Ich folge dem Ruf meines Herzens

Mein Geliebter

was sagst du dazu? Stella ist so einfach mir nichts dir nichts mit Mahoud gegangen. Du fragst mich auch nicht, ob ich mich auch auf ein derartiges Abenteuer eingelassen hätte. Du weisst es, so gut kennst du mich inzwischen.
So lass uns einfach weiterhin betrachten, wie sich diese neue Wirklichkeit entfaltet:



Leben wie einem Gott gaben sie ihm.
Ewigen Atem für einen Gott bringen
sie für ihn herunter.
Dann hießen sie Ziusudra, den König,
den Bewahrer des Namens der Pflanzenwelt
und des Samens der Menschheit,
wohnen im Land des Übergangs,
dem Land Dilmun, dem Ort, wo die Sonne aufgeht.

Inschrift auf Keilschrifttafel aus Nippur



Um sieben Uhr morgens landete die Maschine der Gulf Air auf der Insel Bahrain. Mahoud bekam das Einreisevisum für Stella von Mohamed Ahziz sofort ausgehändigt. Mohamed Ahziz versprach, alle weiteren Visa bis heute Abend zu besorgen.

Sie nahmen einen Mietwagen und fuhren zum Hotel Meridien. Während der Fahrt erzählte Stella von einem Traum, den sie im Flugzeug hatte. Von einem jungen Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Dieses Mädchen wäre sie selbst gewesen. Sie hätte Wäsche an der großen Mündung eines Flusses gewaschen.

Stella schwieg, schien zu überlegen.
„Wie ging der Traum weiter?“, wollte er endlich wissen.
„Ich weiß es nicht mehr.“ Sie zuckte enttäuscht die Schultern. “Ich habe ihn vergessen.“

Mahoud bog in die Auffahrt zum Hotel ein. Die Suite, die er gebucht hatte, lag im obersten Stockwerk und musste aus „Tausend und Einer Nacht“ sein. Dekor in Königsblau, ebenso die Seidenkissen, die orientalischen Teppiche und die Vorhänge an den Fenstern, die der Page gerade aufzog.

Nun waren sie allein. Er überbrückte ihre Befangenheit, telefonierte mit dem Room Service und bestellte eine Flasche Dom Perignon.

Sie ging auf die Terrasse und schaute hinaus auf die Weite des Persischen Golfs. Mahoud folgte ihr, in der Hand zwei gefüllte Gläser.

„Cheers, Stella. Willkommen auf Bahrain.“
„Auf Bahrain, Mahoud, - der legendären Insel Dilmun.“

Sie tranken schweigend, dann legte er den Arm um ihre Schulter. Als sie sich küssten, dachte Stella noch, sein Schnurrbart kitzelt ein wenig, dann trug sie eine wohlige Welle davon.

„Komm“, sagte er und zog sie ins Zimmer. Er bedeckte sie mit Küssen, sein Atem ging schneller.
„Du willst mich jetzt bestimmt verführen, oder?“
„Das habe ich fest vor.“



„Stella, wir könnten zu den Ausgrabungsstätten fahren, wenn du willst. Vorher muss ich nur einige Telefonate erledigen.“

Sie zog sich an und hörte ihn auf arabisch telefonieren.
Dann ging sie hinaus auf die Terrasse, um auf Mahoud zu warten. Die Sonne war inzwischen weiter gewandert, doch das Blau des Golfes immer noch unvergleichlich schön. Stella verweilte eine ganze Zeit dort, schweigend, mit Blick auf das Meer. Als sie sich endlich umdrehte, entfuhr ihr ein Wow! Darauf war sie nicht vorbereitet. Mahoud stand vor ihr in arabischer Landeskleidung, mit weißer, bodenlanger Thobe. Auf dem Kopf trug er die Ghutra, das obligate Kopftuch. Stella sah ihn stumm an, erst jetzt wurde ihr bewusst, wo sie sich befand und vor allem, wer er war.

„Stella, was ist mit dir?“ fragte er lachend.
„Sei gegrüßt, mein Beduine“, flüsterte sie.
„Ich bin der gleiche Mensch geblieben“, meinte er belustigt. „Komm. Wir fahren.“

Sie erreichten das Dorf Barbar. Einen Kilometer dahinter hielt er den Wagen an und parkte im Schatten einer Palme. Mahoud führte sie einen ausgetretenen Ziegenpfad entlang bis zu einem freien Platz mit verwitterten Erdhügeln und Gräben. Alles schien vor langer Zeit verlassen worden zu sein. Er nahm ihre Hand und erklärte:

„Genau an dieser Stelle haben dänischen Archäologen einen Tempel entdeckt.“

Mahoud zeigte auf die Hügel hinüber.

„Dort haben sie einen Brunnen ausgegraben, sie fanden Tonscherben...“
„Und Münzen und Alabastervasen“, beendete Stella den Satz.

Sie sprach leise, mehr zu sich selbst, bückte sich und fuhr fast zärtlich mit der Hand über den ausgetrockneten Boden. Dann flüsterte sie:
„Sie kamen von den Sternen und vermählten sich mit den Töchtern der Erde und bauten die Zikkurat für Götter, die vom Himmel stiegen.“

Mahoud hatte einen großen Baum ausfindig gemacht. Sie setzten sich darunter, um ein wenig auszuruhen.
„Was meintest du mit, sie kamen von den Sternen?“, fragte er neugierig.
„Ich meinte die Sumerische Sage, die vor ein paar tausend Jahren auf Keilschrifttafeln geschrieben wurde. Du kennst ja die Gilgamesch Sage.“

Sie sah ihn an.
„Ich glaube, dass wir alle von den Sternen kamen, in welcher Form auch immer, und dorthin zurückkehren. Nicht alle Menschen verstehen mich, aber als Künstler genießt man eine gewisse Narrenfreiheit. Miguel Angelo versuchte mich zu verstehen, aber bedauerlicherweise sind wir daran gescheitert. Wir waren zu verschieden.“
„Stella, du bist wirklich seltsam, aber ich verstehe und liebe dich.“
„Ich glaube auch, dass wir uns schon lange kennen. Allein aus diesem Grund begleitete ich dich und habe Vertrauen zu dir.“

Es war still dort, wo sie saßen, nur manchmal wehte der Wind die Laute vom nahen Dorf zu ihnen herüber. Mahoud war schweigsam und Stella dachte an die Archäologen. Ob sie wohl genauso unter diesem Baum gesessen haben und sich über versunkene Kulturen Gedanken machten? Über die Stadt Ur und über Mesopotamien, es soll ja die Wiege der Menschheit gewesen sein.

Das Lachen spielender Kinder hörte sie. Und weit in der Ferne den Ruf eines Esels. Mahoud legte den Arm um ihre Schulter und küsste sie sanft.

