Neurose
Viele Zwangsstörungen (z. B. Waschzwang) oder die
Phobien (z. B. Soziophobie) werden von Befürwortern des Begriffs zu den
Neurosen gezählt.
Als differentialdiagnostisches Kriterium zur Abgrenzung von der Psychose gilt unter anderem auch, dass die Neurotiker ihre Zwänge als in ihnen selbst liegend zu erkennen vermögen, während die von einer
Psychose Betroffenen im akuten Fall an dem
Unvermögen leiden,
ihre innere Situation (Stimmen hören u. ä.) von der umgebenden Realität zu differenzieren.
Ein Auszug aus der Neurosenlehre von Alfred Adler 1913:
Jede Neurose kann als ein Versuch verstanden werden, sich aus einem Gefühl der Minderwertigkeit zu befreien, um ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen.
Der Weg der Neurose führt nicht auf die Linie der sozialen Aktivität, zielt nicht auf die Lösung der gegebenen Lebensfragen, mündet vielmehr in den kleinen Kreis der Familie und erzielt die Isolation.
Der Wirklichkeit zum großen Teile abgewandt, führt der Nervöse ein Leben in Einbildung und Fantasie und bedient sich einer Anzahl von Kunstgriffen, die es ihm ermöglichen, realen Forderungen auszuweichen und eine ideale Situation anzustreben, die ihn einer Leistung für die Gemeinschaft und der Verantwortlichkeit entzieht.
Diese Enthebungen und die Privilegien der Erkrankung, des Leidens, bietet ihm den Ersatz für das ursprüngliche, riskante Ziel der realen Überlegenheit. So stellt sich die Neurose und die Psyche als ein Versuch dar, sich jedem Zwang der Gemeinschaft durch einen Gegenzwang zu entziehen.
Letzterer ist derart zugeschnitten, dass er der Eigenart der Umgebung und ihren Forderungen wirkungsvoll entgegentritt.
Der Gegenzwang hat einen revoltierenden Charakter, holt sein Material aus geeigneten affektiven Erlebnissen oder aus Beobachtungen, präokkupiert die Gedanken- die Gefühlssphäre mit solcher Regung, aber auch mit Nichtigkeiten, wenn sie nur geeignet sind, den Blick und die Aufmerksamkeit des Patienten von den Lebensfragen abzulenken.
Auch die Logik gelangt unter die Diktatur des Gegenzwangs.
Dieser Prozess kann bis zur Aufhebung der Logik, wie in der Psychose, gehen.
Alles Wollen und alles Streben des Nervösen steht unter dem Diktat seiner Prestigepolitik, greift immer Vorwände auf, um Lebensfragen ungelöst zu lassen, und wendet sich automatisch gegen die Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls.
(Adler, Alfred: Praxis und Theorie der Individualpsychologie: Vorträge zur Einführung in die Psychotherapie für Ärzte, Psychologen und Lehrer. In: W. Metzger (1974), Frankfurt: Fischer S. 40-47.)
Es gibt verschiedene Grade dieser Zwänge, so dass nicht alle Patienten einer Behandlung bedürfen.
Als subjektiv erleichternd wirkt sich die weite Verbreitung eines bestimmten Typs von Neurose in der jeweils betroffenen Kultur aus, der dadurch zur sozialen Norm wird.
Dadurch wird das Gefühl sozialer Ausgrenzung beziehungsweise Minderwertigkeit (s. o.) abgeschwächt.