Von Rudolf Steiner
Die Geheimwissenschaft im Umriß
Auszug / Seite 40
Der geisteswissenschaftliche Darsteller setzt also voraus,
dass der Leser mit ihm gemeinsam die Tatsachen sucht. Seine
Darstellung wird in der Art gehalten sein, dass er von dem
Auffinden dieser Tatsachen erzählt und dass in der Art, wie
er erzählt, nicht persönliche Willkür, sondern der an der
Naturwissenschaft heranerzogene wissenschaftliche Sinn herrscht.
Er wird daher auch genötigt sein, von den Mitteln zu sprechen,
durch die man zu einer Betrachtung des Nichtsinnlichen, des
Übersinnlichen , gelangt. Wer sich in eine geheimwissenschaftliche
Darstellung einläßt, der wird bald einsehen, dass durch sie
Vorstellungen und Ideen erworben werden, die man vorher nicht
gehabt hat. So kommt man zu neuen Gedanken auch über das, was
man vorher über das Wesen des >Beweisens< gemeint hat.
Man lernt erkennen, dass für die naturwissenschaftliche
Darstellung das >Beweisen< etwas ist, was an diese gewissermaßen
von außen herangebracht wird. Im geisteswissenschaftlichen
Denken liegt aber die Betätigung, welche die Seele beim
naturwissenschaftlichen Denken auf den Beweis wendet, schon
in dem Suchen nach den Tatsachen. Man kann diese nicht finden,
wenn nicht der Weg zu ihnen schon ein beweisender ist. Wer
diesen Weg wirklich durchschreitet, hat auch schon das
Beweisende erlebt; es kann nichts durch eine von außen
hinzugefügten Beweis geleistet werden. Dass man dieses im
Charakter der Geheimwissenschaft verkennt, ruft viele
Missverständnisse hervor. Alle Geheimwissenschaft muss aus
zwei Gedanken hervorkeimen, die in jedem Menschen Wurzel
fassen können. Für den Geheimwissenschafter, wie er hier
gemeint ist, drücken diese beiden Gedanken Tatsachen aus,
die man erleben kann, wenn man sich der rechten Mittel
dazu bedient. Für viele Menschen bedeuten schon diese
Gedanken höchst anfechtbare Behauptungen, über die sich
viel streiten lässt, wenn nicht gar etwas, dessen
Unmöglichkeit man >beweisen< kann. Diese beiden Gedanken
sind, dass es hinter der sichtbaren Welt eine unsichtbare,
eine zunächst für die Sinne und das an diese Sinne
gefesselte Denken verborgene Welt gibt, und dass es dem
Menschen durch Entwickelung von Fähigkeiten, die in ihm
schlummern, möglich ist, in diese verborgene Welt
einzudringen. Solch eine verborgene Welt gibt es nicht,
sagt der eine. Die Welt, welche der Mensch durch seine
Sinne wahrnimmt, sei die einzige. Man könne ihre Rätsel
aus ihr selbst lösen. Wenn auch der Mensch gegenwärtig noch
weit davon entfernt sei, alle Fragen des Daseins beantworten
zu können, es werde schon die Zeit kommen, wo die
Sinneserfahrung und die auf sie gestützte Wissenschaft
die Antworten werden geben können. Man könne nicht behaupten,
dass es nicht eine verborgene Welt hinter der sichtbaren
gebe, sagen andere; aber die menschlichen Erkenntniskräfte
können nicht in diese Welt eindringen. Sie haben Grenzen,
die sie nicht überschreiten können. Mag das Bedürfnis des
>Glaubens< zu einer solchen Welt Zuflucht nehmen: eine
wahre Wissenschaft, die sich auf gesicherte Tatsachen
stützt, könne sich mit einer solchen Welt nicht beschäftigen.
Eine dritte Partei ist die, welche es für eine Art
Vermessenheit ansieht, wenn der Mensch durch seine
Erkenntnisarbeit in ein Gebiet eindringen will, in bezug
auf welches man auf >Wissen< verzichten und sich mit
dem >Glauben< bescheiden soll. Wie ein Unrecht empfinden
es die Bekenner dieser Meinung, wenn der schwache Mensch
vordringen will in eine Welt, die einzig dem religiösen
Leben angehören könne. Auch das wird vorgebracht, dass allen
Menschen eine gemeinsame Erkenntnis der Tatsachen der
Sinneswelt möglich sei, dass aber in bezug auf die
übersinnlichen Dinge einzig die persönliche Meinung des
einzelnen in Frage kommen könne und dass von einer allgemein
geltenden Gewißheit in diesen Dingen nicht gesprochen werden
sollte. Andere behaupten vieles andere.
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Wie kann man aber über dasjenige überhaupt urteilen, von dem
man behauptet, dass man es nicht kenne? Unbefangenes Denken
muss sich zu dem Satze bekennen, dass man nur von demjenigen
spreche, was man kennt, und dass man über dasjenige nichts
feststelle, was man nicht kennt. Solches Denken kann nur von
dem Rechte sprechen, dass jemand eine Sache mitteile, die er
erfahren hat, nicht aber von einem Rechte, dass jemand für
unmöglich erkläre, was er nicht weiß oder nicht wissen will.