Nachdenklich nahm sie eine Hand voll Erde und meinte:
„Vielleicht war Gilgamesch auch an dem Platz, wo wir gerade sitzen. Er hat auf Dilmun das Wasser des Lebens gesucht.“
„Mit Sicherheit war er hier, Stella, aber er konnte seinen Freund Enkidu dennoch nicht retten.“
„Was du sagst, stimmt mich traurig. Erzähle mir ein wenig über Gilgamesch.“
„Wusstest du, dass Gilgamesch und sein Freund bis in den Libanon kamen? Sie drangen in den verwunschenen Wald der heiligen Zedern ein und besiegten dort das Ungeheuer Chuwawa.“
„Chuwawa?“ Sie musste lachen, meinte, das klänge wie irgendeine exotische Hunderasse. Wieder ernst fragte sie, wie er das Gilgamesch Epos interpretieren würde.
„Ja wie“, überlegte er. „Es geht vermutlich darum, dass ein Gott Mensch wird. Die Sage handelt vom Verlust der Unsterblichkeit und der daraus folgenden Angst vor dem Tod. Es ist das Aufbegehren gegen die Götter.“

Mahoud kaute gedankenverloren auf einem Grashalm herum. „Ich glaube, es geht um die endgültige Abnabelung von ihnen.“
„Unser Preis für Freiheit und Selbstbewusstsein? Und du meinst, wir kommen einfach ungestraft davon?“

Nachdenklich zog er die Stirn in Falten.
„Bahrain ist die Insel Dilmun, wo Ziusudra lebte. Bei euch in der Bibel wird er Noah genannt. Die Götter straften damals die Menschheit mit der Sintflut. Ja, es liegt alles in Allahs Hand.“

Er erhob sich.

„Lass uns aufbrechen. Ich möchte mit dir nach Al-Manama fahren. Es gibt dort im alten Viertel ein kleines Restaurant, die haben immer frischen und sehr guten Fisch. Danach gehen wir in den Souk, einverstanden?“

„Einverstanden.“

Kismet 2005







 
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Mein geliebter Freund

das Kismet von Stella und Mahout entfaltet sich rasend schnell. Sie haben sich viel zu erzählen an jenem Abend im Restaurant, im alten Stadtteil von Al-Manama. Es wird zwar behauptet, dass in den ersten Zehn Minuten aufgrund unbewusstem Transfer alles in der gegenüberliegenden Person registriert wird. Aber egal, sie reden viel und stellen Fragen um voneinander zu erfahren. Mahoud hat einen Bruder in Dubai der dort eine grosse Baufirma leitet. Die Eltern blieben im Libanon.

Dann kommt wohl das Al-Andalus Trauma zur Sprache, als Stella ahnungslos meint, die Mauren wären ganze siebenhundert Jahre auf der Iberischen Halbinsel zu Besuch gewesen. Die Araber hingegen sprechen noch heute vom Al-Andalus Trauma, sie empfinden, dass man sie von dort vertrieben habe...


„Mahoud! Ich sehe es dir an, dass du dich ärgerst. Ihr redet immer noch vom Al-Andalus Trauma. Was sollen wir in Portugal und Spanien über das Trauma, Tariq, Musa, Al-Mansor sagen? Nicht zu vergessen den bösen Yussuf! Den haben sogar eure eigenen Kalifen gefürchtet, als er von Nordafrika übersetzte und mit seinem Heer über das Land wütete. Den Kalifen von Sevilla hat er gleich mitgenommen, er starb in Nordafrika in Gefangenschaft.“

Stella blickte Mahoud neugierig an, er aber saß mit ausdruckslosem Gesicht da und sagte nichts, so fuhr sie fort. „Zwischen Lissabon und der Algarve gibt es eine kleine Stadt mit einer maurischen Burg auf dem Berg. Cacer bedeutet in Arabisch Burg, unten fließt der Rio Sado, umgeben von Sumpfland. Das Städtchen heißt Alcacer do Sal. Dort haben mehrere blutige Schlachten zwischen den Kreuzrittern und den Mauren stattgefunden, die sich oben in der Burg verschanzt hatten.“

Mahoud schwieg beharrlich. Stella erzählte weiter über Alcacer do Sal:

„Heute fährt man auf einer neu erbauten Autobahnbrücke über den Sadofluß. Das Sumpfland ist bevölkert von vielen Störchen, überall findet man ihre Nester und die Störche haben so viel Futter, dass sie im Winter nicht einmal wegfliegen. Eine friedliche Landschaft ist dort heute und ich frage dich, Mahoud, heilt die Zeit nicht alle Wunden? Alles wird einmal Geschichte.“

„Ich glaube dir, wir alle haben alte Wunden, aber man lässt sie nicht verheilen.“

„Mahoud, ich bin ein offener Mensch und wenn wir uns wirklich verstehen wollen, ist es wichtig, sich nichts vorzumachen. Natürlich soll man den anderen nicht vor den Kopf stoßen, aber wir müssen ehrlich miteinander umgehen. Ich habe nicht vor, mit dir über Politik zu streiten, glaube aber, Frieden bedeutet nicht nur der von Politikern, sondern der eines jeden Einzelnen. Und das versuchen wir gerade. Ich liebe dich, Mahoud.“

Kismet 2005

Die erste kleine Kostprobe vom Zusammenstossen zweier Welten, mein Geliebter. Das Scenario wechselt jetzt in den Souk, wo beide sich die verschiedenen Geschäfte anschauen:


„Gehen wir weiter.“

„Nein, Stella, du brauchst für morgen unbedingt eine Abaaya. Es ist in Saudi Arabien Pflicht für jede Frau“, er lächelte, „und einen Schleier.“

Sie sah ihn mit großen Augen an. Verständnislos fragte sie, ob er das im Ernst gemeint hätte. Er nickte.

„Ich lasse mich nicht einsperren, Mahoud!“
„Stella“, beruhigte er sie, „es ist besser und auch sicherer, wenn du dich anpasst, glaube mir. Ist doch nur für die Öffentlichkeit.“
„Mahoud!“, entgegnete sie aufgebracht, „ich werde mich nicht hinter so einem Vorhang verstecken, wie sie im Fernsehen beim Afghanistan-Krieg gezeigt wurden.“
„Der Schleier in Saudi Arabien darf hauchdünn sein und erspart uns eine Menge Ärger. Es geht ja nur um die Strasse.“

Er wechselte ein paar Worte mit dem Verkäufer, der mit zwei Abaayas wiederkam.

Neugierig befühlte sie den Stoff: schwarze, halbschwere Seide und ausgezeichnet verarbeitet. Ein Muster war eingewebt und der Rand mit Brokatborte verziert.

Sie zog kurz entschlossen eine Abaaya über und betrachtete sich erneut im Spiegel. Ja, das war die totale Verwandlung, und irgendwie begann es ihr zu gefallen. Die Abbaya reichte bis zum Boden.

Als der Verkäufer mit den Schleiern kam, suchte sie einen leichten aus. Sie band ihn um den Kopf und wickelte ihn vorne so, dass nur noch ihre Augen frei waren. Aber dann entschied sie sich anders und drapierte den Schleier um. Nunmehr war ihr ganzes Gesicht verhüllt.

Stella stand da, völlig schockiert. Schockiert darüber, an sich selbst erkannt zu haben, wie man einfach verschwindet, weil Männer mit alten Köpfen ihre Frauen lieber verstecken, als sie stolz der Öffentlichkeit zu zeigen. Aber da war ein anderer Teil von ihr, der begann sich zu begeistern. Dieser Teil war fasziniert von der für sie exotisch anmutenden Maskerade. Sie beschloss, in den nächsten Wochen das Spielchen mitzumachen, um dann wieder in ihre alten Kleider zu schlüpfen.

