2. Sat - Der Substanzaspekt
Es ist heute Mode geworden, spirituelle Zielsetzungen mit Erlösungsgedanken im unergründlichen Nirwana, dem weißen Licht und dem Urgrund allen Seins in Verbindung zu bringen. Buddhistische Lehren florieren und zu Recht meldet sich der Klerus zu Wort und warnt vor einer drohenden Krise spiritueller Grundwerte durch den Einfluß sogenannter Selbsterlöserreligionen. Denn wo keine Individualität mehr ist, da ist auch keine Gnade mehr. Der Verlust des Persönlichen, die Entpersönlichung unserer Gesellschaft hat in der Zersplitterung der Familien schon ein wahrhaft erschreckendes Ausmaß erreicht und so verwundert es nicht, daß sich diese Gedankenmuster auch entsprechend philosophisch ausdrücken. Es scheint beinahe so, daß sich die Menschen der heutigen Zeit ihre Erlösung im weißen Licht fast zwanghaft wünschen, weil sie die Qual der Einsamkeit im Lichte ihrer rein egoistischen Zielsetzungen selber nicht mehr ertragen. Die Flucht ins Nirwana ist allerdings sicherlich nur ein sehr zweifelhafter Versuch einer letztlichen Sinngebung.
Wir brauchen die Ewigkeit nicht herbeizusehnen, denm sie ist bereits. Es täte uns viel besser, einfach unser Unterscheidungsvermögen zu schärfen, um den Unterschied zwischen ewig und zeitweilig klarer wahrnehmen zu können. Wir alle wissen, daß wir sterblich sind, aber Sterblichkeit bedeutet nicht automatisch Verlust der Individualität. Es gibt offensichtlich auch eine ewige Individualität. Ja, Ewigkeit bekommt überhaupt erst ihren wahren Sinn, wenn sie zum Garant für Verläßlichkeit und Beständigkeit wird. Wir definieren ja Realität als das, worauf man sich verlassen kann. Träume sind nur lauter Schäume. Sie haben eine flatterhafte Natur und wer z.B. träumt, von einem Tiger verfolgt zu werden, ist froh, wenn er morgens aufwacht und seufzt: "Oh, es war ja nur ein Traum."
Nun, dieses Leben und viele vor oder nach ihm, so informieren uns die Veden, sind auch eine Art Traum, weil nichts wirklich beständig darin ist. In Wahrheit sehnen wir uns nach Stabilität und meinen dabei im Allgemeinen nicht die Erlösung im weißen Licht der Unpersönlichkeit. Es sind die Wünsche nach einem ewigen Leben in einem wunderbaren Körper voller Unsterblichkeit und Möglichkeiten. Der Wunsch nach der wahren Familie, den wahren Freunden, dem ewig beständigen Heim, dem ewigen Glück schlechthin in all seinen wunderbaren Facetten.
Ewigkeit ist nur der Spiegel der Zeit, in dem sich die Qualität des Sinns und des Bewußtseins bricht, um uns zu zeigen, ob es gut war, was wir wollten und was wir taten. Es ist die Peripherie des Daseins, zu der alles ausstrahlt, um wieder zu seinem Ursprung zurückzukehren.
Die spirituelle Wirklichkeit ist in ihrer Dreifaltigkeit einmalig und wunderbar. Ihren Wert schätzt man erst, wenn man zu erkennen beginnt, was ein Verlust des Seelischen eigentlich bedeutet.
Materielles Leben ist wie ein Schatten, wie das Spiegelbild eines echten Baumes am Ufer eines Sees, das im bewegten Wasser schwingt. Was in Wirklichkeit ganz oben ist, erscheint im Spiegelbild ganz unten, und so heißt es in den Veden: "Es gibt einen Banyanbaum, dessen Wurzeln nach oben und dessen Äste nach unten gerichtet sind und dessen Blätter die vedischen Hymnen sind. Seine Zweige sind die Objekte der Sinne und seine Wurzeln die fruchtbringenden Tätigkeiten der menschlichen Gesellschaft. Niemand kann verstehen, wo er endet und wo er beginnt und wo sein Ursprung liegt. Doch sollte man den Baum entschlossen mit dem Schwert des Wissens und der Loslösung fällen."
