Vorwort: Eine integrale Sicht von Geist und Kultur
Tony Schwartz, ehemaliger Reporter der New York Times und Verfasser des Buches Was wirklich zählt Auf der Suche nach Weisheit und Lebenssinn heute (München 1995), hat Ken Wilber den "umfassendsten philosophischen Denker unserer Zeit" genannt Ich teile diese Meinung, und ich war dieser Meinung schon vor zwanzig Jahren, als ich die Zeitschrift ReVision Journal gründete, um ein Forum für die integrale Sichtweise zu schaffen, die Ken damals bereits propagierte. Ich hatte gerade sein erstes Buch gelesen, Das Spektrum des Bewusstseins, das er als 23jähriger schrieb. Der Wunderknabe lebte in Lincoln, Nebraska, wo er Teller wusch, meditierte und jedes Jahr ein Buch schrieb. Die Zeitschrift Main Currents in Modern Thought, in der sein erster Aufsatz erschien, stand kurz vor dem Aus, und ich wollte den integrativen Ansatz und Geist, für den diese Zeitschrift stand, am Leben erhalten. Dies und mein Wunsch, dabei mit Ken zusammenzuarbeiten, veranlassten mich, ihn zum Einstieg ins Verlagsgeschäft zu überreden. Wir waren damals beide 27, und innerhalb von zwei Jahren "stand" die Zeitschrift ReVision, deren Hauptthema die integrale Sichtweise war, der wir beide anhingen und die Ken schon so beeindruckend formulierte.
Aber eben weil dieser Ansatz so umfassend war, provozierte er teilweise sehr heftige Reaktionen. Nehmen wir zum Beispiel sein großes Werk Eros, Kosmos, Logos. Zweifellos hat dieses Buch viele Anhänger. Michael Murphy zählt es mit Aurobindos Göttlichem Leben, Heideggers Sein und Zeit und Whiteheads Prozess und Realität zu den vier größten Büchern dieses Jahrhunderts. Für Larry Dossey ist es "eines der bedeutendsten je veröffentlichten Bücher", und Roger Walsh stellt die Weite von Wilbers Sichtweise neben diejenige Hegels und Aurobindos. Der Scharfsinnigste von ihnen allen erinnert an Alasdair MacIntyres bekanntes Diktum, dass man nur die Wahl zwischen Aristoteles und Nietzsche habe, und sagt, dass die heutige Welt vielmehr unter dreien wählen könne: Aristoteles, Nietzsche und Wilber.
Aber die Gegner des Buchs, von denen auf den folgenden Seiten (auch) zu lesen sein wird, treten nicht weniger zahlreich, lautstark und entschieden auf. Die Feministinnen behaupten X, die Jungianer meinen Y, und die Dekonstruktivisten, die es nie fassen können, wenn man sie selbst kontextualisiert, sagen Z, ganz zu schweigen von der allgemeinen Empörung der Tiefenökologen, der mythopoetischen Bewegung, der Empiriker, der Behavioristen, der Gnostiker, der Neuheiden, der Prämodernisten, der Astrologen um nur einige wenige zu nennen. Die meisten Kritiker nehmen Anstoß an Wilbers Angriffen auf ihr eigenes Fachgebiet, während sie seinen Attacken auf andere Fachgebiete Brillanz bescheinigen oder sie zumindest stillschweigend akzeptieren. Niemand hat jedoch bisher eine überzeugende Kritik von Wilbers Gesamtansatz vorgelegt. Der kollektive Aufschrei ist recht beeindruckend aber die Kritik an Wilbers Ansatz ist doch eher dürftig.
Fassen wir doch einmal ins Auge, worum es bei dieser Diskussion wirklich geht. Es ist ja nicht zu übersehen, dass Wilbers Ansatz, wenn er denn im großen und ganzen richtig ist, schlicht nichts anderes leistet als eine schlüssige Integration praktisch aller menschlichen Wissensgebiete.