„Stella, mein Vögelein.“, hörte sie wie aus weiter Ferne Mahouds Stimme. „Du siehst fantastisch aus.“

Ich sehe fantastisch aus. Sie fragte sich bange, ob der Schleier Einfluss auf ihre Persönlichkeit haben könne?

Kismet 2005
 
Geliebter Freund


du möchtest von mir wissen, warum Mahoud sich nach Indien aufmachte, ob es nur wegen des Freundes war. Natürlich steckt mehr dahinter. Mahoud lebte mehrere Monate im Kloster Simla, das war nach dem Tod seiner Frau. Aus Dankbarkeit gegenüber dem Lama, fasste er den Plan, dem Lama eine Zeder zu bringen, aus seiner Heimat, dem Libanon. Du musst wissen, mein Geliebter, das sind Ereignisse die wirklich passiert sind, die kann nicht einmal ich erfinden. So lass uns doch kurz auf Qashqai steigen, unserern wertvollen Teppich aus Persien und beobachten, was Mahoud im Libanon macht:


Nein, mich trifft keine Schuld an Miriams Tod, überlegte er jetzt, zog seinen braunen Wildlederblouson an und nahm die Autoschüssel. Ich habe gehandelt, wie jeder im Glauben Allahs handeln würde, um seine Familie zu schützen. Er ging zum Lift und fuhr hinunter in die Tiefgarage, stieg in seinen blauen Land Rover und fuhr los.

Mahoud schaltete das Radio an und hörte die Neun Uhr Nachrichten. Von der geplanten Friedenskonferenz der arabischen Staaten wurde berichtet. Sie war für Anfang Februar geplant. Oh Allah, mein Land ist über Jahre durch einen unsinnigen Krieg ausgeblutet und wird jetzt neu aufgebaut. Wie sinnlos, so ein Krieg! Vater verdient zwar eine Menge Geld am Wiederaufbau, doch da sind einige, die wollen keinen Frieden.

Er wechselte die Fahrspur und nahm die Küstenstraße nach Norden. Mahoud ließ sich Zeit. Der Himmel war weiterhin wolkenlos, nur der Kondensstreifen eines Flugzeugs zeichnete sich dort oben ab. Da dachte Mahoud daran, dass er morgen bereits in der Maschine nach Delhi sitzen würde. Er schaltete das Radio aus und schob eine CD ein. Das Lied A thousand years von Sting erklang. I may have lived a thousand lives, a thousand times.


Die Strecke war gut ausgebaut, er fuhr jetzt schneller. Vorbei an der Stadt Jebail, von der man erzählte, sie sei die älteste bewohnte Stadt der Welt. Früher einmal hieß sie Byblos. Von hier wurde das Zedernholz und der Purpur verschifft - vor ein paar tausend Jahren.


Bei Tripolis bog Mahoud in die Berge ab, die Straße stieg in langgezogenen Kurven steil an. In der Ferne tauchten bereits die verschneiten Berge auf und er dachte, wie glücklich er sich hier oben fühlte.

In Saudi Arabien nahm er oft das Flugzeug von Dharan nach Riad und von dort weiter nach Nagran, an der Grenze zum Yemen. Er besaß hier zusammen mit seinem Bruder Mohamed ein Haus an den Hängen des Asir Gebirges. In der Hitze der Sommermonate sind die Berge drüben eine Erholung und es gibt, wie hier im Libanon, richtige Nadelwälder. Die sind ihm lieber, als die klimatisierten Shopping Centren und Hotels.


Das ist ein guter Platz, fand er und hielt an. Wenn ich höher hinauf fahre, ist der Boden schon gefroren. Mahoud stieg aus und atmete tief die kalte, vom Aroma der Zedern durchtränkte Luft ein. Er grub ohne Schwierigkeit eine kleine Zeder aus und ließ noch ein wenig Erde an der Wurzel, um sie nicht zu verletzen.

Wie oft war ich hier oben mit Miriam und bin mit ihr durch die Berge gewandert, dachte er traurig. Miriam, ich hole die Zeder auch in deinem Gedenken, denn heute ist dein Geburtstag. Ich bringe sie dem Lama nach Simla. Von Delhi nehme ich den Nachtzug dorthin. Montag gebe ich sie ihm. Ob er sich darüber freuen wird? Mahoud lächelte zufrieden. Und dann fahre ich nach Bodh Gaya und treffe meine Freunde.

Kismet


Mein Geliebter
lass uns zurück nach Bahrain fliegen, Stella und Mahoud
verlassen die Insel und fahren mit dem Auto nach Dahran, in Saudi Arabien:

Mahoud fuhr mit Stella auf dem King Fahd Highway, der über einen Damm gebaut war und die Insel Bahrain mit dem Festland verbindet. Fünfundzwanzig Kilometer freie Sicht auf das Blau des Persischen Golfs lag vor ihnen.

Sie hatten die Zollformalitäten ohne Schwierigkeiten hinter sich gebracht. Mahoud trug ein spezielles Schreiben von Mohamed Ahziz in der Tasche, das anscheinend wie ein „Sesam Öffne Dich“ wirkte...

Nachdenklich schaute Stella zu den überdimensionalen Tankern draußen auf dem Golf und fragte sich, wie Mahoud wohl ohne die Maske sei. Da dachte sie an ihre eigene Maskerade.

Ja, sie hatte die Abaaya heute morgen angezogen, sich aber noch nicht verschleiert. Was ist mit unseren unsichtbaren Masken? Unseren durchsichtigen Masken, die wir mit den Jahren angenommen haben und uns so damit identifizierten, dass wir selber schon glauben, das seien wir. In Wahrheit sind wir ganz anders, wir wissen es nur nicht. Ich werde ihn aus der Reserve locken müssen, die hinter seiner Sanftmut verborgen ist.

„Stella, du blickst so ernst. An was denkst du?“
„Wenn ich den Schleier tragen würde, wäre es dir nicht aufgefallen. Aber wenn du es wissen willst, kann ich dir verraten, dass ich überlege, wie du wirklich bist.“
„Und?“, fragte er mit einem entwaffnenden Lächeln, „ich hoffe nur, du bist zu einem guten Ergebnis gekommen?“
„Noch zu keinem Ergebnis. Dafür habe ich zwei Wochen Zeit. Wie wäre es, wenn du es mir sagen würdest?“

Während Mahoud den Wagen mit hoher Geschwindigkeit über den Highway lenkte, erzählte er über sich und seine Träume. Er legte seine Hand auf ihr Knie und sprach von einer schönen selbstbewussten Frau - eine moderne Frau sollte sie sein. „So, wie du es bist“, sagte er und streichelte ihren Oberschenkel. Seine Hand erregte sie, aber sie ließ sich nichts anmerken und fragte ihn nach seinem Verhältnis zu Frauen.

„Ich glaube, mein Verhältnis zu Frauen ist normal“, meinte er schmunzelnd.

„Was verstehst du unter normal, Mahoud?“
„Oh, das sind aber inquisitorische Fragen für einen Mann! - Natürlich gab es einige Frauen in meinem Leben, wenn es das ist, was du wissen willst.“
„Und Miriam?“
„Ich habe Miriam immer sehr geliebt. Sie war mit den Kindern in Beirut, oft sah ich sie nur einmal im Monat.“

Sie schwieg, die Fahrt war wie im Flug vergangen. Dharan, die supermoderne Erdölmetropole, tauchte auf. Wolkenkratzer mit Spiegelfassaden blitzten golden im Morgenlicht. Dharan, die Stadt, wo der Reichtum Saudi Arabiens entsteht. Ein Sechstel der Weltproduktion macht dieses Land zum größten Erdölproduzenten der Erde.

