schluss, er habe gewonnen und gab seinen Gefühlen kurz, aber prägnant Ausdruck: »Danke für die Einladung.«
Die restlichen Teile aus den Schüsseln vor ihnen verzehrten sie schweigend, Obermaier, weil er keinen Fehler mehr machen wollte, Lutz, weil er Hunger hatte.
Kurz bevor sie Gino verließen, kam ein Schwarzer, die Haare, nicht die Hautfarbe, mit dunklem Teint an der Nische vorbei und legte ein rotes Blatt auf den Tisch. Lutz sah ihm nach, wie er in den rauchigen Tiefen des Lokals verschwand und wunderte sich, dass der Mann keine weiteren Blätter mehr auf die folgenden Tische legte: »Scheint nur für uns zu sein?.«
Obermaier las und schob es zu Lutz: »Schon wieder für dich, ich versteh´s nicht.«
Lutz las die schwarzen, scheinbar tropfenden Frankensteinlettern:
Versetz´ dich in ihn, werde er, atme wie er, bewege dich wie er, sprich wie er, denke wie er und ihr werdet zusammentreffen. Du darfst jetzt gehen.
Mehr, aber auch nicht weniger stand dort, Lutz faltete das Blatt und steckte es in die Tasche, zu dem anderen Papier und sagte nur: »War wirklich für mich.«
Dann folgten sie der letzten Anweisung.