Dabei ist Wilbers Ansatz das Gegenteil von Eklektik. Er hat eine stimmige Vision vorgelegt, welche die Geltungsansprüche der unterschiedlichsten Fachgebiete zu einem nahtlosen Ganzen zusammenführt: Physik und Biologie, Ökowissenschaften, Chaostheorie und Systemwissenschaft, Medizin, Neurophysiologie und Biochemie, bildende Kunst, Dichtkunst und Ästhetik, Entwicklungspsychologie und ein weites Spektrum psychotherapeutischer Richtungen von Freud über Jung bis Piaget, die Theoretiker der Großen Kette von Platon und Plotin im Westen bis Shankara und Nagarjuna im Osten, die Modernisten von Descartes und Locke bis Kant, die Idealisten von Schelling bis Hegel, die Postmodernisten von Foucault und Derrida bis Taylor und Habermas, die weitere hermeneutische Tradition von Dilthey über Heidegger bis Gadamer, die Gesellschaftstheoretiker von Comte und Marx bis Parsons und Luhmann, und die kontemplativen und mystischen Schulen der großen östlichen und westlichen meditativen Traditionen in den großen Weltreligionen. Und dies ist nur eine Auswahl. Wer wollte sich also darüber wundern, dass diejenigen, die sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert haben, es nicht hinnehmen wollen, wenn dieses Gebiet nicht als der Angelpunkt des Kósmos* dargestellt wird?
* Da der Begriff "Kosmos" heute zum Synonym von "Universum" geworden ist und damit nur der physische Weltraum gemeint ist, benutzt Wilber "Kósmos" im alten pythagoreischen Sinn für die Gesamtheit aller Seinsbereiche "von der Materie bis zur Mathematik und zum Theos". (Anm. d. Red.)
Mit anderen Worten, für die Kritiker steht einiges auf dem Spiel, und man wird es mir an dieser Stelle nicht als Parteinahme auslegen, wenn ich sage, dass diejenigen, die sich ihr Lieblingsthema in Wilbers Ansatz herauspicken, bloß einen bestimmten Zweig am Ast seiner Darstellung attackieren. Wenn man aber statt dessen den ganzen Baum betrachtet, und wenn Wilbers Ansatz grundsätzlich richtig ist, dann beinhaltet er mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte.
Wie kommt das? Worin besteht letztlich Wilbers Methode? Sie besteht darin, dass er bei der Betrachtung eines jeden Fachgebiets einfach auf eine Ebene der Abstraktion zurückgeht, auf der eine Gemeinsamkeit zwischen den widerstreitenden Ansätzen sicht bar wird. Nehmen wir zum Beispiel die großen religiösen Traditionen der Welt: Stimmen sie darin überein, dass Jesus Gott ist? Nein. Also müssen wir dies über Bord werfen. Stimmen sie alle darin überein, dass es einen Gott gibt? Dies hängt davon ab, was man unter "Gott" versteht. Bejahen sie alle einen Gott, wenn man mit "Gott" einen Geist meint, der in vielerlei Hinsicht nicht beschreibbar ist, von der buddhistischen Leerheit bis zum jüdischen Geheimnis des Göttlichen? Ja, dies ist eine taugliche Verallgemeinerung, was Wilber eine "Orientierungs-Verallgemeinerung" oder eine "profunde Schlussfolgerung" nennt.