Auf der belebten Straße fuhren Luxuslimousinen mit dunkel getönten Scheiben, drinnen saβen Geschäftsleute in arabischer Landeskleidung.

Kismet

Noch am gleichen Tag geht die Reise weiter in die Emirate. Sie fliegen von Dahran nach Dubai. Mahoud besucht dort seinen Bruder.
Es ist noch genug Zeit, um einen Abstecher in die Wüste zu machen. Ja, mein Geliebter die Wüste, das sind Eindrücke, die mich seither nie mehr losliessen, bis zum heutigen Tag träume ich von der Wüste. Und da wir alle Realitäten erschaffen, war ich immer wieder da und werde dort hinreisen:

Nachdenklich schaute Stella hinaus auf eine Landschaft aus goldockerfarbenen Sanddünen. Harmonische Formen, den Launen des Windes überlassen, der sein Spiel seit Jahrtausenden inszenierte. Vor ihrem Geist tauchten wieder die Bilder von Bodh Gaya auf. Sie sah, wie die Lamas die Urne mit dem Sand hielten, wie der Sand heraus rieselt und vom Wind ergriffen wurde. Und wie die Partikel nochmals durch die Luft wirbelten und dann für immer im Fluss versanken.

Stella öffnete das Fenster, die Luft war abgekühlt, die Sonne stand schon tief.

„Wir können das Rad der Weltenuhr nicht zurückdrehen“, sagte sie leise.

Er aber gab keine Antwort.

„Du hast Angst vor der Liebe und willst dir irgendetwas mit mir beweisen, Mahoud. Ich fühle es. Spiele nicht mit mir, sonst mische ich deine heile fundamentalistische Welt neu auf.“

Er schwieg weiterhin.

„Ich habe keine Angst. Nicht einmal die Einsamkeit kann mich mehr erschrecken, nachdem ich von Miguel Angelo verlassen wurde.“

„Willst du wirkliche Einsamkeit erleben?“ Er sah sie fragend an und nahm den Fuß vom Gaspedal. – „Hier kannst du sie erleben.“

Er hielt den Land Rover am Straßenrand an. „Wenn du wirkliche Einsamkeit erleben willst, gehe in diese Richtung.“ Er zeigte herüber zu den Dünen, „aber entferne dich nicht zu weit, es wird bald dunkel.“

Mahoud stieg aus. „Ich werde inzwischen mein Gebet verrichten.“

Langsam kletterte Stella die Dünen hinauf, blickte noch einmal zurück und sah ihn auf seinem Gebetsteppich knien. Während sie weiterging, hatte sie auf einmal den Eindruck, als befände sie sich in einem Niemandsland. Die Einsamkeit überraschte sie wie ein Schlag.

Sie betrachtete die Sanddünen, die in die Unendlichkeit reichten. Die Sonne stand am Horizont, warf ein unwirkliches Spiel von Licht und Schatten auf den Sand. In Stella begann eine Ahnung hochzusteigen, dass es die Wüste sein musste, welche die Menschen formte. Nun konnte sie Mahoud verstehen. Hier, das war eine Landschaft der Extreme, wo Menschen auf ein Nichts reduziert leben, oder diesem Nichts durch übertriebenen Reichtum entkommen wollen.

Sie hatte nicht bemerkt, dass sie weinte. Lautlos, wie die Stille ringsum. Mahoud musste sich irgendwann neben sie gesetzt haben. Es war ihr nicht aufgefallen. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und wiegte sie sanft, um sie zu beruhigen.

„Komm, lass uns zum Wagen gehen“, sagte er leise. „Es wird dunkel.“

Sie weinte noch immer, als sie am Wagen anlangten. Er half ihr beim Einsteigen und nahm sie wieder in die Arme.

Es tut mir leid, dachte sie, es tut mir leid, ihn so angegriffen zu haben. Er hatte es nicht verdient.

„Du wirst nie mehr allein sein, mein kleines Vögelein“, beruhigte er sie. „Ich verspreche es dir und werde immer bei dir sein.“

Kismet

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Mein Geliebter

so sind auch wir inzwischen mit Qashqai in Dubai gelandet. Wir überfliegen Jumeirah und das Zentrum und bewundern die Lichter von Dubai. Ja, eine durchaus faszinierende Stadt der Superlative. Aber wie du weisst, sind Stella und Mahoud nur auf der Durchreise hier, Mahoud will Stella den Oman zeigen. Und dann?
Dann werden die beiden wie geplant nach Saudi Arabien fliegen, damit das Kismet sich erfüllt.


In dieser Nacht träumte Stella wieder von den weiten Hochebenen Tibets. Der Wanderer im Traum ging schnellen Schrittes in Richtung der Himalajas. Da leuchtete es weit in der Ferne auf. Das Kalachakra Mandala - und sie wusste, dass sie der Wanderer war. Sie wurde vom Wind ergriffen und zum Südtor des Mandelas hinein geweht. Durch labyrinthische Gänge, wie in einem Irrgarten, blies sie der Wind. Immer im Kreis. Endlich wurde sie wieder hinaus geweht. Der Wind packte sie von neuem. Diesmal wurde sie zum Nordtor hinein geweht. Auch da musste sie wieder hinaus. Endlich, beim Osttor, gelang es Stella, bis zum Zentrum des Kalachakra Mandalas zu kommen.

Sie war endlich da.


Draußen auf der Terrasse saßen Stella und Mahoud am Tisch zusammen mit einer Gruppe Ölmagnaten, Reedern und Geschäftsleuten und deren Ehefrauen.

Neben Stella kommentierte gerade jemand lachend den letzten Zwischenfall bei einem Schönheitswettbewerb für Kamele in Saudi Arabien, wo ein Züchter das Angebot von einer Million Euro für sein Kamel abgelehnt hatte.

Nachdenklich blickte Stella hinaus auf den Creek mit den schwimmenden Restaurants der Dhau Schiffe. Sie war umgeben von Stimmengewirr und Gelächter und sann über das verrückte Leben in Dubai nach, in dem sie gestrandet war. Das moderne Dubai mit seinen
ehrgeizigen Projekten einer geradezu einzigartigen und innovativen Architektur. Und gleich daneben am Creek die Souks und die alten Kaufmannshäuser aus längst vergangenen Zeiten.


Da ist ja meine liebe Stella!“, rief Hannelore und holte sie aus ihren Überlegungen. Jetzt habe ich endlich Zeit für uns beide“, meinte sie und zog sie am Arm mit sich fort. Stella folgte ihr die Treppe zur Bibliothek hinauf, dort schloss Hannelore die Tür hinter ihnen zu.

„Hier sind wir ungestört“, meinte sie zufrieden. „Im arabischen Raum wird so gut wie nichts gelesen, mit Ausnahme des Koran.“ Sie lachte. „Die meisten können ihn auch noch auswendig. Vor tausend Jahren zählte die Bibliothek von Riad noch zu den bedeutendsten der Welt, dass erzählte Prinz Ali Al-Saud mir erst unlängst. Es stünden fünfhunderttausend Bücher in der Nationalbibliothek des Königs Abdul Aziz. Im Vergleich dazu“, fuhr sie lebhaft fort, „werden heute nicht mehr als Dreihundertunddreißig durchschnittlich pro Jahr in arabische Sprachen übersetzt. Im Gegensatz beispielsweise zu Spanien. Dort wurden im Jahr 2001 alleine 16.750 ausländische Werke übersetzt.“

„Woher wissen Sie das so genau?“
„Ich lese halt viel und bin eine Art Kulturüberbringerin bei uns.“

Hannelore ging zu einem Schränkchen, holte eine Flasche Benedictine und zwei Gläser.