Man kann niemand das Recht bestreiten, sich um das Übersinnliche
nicht zu kümmern; aber niemals kann sich ein echter Grund
dafür ergeben, dass jemand nicht nur für das sich maßgebend
erkläre, was er wissen kann, sondern auch für alles das, was
>ein Mensch< nicht wissen kann. Denen gegenüber, welche es als
Vermessenheit erklären, in das übersinnliche Gebiet einzudringen,
muss eine geheimwissenschaftliche Betrachtung zu bedenken geben,
dass man dies könne und dass es eine Versündigung sei gegen die
dem Menschen gegebenen Fähigkeiten, wenn er sie veröden lässt,
statt sie zu entwickeln und sich ihrer zu bedienen. Wer aber
glaubt, die Ansichten über die übersinnliche Welt müssen ganz
dem persönlichen Meinen und Empfinden angehören, der verleugnet
das Gemeinsame in allen menschlichen Wesen. Es ist gewiss richtig,
dass die Einsicht in diese Dinge ein jeder durch >sich selbst<
finden müsse, es ist auch eine Tatsache, dass all diejenigen
Menschen, welche nur weit genug gehen, über diese Dinge nicht
zu verschiedenen, sondern zu der gleichen Einsicht kommen.
Die Verschiedenheit ist nur solange vorhanden, als sich Menschen
nicht auf einem wissenschaftlich gesicherten Wege, sondern auf
dem der persönlichen Willkür den höchsten Wahrheiten nähern wollen.
Das allerdings muss ohne weiteres wieder zugestanden werden,
dass nur derjenige die Richtigkeit des geheimwissenschaftlichen
Weges anerkennen könne, der sich in dessen Eigenart einleben will.
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Und es bedeutet in einem gewissen höheren Sinne eine Schwächung
des Lebens, ja einen seelischen Tod, wenn der Mensch sich
gezwungen sieht, sich von dem Übersinnlichen abzuwenden oder es
zu leugnen. Ja, es führt unter gewissen Voraussetzungen zur
Verzweiflung, wenn ein Mensch die Hoffnung verliert, dass ihm
das Verborgene offenbar werde. Dieser Tod und diese Verzweiflung
in ihren mannigfaltigen Formen sind zugleich innere, seelische
Gegner geheimwissenschaftlicher Bestrebung. Sie treten ein,
wenn des Menschen innere Kraft dahinschwindet.
Das war ein kleiner Auszug aus dem Vorwort von Rudolf Steiner
aus seiner Geheimwissenschaft im Umriß, und er zeigt bereits
im Jahr 1910 die Zerwürfnisse zwischen Menschen auf, die sich
aufgrund ihrer Haltung den Dingen gegenüber ergeben. Im übrigen
ist Rudolf Steiner für mich der bedeutendste Seher unserer Zeit,
und zwar deshalb, weil er mit seiner Anthroposophie einen
kulturell spirituellen Ansatz für die ganze Menschheit bietet.
Für mich hat sich das Studium seiner Werke besonders gelohnt,
da ich unzählige Bestätigungen meiner eigenen Anschauungen
daraus ziehen konnte, was mir auch die Sicherheit gab, dass
ich damit nicht allein auf der Welt bin. Das bedeutet aber nun
keineswegs, dass ich ein Anhänger der Anthroposophen in unserer
jetzigen Zeit bin, denn mir schmeckt auch hier die Gewichtung
auf das Seelische nicht, und zwar deswegen, weil hier Tatsachen
so vermischt und verschoben werden, dass eine echte
Differenzierung der Verhältnisse zwischen Wesensgliedern und
Erdenzuständen nicht möglich scheint. Das ist für mich auch
ein gewisses Manko in den Darstellungen von Rudolf Steiner,
obwohl es bei genauerem Studium doch sichtbar wird, dass er
die einzelnen Bausteine des Übersinnlichen und Ursprünglichen
recht genau wiedergibt, und es nur in der Darstellung gewisser
Zusammenhänge Ungenauigkeiten gibt. Das wird aber von mir
nicht als Fehler angelastet, sondern soll nur eine subjektive
Feststellung meinerseits sein. Und damit zeige ich auch den
Unterschied zwischen Steiners Anschauungen und den meinen auf,
dass er immer darum bemüht war, einen kulturellen Ansatz
für die Spiritualität und Entwicklung der Menschheit zu bieten,
in den sich jeder Mensch eingliedern kann, wobei ich ganz
subjektiv zuerst meine eigene Entwicklung in den Vordergrund
stelle, getreu nach dem Motto: Erkenne zuerst dich selbst, und
dann alles andere, je nach Neigung und Notwendigkeit.
Der erste Satz, den ich aus Steiners Buch geschrieben habe, ist
für mich dabei ein entscheidender, denn es geht darum, trotz
unterschiedlicher Haltung gemeinsam und offen die verborgenen
Tatsachen zu suchen, und zwar mit klarem Verstand, und dann erst
das seelenbezogene der Erkenntnisse in sich aufleben zu lassen.
Auch so gesehen geht es mir zuerst um die Erkenntnisfähigkeit des
Ich,s, denn das Ich hat noch Entwicklung durchzumachen, nicht die
Seele, denn diese hat ihre Entwicklung bereits hinter sich. Das
bedeutet aber nicht, dass die Seele sich nicht weiter entwickelt,
nur tut sie es durch das Ich und nicht umgekehrt. Und es bedeutet
auch nicht, dass ich den Wert der einzelnen Seele oder der
Menschheitsseele geringschätze, wenn ich auf das Ich und
dessen gegenwärtige Entwicklung separiert von der Seele
hinweise. Eine diesbezügliche Differenzierung ist notwendig,
auch wenn das zunächst vielen Menschen vollkommen unsympathisch
sein mag, weil aus dem reinen Ich herausgesprochen, eine gewisse
Kälte mitschwingt. Diese Kälte wandelt sich aber durch
entsprechende Erkenntnisse über die Tatsachen der übersinnlichen
und auch ursprünglichen Welt in ein sanftes, warmes Licht, das
einen in ein klares höheres Bewusstsein einhüllt. Und daran
ist auch wieder die Seele ganz eigenständig mit ihrer Art von
Bewusstsein und Wesen beteiligt.
Herzlichen Gruß von Alwin