In derselben Weise setzt sich Wilber mit allen anderen menschlichen Wissensgebieten auseinander, von der bildenden Kunst bis zur Dichtkunst, vom Empirismus bis zur Hermeneutik, von der Psychoanalyse bis zur Meditation, von der Evolutionstheorie bis zum Idealismus. In allen Fällen extrahiert er eine Reihe profunder und verlässlicher, um nicht zu sagen unwiderleglicher Orientierungs-Verallgemeinerungen. Er hält sich nicht mit der Frage auf und dies sollten auch seine Leser nicht tun , ob andere Fachgebiete die Schlussfolgerungen eines bestimmten Fachgebietes akzeptieren oder nicht; man sollte sich zum Beispiel nicht daran stören, wenn die Schlussfolgerungen des Empirikers nicht mit Schlussfolgerungen des Gläubigen übereinstimmen. Man trägt einfach die Orientierungs-Verallgemeinerungen zusammen, als enthielte jedes Gebiet außerordentlich wichtige Wahrheiten. Dies ist der erste Schritt in Wilbers integrierendem Verfahren, eine Art Phänomenologie allen menschlichen Wissens auf der Ebene von Orientierungs-Verallgemeinerungen. Mit anderen Worten, man nimmt alle Wahrheiten zusammen, die jedes Fachgebiet der Menschheit anbieten zu können glaubt. Man nimmt für einen Augenblick einfach an, dass sie wirklich wahr sind.
Dann fügt Wilber diese Wahrheiten zu Ketten oder Netzen miteinander verknüpfter Schlussfolgerungen zusammen. Dabei wendet sich Wilber scharf von jeder bloßen Eklektik ab und versucht eine Synopsis. Dieser zweite Schritt in Wilbers Verfahren besteht darin, dass er alle Wahrheiten oder Orientierungs-Verallgemeinerungen, die er im ersten Schritt gewonnen hat, zusammennimmt und fragt: In welchem kohärenten System ließe sich die
größtmögliche Zahl dieser Wahrheiten zusammenfassen?
Das in Eros, Kosmos, Logos vorgelegte und auf den folgenden Seiten klar und einfach zusammengefasste System ist Wilber zufolge dasjenige, das die größtmögliche Zahl von Orientierungsverallgemeinerungen aus der 4größtmöglichen Zahl menschlicher Forschungsgebiete miteinander verbindet. Wenn also Wilbers Vision gültig ist, dann enthält und berücksichtigt, das heißt integriert sie mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte.
Der Grundgedanke ist ganz einfach. Es geht nicht darum, welcher Theoretiker recht hat und welcher unrecht. Wilbers Gedanke ist vielmehr, dass jeder im Grunde recht hat, und er möchte herausfinden, wie so etwas möglich ist. "Ich glaube nicht", so Wilber, "dass irgendein Mensch sich zu einhundert Prozent irren kann. Statt also zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, nehmen wir vielmehr an, dass jeder Ansatz wahr ist, aber nicht vollständig, und versuchen dann herauszufinden, wie viele Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt uns für eine von ihnen zu entscheiden und die anderen zu verwerfen."
Der dritte Schritt in Wilbers Ansatz ist schließlich die Entwicklung eines neuen Typs einer kritischen Theorie. Sobald er sein Gesamtschema der größten Zahl von Orientierungs-Verallgemeinerungen fertiggestellt hat, kritisiert er damit die Begrenztheit der engeren Ansätze, ohne die grundlegenden Wahrheiten dieser Ansätze zu verwerfen. Er kritisiert also nicht ihre Wahrheiten, sondern nur ihre Unvollständigkeit.
Diese seine integrale Sichtweise liefert letztlich die Erklärung für die polaren Reaktionen auf sein Werk, das heißt für die Auffassung einerseits, dass es zum Bedeutendsten zählt, was je geschrieben wurde, und die wütenden Angriffe des Chors der Entrüsteten andererseits. Die heftigste Kritik kommt fast ausnahmslos aus den Reihen der Theoretiker, die ihr eigenes Fachgebiet für das einzig wahre Fachgebiet und ihre eigene Methode für die einzig gültige Methode halten. An Wilber wurde bisher nie ernstzunehmende Kritik deshalb geübt, weil er eines der Wissensgebiete, die er betrachtet, falsch verstanden oder falsch dargestellt hätte, sondern deshalb, weil er Gebiete berücksichtigt, die der Kritiker jeweils nicht für wichtig hält, oder einfach deshalb, weil sie sich von ihm nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Die Freudianer sagen nie, dass Wilber Freud nicht verstanden hätte, aber sie finden, dass er die Mystik weglassen sollte. Die Strukturalisten und Poststrukturalisten sagen nicht, dass er ihr Fachgebiet nicht verstanden hätte, aber sie meinen, dass er all diese schrecklichen anderen Disziplinen weglassen sollte. Den Angriffen liegt immer dieselbe Haltung zugrunde: Wie können Sie es wagen zu sagen, mein Fachgebiet sei nicht das einzig wahre!