„Ich glaube, das wird uns nach diesem opulentem Mahl gut tun!“

Sie füllte Likör in die Gläser und reichte Stella eins davon.

„Trinken wir“, sagte sie. „Von christlichen Ordensbrüdern gebraut. Alles verboten, was wir tun. Erstens einmal Alkohol und dazu noch von Benediktinern.“

Sie lachte, wurde dann aber wieder ernst und sagte:

„Warum ich Sie sprechen wollte, können Sie sich sicherlich nicht vorstellen. Ich halte es aber für meine Pflicht, sie darauf hinzuweisen, zumal Sie eine Landsmännin von mir sind und ich von Ihnen einen guten Eindruck gewonnen habe.
Es geht hier nicht darum“, fuhr sie fort, „wie reich jeder ist. Ich habe inzwischen so viel Geld, dass es mich nicht mehr sonderlich interessiert. Doch zuerst einmal Cheers, Stella.“

Sie hob ihr Glas, prostete ihr zu. Beide tranken und schwiegen einen Augenblick.

„Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, beim Geld. Jedenfalls, Geld hin, Geld her, aber ich habe einen Blick für Menschen mit Bildung und Sensibilität und erkannte, dass Sie beides besitzen.“
„Hat Mahoud mit Ihnen über Miriams Tod gesprochen?“, fragte Hannelore.

Ihre Blicke kreuzten sich, der von Hannelore fragend, der von Stella abwartend, dann besorgt.

„Mahoud sprach mit mir darüber in Indien“, entgegnete sie. „Es war ein Autounfall.“
„Richtig! Da ist aber noch eine andere Geschichte.“

Sie hielt inne und sah Stella bedeutsam an.

„Aisha, Mahouds Schwester, erzählte, Miriam sei kurz vor ihrem Tod sehr unglücklich gewesen. Mahoud war dagegen, dass sie arbeite. Bevor die Kinder auf die Welt kamen, hat Miriam als Lehrerin gearbeitet und wollte wieder in ihren alten Beruf zurück, aber Mahoud erlaubte es nicht. Die Kinder wären noch halbwüchsig und brauchten ihre Mutter, fand Mahoud. Und er verdiene genug für die Familie.“ Hannelore seufzte.
„Am Abend vor dem Autounfall machte Miriam Mahoud schwere Vorwürfe, er würde sie einsperren und sei mehr in Dharan, als bei ihr und den Kindern in Beirut.
„Woher wissen Sie von dem Streit?“ Stella stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus auf den Creek.
„Mahoud erzählte es seinem Bruder und der sagte es Laila.“

Hannelore kam ebenfalls ans Fenster.

„Ich kenne Laila seit vielen Jahren und sie zählt zu meinen besten Freundinnen. Natürlich hat Laila es mir verraten, zumal ich Mahoud ja auch gut kenne und ihn sehr schätze. Ich glaube, er ist in Ordnung und es ist nicht bewiesen, dass Miriam Selbstmord beging.“

Sie tätschelte Stellas Arm.

„Bitte nehmen Sie es nicht zu schwer. Ich habe Ihnen das nur erzählt, damit Sie sich bewusst machen, wie die Mentalität arabischer Männer ist. Sie sind besitzergreifend und sind es gewohnt, unangefochten zu herrschen.“
„Ich liebe Mahoud aufrichtig, kenne ihn aber viel zu kurz. Und habe nicht vor, jetzt schon eine Entscheidung zu treffen, zumal ich erst einmal meine Scheidung hinter mich bringen will.“
„Ach, meine Liebe. Sie sind noch so jung, Mahoud ist fünfzig.“
„Ich bin vierzig.“
„Da habe ich Sie für jünger gehalten.“
„Das macht die Meditation.“
„Das müssen Sie mir auch mal beibringen. Jedenfalls muss Mahoud Sie sehr lieben. Ich drücke euch jedenfalls beiden die Daumen.“

Hannelore räumte die Flasche in den Schrank zurück und nahm die beiden Gläser.

„Dann wollen wir uns wieder ins Vergnügen stürzen und zu den anderen hinuntergehen“, sagte sie. „Sagen Sie bitte Mahoud nichts über den Inhalt unseres Gesprächs. Falls er fragt, wo wir waren, erklären Sie ihm ruhig, dass wir uns ein wenig in der Bibliothek über Deutschland unterhalten hätten.“

Sie zwinkerte ihr zu. „Eine kleine Notlüge ist nichts Böses, meine Heimat ist übrigens Frankfurt.“

Kismet

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Gute Besserung meine Liebe.
Da müssen wir den Teppich mal eben verlassen, um auf dem Teppich zu bleiben. Aber die schöne Aussicht bleibt.
Flying to the Moon with
1f31d
your lover

Das ist sehr gut gemeint Da ich wegen wegen einer Erkältung im Bett lag, und den Sonnenuntergang verpasste...
Auf dem Teppich fliegen und auf dem Teppich bleiben, da bin ich voll beruhigt bei meinem Erd-Trigon im Horoskop.

Ich denke aber oft daran zurück, als ich begann zu schreiben: es war Anfang Mai 2002. Das waren meine ersten, etwas zaghaften Flugversuche. Die Worte kamen gar nicht so richtig aus mir heraus und ich brauchte noch eine Weile, bis es klappte. Auch, dass ich Dopplungen vermeiden sollte. Ja, wir leben nicht mehr im Zeitalter der Romantik und schreiben nicht mehr so wie ein Joseph von Eichendorf.

Bald fand ich heraus, wie frei ich bin, wenn ich schreibe und darauf kam auch eine "Innere Stimme" der ich mich anvertrauen durfte, die alles ins Fliessen brachte, eigentlich ist es eine Art Bildersehen, die dann in Worte von mir verwandelt werden.

Es wird Zeit, geliebter Freund, dass wir uns erneut auf unseren Qashqai setzen, einer der wenigen fliegenden Teppiche auf dieser Welt, und hinüber segeln, im sanften Wind, nach dem Oman.

Oh, siehe: das Hadjar Gebirge, wild und zerklüftet wie ich es so liebe, kleine Oasen, die Wadis, mit Süsswasserquellen und Bergdörfer an steilen Felshängen.


Einmal, auf dem Weg von Frankfurt nach Singapur, überflog ich den Oman. Es war mitten in der Nacht aber meine Intuition weckte mich auf: schau raus zum Fenster, dort unter dir ist der Oman. Ich erkannte sofort die langgestreckte Bergkette des Hadjar Gebirges, die paralell zur Küste verläuft, sich zweitausend Kilometer durch den Oman zieht.
Zwei Jahre später war ich dort, In Musqat und den Al-Wahiba Sands... So wurde einmal wieder mein Traum zur Realitlät.