Materielle Existenz beginnt mit einer Verzerrung des Ewigen (sat), das zu Asat, dem Zeitweiligen, der großen Illusion des Lebens wird. Hier beginnt der Kreislauf wiederholter Geburten und Tode auf der Basis einer projektiven Welt. Wahrheit wird zum Schein.
Unzählig sind die mythischen Geschichten über die gleißenden Irrlichter der Versuchung, die das Bewußtsein vernebeln und die Seele in den Abgrund reißen. Wer seine Welt auf Sand baut, fällt zwangsläufig der Verirrung zum Opfer und so folgt der Verzerrung ewiger Wahrheit auf dem Fuß auch der Verlust klaren Bewußtseins (cit). Der Kreislauf der Geburten führt durch eine Welt des Unbewußten (acit). Jedes neue Leben ist ein ständiger Neubeginn nie endenden Lernens. Wer nicht weiß - sich seiner nicht bewußt ist - muß lernen; lernen, in welchen Projektionen er sich verfangen hat und welche Fehler er ständig macht. Glück (ananda) wird zu Leid (nirananda). Materielles Leben ist wahrhaft der ständige Versuch, auch nur einigermaßen seinen Standard zu halten. Doch der Wettlauf mit der Zeit erscheint sinnlos, ereilt einen am Ende doch der Tod und das Rad des Lebens dreht sich langsam aber unbeirrbar weiter.
Viele Menschen fragen sich oft, warum sie sich denn eigentlich nicht an ihre letzten Leben erinnern können. In ihrem Karma, den Fehlern, die sie machen, und in der tiefen Verleugnung ihrer wahren spirituellen Individualität liegt die Antwort. Unbewußtheit ist eine Folge falscher Handlungen, die wiederum eine Folge falscher Motive, die nicht in Übereinstimmung mit dem höheren Sinn stehen, sind. Wer aufgrund falscher Vorstellungen und Wünsche ständig den Handlungsraum anderer Wesen mißbraucht oder verletzt, muß mit einem Verlust seines eigenen Bewußtseinsraumes rechnen und verliert so durch Verkörperung zwangsläufig seine Erinnerung. Große Weise wußten stets über ihre Vergangenheit Bescheid. Es ist eher eine Frage spiritueller Integrität, wie sehr man sich an seine eigene Vergangenheit oder die anderer Wesen erinnern kann.
Die materielle Welt ist eine Welt zeitweiliger, unbewußter, leidvoller Existenz, der eine spirituelle Welt voll ewiger, glückvoller Bewußtheit gegenüber steht und jedes Wesen hat zumindest eine Wahl. Die zwischen hier und dort.
Das ist insbesondere das Vorrecht jener Wesen, die zum marginalen Bereich der Schöpfung gehören. Die marginale Energie ist eine Sonderform, die sich zwischen materieller und spiritueller Energie befindet und als eine Art Puffer fungiert. Sie zerfällt wiederum in zwei Untergruppen, die man im Sanskrit Shiva und Jiva nennt. Während Shiva die Gesamtheit des marginalen Schöpfungsbereiches verkörpert, sind die Jivas lediglich winzige fragmentarische Teilchen dieser Enrgie. Im Allgemeinen gehören die meisten materiell verkörperten Wesen von der kleinen Ameise bis hinauf zu Brahma, der zentralen Intelligenz unseres Universums, zum Bereich der Jivas. Wegen seiner Winzigkeit passiert es dem Jiva, daß er von der materiellen Energie bedeckt werden kann, ebenso wie ein Wanderer am Berg ganz oft plötzlich vom Nebel eingehüllt wird und so vom Weg abkommen und in den Abgrund stürzen kann.
Alle drei Schöpfungsenergien - spirituelle, marginale und materielle - spannen so eine umfassende Wirklichkeit auf, deren tieferes Verständnis für einen raschen spirituellen Fortschritt unerläßlich ist.
Liebe Grüße
C