Jedenfalls steht, wie gesagt, viel auf dem Spiel. Ich habe Ken Wilber einmal gefragt, wie er selbst seine Arbeit sieht, und er antwortete mir: "Sie ist vielleicht eine der ersten glaubwürdigen weltumspannenden Philosophien, eine wirkliche Zusammenfassung von Ost und West, Nord und Süd." Ganz in diesem Sinne äußerte sich vor kurzem der bekannte Religionswissenschaftler Huston Smith: "Niemand, auch nicht Jung, hat so wie Wilber die westliche Psychologie für die überdauernden Einsichten der großen Weisheitstraditionen der Welt sensibilisiert. Langsam, aber sicher, Buch um Buch, legt Wilber die Grundlagen einer echten west-östlichen Psychologie."
Zugleich aber sagt Wilber auch: "Man sollte nicht zuviel Aufhebens davon machen. Es sind ja nur Orientierungs-Verallgemeinerungen. Die Details kann jeder so ergänzen, wie es ihm gefällt." Anders ausgedrückt: Wilber will uns nicht in eine begriffliche Zwangsjacke stecken. Im Gegenteil: "Ich hoffe zu
zeigen, dass es im Kosmos mehr Raum gibt, als man sich vielleicht vorgestellt hat."
Eng wird der Raum lediglich für diejenigen, die ihre Pfründe retten wollen, indem sie den Kosmos auf ein bestimmtes Fachgebiet selbstredend ihr eigenes reduzieren und die Wahrheiten anderer Disziplinen ignorieren wollen. "Man kann den verschiedenen Methoden und Disziplinen nur gerecht werden", so Wilber, "indem man zeigt, wie sie zusammenpassen. Nur so kann eine echte Weltphilosophie entstehen." Andernfalls hat man, wie er sagt, "Haufen", keine Ganzheiten, und so kommt gar nichts zu seinem Recht.
Aristoteles sagte einmal, dass man den Wert seines Lebens erst beurteilen könne, wenn dieses zu Ende gehe, dass man erst sagen könne, ob man ein tugendhaftes Leben geführt habe, wenn man dieses als Ganzes betrachte. Wir wissen natürlich, wie schwierig es ist, das Ganze zu begreifen, geschweige denn es zu bewerten, vor allem, wenn man berücksichtigt, wie Wilber immer wieder sagt, dass ein Ganzes immer Teil eines größeren Ganzen ist. Und deshalb kennen wir die Leidenschaft, aber auch den Schmerz des Ringens um die Erkenntnis, wie die Teile unseres individuellen Lebens zusammenpassen, was ihr Wesen ist, womit und mit wem die Teile verbunden sind.
Eben dabei hilft uns Ken Wilber; er zeigt ein Muster auf, nach dem das ganze Leben, der ganze Kosmos, der ganze GEIST miteinander verbunden sind. Sein Werk ist nicht weniger als ein Führer zu den Geheimnissen des Lebens, des biologischen, des gesellschaftlichen, des kulturellen und des spirituellen Lebens. Er hat für uns eine Landkarte entworfen, eine integrale Sichtweise der modernen und postmodernen Welt, eine Vision, die das Beste alter Weisheit mit dem Besten moderner Erkenntnis verbindet. Sein außerordentliches Werk gibt uns den Mut, unsere eigene Arbeit fortzusetzen, die lebenslange Reise zur Ganzheit, der niemand von uns ausweichen kann, die aber die wenigsten von uns richtig verstehen konnten, bis Wilber seine integrale Vision präsentiert hat.
Jack Crittenden