Hier sind diejenigen, die Allah einwies!
Dank seiner Weisung finde dich selbst zurecht,
Prophet! Sage den Ungläubigen:
„Ich verlange keinen Lohn.
Es handelt sich um ein Bauwerk für die Welt“

Koran IV


„Morgen muss ich Miguel Angelo anrufen und ihm sagen, dass ich erst in zwei Wochen komme.“
„Du kannst von Abu Dhabi aus anrufen.“
„Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht.“
„Die wird er sich, sobald du ihn anrufst, um so mehr machen.“
„Das ist wahr.“

Die Sonne war unbemerkt untergegangen, die ersten Sterne blitzten auf.

Stella hatte das Geschirr im Teich abgespült und Mahoud inzwischen Beduinenkaffee gekocht. Der Kaffee duftete nach Zimt, Ingwer und Kardamon und schmeckte vorzüglich.

Kismet

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Stella und Mahoud sitzen an der Feuerstelle und trinken Kaffee und Mahoud erzählt auf Stellas Bitte vom Koran.

Der Koran, mit dem ich mich intensiv befasst habe und ihn liebe in seiner ungeheuren Tiefe:



Sie dachte, was für eine bedeutsame Nacht. Wir sitzen oben in den Bergen des Oman und ich erfahre die Geschichte des Propheten Mohamed.

Diese Nacht wird nichts aus meiner Erinnerung löschen können.

„In Medina breitete sich der Islam rasch aus“, fuhr Mahoud mit seiner Erzählung fort. „Es war, als hätten die Menschen bereits darauf gewartet. Besonders die Hirtenvölker in den Steppen Zentralasiens waren es, die den Islam mit offenem Herzen aufnahmen. Unser Glaube breitet sich weiter und weiter aus. Bis heute, Stella, nicht in einem straffen, statischen Muster, welches leicht zu analysieren wäre, sondern im steten Auf und Ab.“

„Beziehst du dich mit Aufstieg und Niedergang auf eine Kurve? Meinst du das mit statisch?“

„Genau“, nickte er. „Das sind die üblichen Entwicklungsformen, nicht aber beim Islam. Beim Islam sind es rhythmische Wellenbewegungen. Wie in einem großen Ozean musst du es dir vorstellen. Der Koran ist ein Ozean mit verschiedenen Tiefen und er ist unendlich und unerschöpflich. Von den meisten westlichen Gelehrten wird der Koran völlig missverstanden.“

Mahoud verzog verächtlich den Mund. „Mit wenigen Ausnahmen werten die westlichen Gelehrten den Koran als unlogisch ab. Sie vermögen es nicht, seine gewaltige Kraft und Poesie zu verstehen.“

Er lachte auf. „Und vor allem, Stella, verstehen sie nicht seine schlichte Einfachheit. Das ist der wahre Grund, warum der Koran seinen Siegeszug angetreten hat, er wurde so auf natürliche Weise angenommen.“

Mahoud machte eine kleine Pause und reckte sich.

Stella sagte nichts, sie wartete, bis er fortfahren würde.

„Und nicht nur das, Stella“, begann er. „Das Wichtigste von allem, der Koran ist Aufbewahrungsort aller Geheimnisse des Universums.“

Er schaute sie ernst an. „Und der geistigen und metaphysischen Mysterien. Der Koran ist lange noch nicht erschöpft. Er ist unerschöpflich.“

Darauf schwieg er wieder lange Zeit. Bis er schließlich begann, eine Sure aus dem Koran zu rezitieren:

Nein! Ich schwöre es bei den Sternen, die kreisen und verschwinden!
Ich schwöre es bei der Nacht, wenn sie sich ausbreitet!
Bei der Morgenröte, wenn ihr Dunst sich verflüchtigt!,
In der Wahrheit ist sicher ein ehrwürdiger Bote,
befähigt mit Macht, nahe dem Herrn des Thrones;
unbeweglich, folgsam und sicher ist er.
Euer Gefährte ist kein Besessener!
Sicherlich sahst du ihn am flimmernden Horizont;
Im Unbekannten zeig dich nicht karg.
Es ist nicht das Wort eines verfluchten Dämons.
Wohin gehst du?
Dies ist ein Bauwerk für die Welt,
Für diejenigen unter euch, die dem graden Weg folgen.


Stille trat ein, und Stella war wie hinweg getragen von der Kraft seiner Worte. Sie wollte ihnen Raum geben.

Mahouds Worte aber waren so machtvoll, dass sie glaubte, das gesamte Universum dafür zu benötigen. Sie schauten aneinander an und er wusste, er hatte es ihr vermitteln können, mit jener Sure. Er fühlte, sie verstand ihn und nichts war zwischen ihnen. Keine begrenzenden Ideologien, nichts.

„Die Verbreitung des Islam nahm seinen Lauf“, erzählte er weiter. „Bagdad übernahm dabei eine führende Rolle. Das Jahr 529 war später von großer Bedeutung für seine weitere Entwicklung. Es war das Jahr der Vertreibung der Philosophen aus Athen durch Kaiser Justinian. Die Philosophen wanderten ab in den Orient. Genau genommen nach Gondischapur, den Bewahrungsort für Aristoteles. Als dann im IX Jahrhundert Ibn Ishaq aus Bagdad Aristoteles Schriften ins Arabische übersetzte, begann eine Renaissance des Islam. In der Akademie von Gondischapur...

„Gondischapur?“ unterbrach sie ihn. „Wo war Gondischapur? Ich habe diesen Namen nie gehört.“

„Gondischapur war im heutigen Irak, an den Ausläufern des Zagrosgebirges. Damals der Ort allen wissenschaftlichen Geschehens. Dort, wo die Philosophen, die Mediziner und auch christliche, nestorianische Theologen versammelt waren.

Das war der Vermittlungsort der griechischen, indischen und sogar der chinesischen Kultur“, schwärmte er. „Und wiederum die Verbindung zum persischen Erbe des Zarathustra.“

„Das muss gewaltig gewesen sein!“, warf sie lebhaft ein. „Ein Schmelztiegel des gesamten damaligen Wissens. Aber, Mahoud, woher weißt du das alles?“

„Ich war in Bagdad“, antwortete er. „Und habe in der Bibliothek Nachforschungen betrieben. Leider gibt es über Gondischapur wenig Information. Diese sagenumwobene Akademie bestand zwischen dem dritten und elften Jahrhundert, sie wurde völlig zerstört und verschwand dann endgültig im Nebel der Jahrhunderte.“

„Du hast dich sehr intensiv mit der Entwicklung des Islam befasst. Es ist ein faszinierendes Bild, dass du mir aufzeichnest.“

„Ich hielt es für wichtig, jene Impulse von damals gedanklich zu verarbeiten.“

„Dein Glaube hat dadurch Struktur“, sagte sie voll Bewunderung. „Wir alle sollten jene Impulse von damals versuchen zu integrieren und gedanklich zu bewältigen, damit wir frei bleiben und uns weiter entwickeln.“ Stella seufzte. „Ohne in irgendwelchen Kollektivismen zu stranden.“
„Willst du damit sagen, dass wir weitergehen müssen?“
„Ja, Mahoud. Nur so ist Entwicklung möglich.“

„So war es damals mit Aristoteles. Wie in einem Prisma gebündelt fiel sein Lichtstrahl in die islamische Welt. Die Strahlen, gebrochen zu einer glitzernden Farbenpracht, aus der jener Strom hervorging, in dem wir uns heute alle wiederfinden.“


Beide waren durch diese Worte zu einer tiefen geistigen Erfahrung gelangt. Es ist die Erfahrung des Menschseins und die Ahnung des Weltenvorgangs, in welcher der Mensch so klein und wiederum so unendlich groß sein kann, denn alles geht zuerst von einem einzigen Individuum aus.

Es war, als wären sie in einem Raum angelangt, den man als den Raum des absoluten Geistes bezeichnen könnte. Einer der Wege, die dort hinführen, geht über das reine Denken. Philosophische Gedanken führen zum reinen Geist - und das ist reine Erfahrung.

Mahoud hatte seinen Arm um Stella gelegt, das Feuer war längst heruntergebrannt.

Sie blickten stumm hinauf in den dunklen Nachthimmel.

Kismet

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Mein Geliebter

„Kismet“ handelt von einer Frau, die zu sich und dem Schmerz, verlassen worden zu sein, steht, sich aus ihrer Einsamkeit befreien wird und neue Freunde findet. Doch dann lernt sie Mahoud kennen, einen Araber. Eine heftige Liebe entbrennt zwischen beiden. Mutig und bewusst lässt sich Stella auf das Wagnis ein und nimmt die Einladung an, mit ihm für zwei Wochen die Arabische Halbinsel zu besuchen.

Reichtum und Luxus der Emirate wechseln sich ab im Kontrast zur Einsamkeit der Wüste - eine lineare Landschaft der Unendlichkeit. Kleine Bergoasen im Oman und mittelalterliche Bazare sind jene Schauplätze, wo sich zwei Menschen im Innersten ihrer Seele begegnen. In dieser magischen Landschaft erfährt Stella von Mahoud viel über die Poesie und Kraft des Korans und über den Islam.

ach du beziehst dich auf das Exposee?
Hm... ja stimmt, ich habe einiges ausgelassen. Aber du hast schon recht, wenn du meinst es ginge nicht nur um den Koran und Aristoteles... gewiss geht es um eine heftige Liebe, die ich im Roman sehr deutlich wiedergab.

Du willst es schon wissen, was auf dem Weg von Dubai nach Sharjah geschah? Ich könnte es sehr gestrafft darstellen. Stella und Mahoud verbringen eine Nacht im Emirat Sharjah, bevor sie die Weiterreise in den Oman antreten. Sharjah ist von den Emiraten das strengste Emirat, was die Gesetze angeht und Alkohol ist verboten, im Gegensatz zu Dubai, wo in Fünfstern Hotels Alkohol konsumiert werden darf.



„Willst du mit mir eine arabische Nacht erleben?“
„Was ist eine arabische Nacht?“ fragte sie mit hochgezogenen Brauen.
„Lass dich überraschen.“ Mahoud tat geheimnisvoll.
„Also gut.“ Sie schaute ihn fragend an. Aber mehr war aus seinem Gesicht nicht herauszulesen.
„Dann sage ich ja.“
„Wir gehen heute Abend in den Al-Majarrah Souk. Dort gibt es ein kleines Lokal, ein absoluter Geheimtipp.“
„Geheimtipp? Mit versteckten Lokalen hast du es, glaube ich“, neckte sie ihn. „Nicht wahr?“
„Da hast du Recht.“ Er nickte. „Wir sollten besser duschen gehen und uns anziehen, mein Vögelein.“


Sie wählte ein nachtblaues, eng anliegendes Kleid und den Tschador, passend in der gleichen Farbe und ging zu Mahoud.

„Bin ich so richtig angezogen für die arabische Nacht?“

Ihr entging nicht, wie er sie ansah.

„Du gefällst mir im Tschador.“

Er kam auf sie zu. „Ich schätze mich glücklich, eine so schöne Frau...“
„Zu besitzen?“

Sie sah ihn herausfordernd an. „Nach der Lehre des Buddhismus ist das pure Illusion. Auch wir sind Illusion und besitzen nicht einmal uns selbst.“
„Das ist nicht meine Philosophie und auch nicht meine Religion“, lachte er. „Nach meiner Religion kann ich dich ungeniert besitzen.“

Er schlang seine Arme um sie und küsste zärtlich ihren Nacken.

„Ich war noch nicht zu Ende, mein Beduine“, murmelte sie. „Du wirst mich nie besitzen, aber freiwillig will ich dir gerne angehören. Gib mir dafür bitte noch Zeit.“
„Gehen wir?“
„Von mir aus ja.“ Sie zog die Abaaya über.

Schweigend schlenderten sie die wenigen Schritte bis zum Souk, nebeneinander her. Mahoud führte sie durch schmale winzige Gassen zu dem geheimnisvollen, von außen unscheinbaren Lokal. Durch einen Bogeneingang gelangte man auf den Innenhof und von dort in den Gastraum, wo sie in einer kleinen Nische Platz nahmen. Die Wände waren in einem wunderschönen Arabeskenmuster mit goldblauer Fayence ausgelegt, die Decke verzierte ein achtzackiger Stern. In der Nische warteten dunkelblaue goldbestickte Seidenpolster auf die Gäste. Davor stand ein niedriges Tischchen in kunstvoller Holzschnitzarbeit und darauf eine Messinglaterne mit farbigen Gläsern als Beleuchtung.


Mahoud bestellte geschmortes Lamm mit Datteln und als Getränk einen Rosinenscharab. Im Hintergrund spielte Räi Musik.

„Lass uns auf den schönen Abend anstoßen.“ Stella hob ihr Glas, „auf unsere arabische Nacht.“
„Auf die arabische Nacht.“ Er lächelte.
„Der Rosinenscharab ist ein wenig süß, aber er schmeckt intensiv, aromatisch“, meinte sie aufgeräumt. „Das ist ja eine richtig stimmungsvolle Atmosphäre.“

Als das Lammgericht in einer schweren Tonkasserolle auf den Tisch gestellt wurde, nahm Stella einen Duft nach Muskatblüte und Limonenschale wahr.
„Köstlich, unvergleichlich köstlich, Mahoud.“
„Das ist ein typisches Gericht aus Saudi Arabien.“

Er strahlte und war zufrieden, dass es ihr gut schmeckte.

Später, als sie mit dem Essen fertig waren, wurde Kaffee gereicht und dazu eine Wasserpfeife auf den Tisch gestellt.

„Mahoud! Ich rauche nicht mehr, was soll das?“ Sie hob fragend die Brauen.

Er schmunzelte, nahm die Wasserpfeife und machte einen tiefen Zug daraus.

„Ich rauche ja sonst auch nicht, aber wenn du im Orient bist, musst du wenigstens einmal die Wasserpfeife probiert haben.“

Er reichte ihr das Mundstück und zeigte, wie man daran ziehen muss.

Sie zögerte, nahm es schließlich in den Mund und machte neugierig einen Zug.

„Schmeckt gar nicht einmal so schlecht“, musste sie zugeben. „Etwas ungewohnt vielleicht im Geschmack, aber sonst...“

Stella nahm einen weiteren Zug und gab Mahoud das Mundstück zurück.

Ihre Stimmung wurde leicht und schwebend, schwebend wie der Rauch, der in blauen Kringeln die Luft durchzog.

„Das ist die arabische Nacht, nicht wahr, mein Beduine?“
„Ja, das ist die arabische Nacht.“ Mahoud schmunzelte.

„Und wirklich! Alles ist arabisch. Das Lamm und die Musik, aber die Wasserpfeife ist die Krönung des Abends!“

Beide lachten. Stella fühlte sich so leicht wie noch nie. Sie glaubte, die Schwerkraft überwinden zu können. Wurde immer ausgelassener und das Gefühl für die Zeit musste völlig abhanden gekommen sein. Mahoud schaute irgendwann einmal auf die Uhr.

„Wir sollten aufbrechen, es ist spät“, mahnte er.

Der Weg war wie eine Zauberlandschaft. Die weißen, maurischen Häuser kontrastierten gegen den dunklen Nachthimmel und die mittelalterlichen Gassen wirkten geheimnisvoll.

Im Hotelzimmer bat sie ihn um ein Glas Coca-Cola. Sie trat zur Terrassentür, blickte hinaus in die Dunkelheit. Mahoud hatte Musik eingeschaltet und Stella begann sich im Rhythmus orientalischer Klänge zu wiegen. Als er ihr das Glas brachte, trank sie es gleich aus. Er stellte es zurück auf den Tisch. Dann zog er Stella an sich und küsste sie so heftig, dass sie keine Luft mehr bekam.

„Zieh dich aus“, sprach er leise zu ihr. „Die arabische Nacht ist noch nicht zu Ende.“

Sie begann sich bewusst langsam im Rhythmus der Musik auszuziehen, erstaunt über ihre eigene Hemmungslosigkeit, mit der sie sich nach und nach ihrer Kleidung entledigte und ihm dabei tief in die Augen sah.

Mahoud hatte sich hingesetzt. Die Zeit begann sich hinüber in die Ewigkeit zu dehnen. Ihr wurde klar, dass Mahoud eine Tür öffnete, die in die dunklen Regionen der Seele führte. Die Faszination des Unbekannten war zu stark. Sie konnte nicht mehr anhalten.




Oh Allah! Was soll ich tun, fragte sich Mahoud. Letzte Nacht, das war wahrhaftig wie fliegen durch das All. Er fuhr mit hoher Geschwindigkeit die Küstenstrasse zum Emirat Ajman entlang.


Stella blickte abwesend über den Persischen Golf. Innerlich sah sie die Bilder wieder, wie sie und Mahoud in Indien am Bodhi See saßen. Er hielt meine Hand und drüben vom Mahabodhi Tempel klangen die Stimmen der Menschen zu ihnen herüber... Ich wollte dich einladen, mit mir die Arabische Halbinsel zu besuchen. Das ist verrückt, Mahoud, entfuhr es mir, aber wie kann ich dir vertrauen?

Mahoud bog in eine Nebenstrasse ein, die in Richtung der Wüste nach Nabga führte.

„Mahoud! Du fährst nicht zum Flughafen.“
„Nein“, antwortete er tonlos. „Wir haben den ganzen Tag Zeit. Dein Flug geht erst um elf und ich habe ein Recht darauf, dass wir uns aussprechen.“
„Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“

Er fuhr schweigend weiter und überlegte, was er machen sollte, um sie umzustimmen. Oh Allah, ich liebe sie jeden Tag mehr, ich kann sie nicht ziehen lassen...

Mahoud hielt bei einer kleinen Oase. Sie setzten sich im Schatten der Palmen auf eine Mauer und wurden vom Lachen spielender Kinder begrüßt, die in einem Wasserbecken planschten. Ganz in Gedanken beobachteten sie ihr Spiel.

„Was ist los mit dir, Stella?“, brach Mahoud endlich das Schweigen. „Du selbst warst es, die sagte, man soll Sex nicht unterdrücken. Ich habe halt ein paar verrückte Sachen mit dir getan, was war daran so verkehrt?“

Sie antwortete nicht und schaute zu Boden. Er legte seine Hand auf ihren Arm.

„Verzeih mir, wenn ich vielleicht ein wenig zu weit gegangen bin“, sagte er leise.
„Zu weit gegangen bist du? Was verstehst du darunter?“, fragte sie voller Zorn. „In der Wasserpfeife war Haschisch, habe ich Recht?“

Er nickte.

„Wie konntest du mir so etwas antun? - Du sagtest mir doch, du liebst mich.“
„Du warst einverstanden mit der arabischen...“
„Mahoud! Du hattest nicht über Haschisch gesprochen, auch nicht darüber, dass du mich für eine Hure hältst.“
„Stella! Bei Allah. Ich halte dich niemals für eine Hure.“
„Du warst unfair.“
„Stella. Wie kannst du nur so etwas annehmen.“
„Nein, Mahoud, lass mich ausreden. Hier geht es um Würde und um Ehre. Bei euch ist doch alles verboten, nur, um es heimlich um so wilder zu treiben.“

Sie war aufgestanden und schaute ihn verächtlich an. „Und du bist anscheinend auch so einer!“

„Stella, verzeih mir. Ich habe mir nichts dabei gedacht.“ Mahoud wollte seinen Arm um sie legen, sie aber schüttelte ihn unwillig ab.

„Stella, bitte. Ich gebe zu, ich bin zu weit gegangen. Doch ich hatte ja auch Haschisch geraucht. Verstehe doch, dass Männer anders sind. Vor zwei Tagen sprachst du von deinem Mut. Stehe doch dazu und vertraue meiner Liebe.“

Mahoud umarmte sie und streichelte sanft ihren Rücken.

„Verzeihst du mir?“, fragte er leise.
„Ja, aber keine Hypokrisie.“
„Keine Hypokrisie.“
„Du sagst, du liebst mich?“
„Ich liebe dich, Stella.“
„Und du ehrst mich?“
„Ich ehre dich.“

Mahoud küsste sie sanft auf die Stirn und dachte: Seit gestern liebe und ehre ich dich um so mehr...

Kismet


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Es war noch dunkel, als sie von der Palmenoase Dibba aufbrachen. Sie wollten den Sonnenaufgang in der Wüste erleben. Mahoud fuhr auf einer Nebenstrasse, genau gen Westen. Er sah auf die Uhr und meinte, es würde bald dämmern. Er hielt den Wagen an. Als sie ausstiegen, wehte ein solch eisiger Wind, dass Stella trotz Mantels fror.

„Ich hole dir eine Wolldecke“, schlug Mahoud vor und öffnete den Kofferraum.

„Sobald die Sonne aufgeht, hört der Wind auf. Ist es besser so?“

„Danke, mein Beduine. So ist es besser.“

Langsam begann es heller zu werden, erst schemenhaft, dann immer deutlicher zeichnete sich die Landschaft in der Dämmerung ab.

Mahoud kniete auf seinem Gebetsteppich und betete zu Allah.

Dann endlich tauchte die Sonne am Horizont auf. Inmitten einer linearen Landschaft der Unendlichkeit. Weit in der Ferne erkannte man gestochen klar die blauschwarzen Berge des Hadjargebirges, darüber noch einige Sterne, die nach und nach verblassten.

Wie gebannt schaute Stella über die Endlosigkeit der Sanddünen und begann sich im Geiste auszudehnen. Sie wurde zum Sand, sie wurde zum Wind, spielte sein ewiges Spiel, formte den Sand, wirbelte ihn durch die Luft und ließ seine Musik ertönen, leise, fast unhörbar, wie aus Sphären kommend...

Dann ließ sie die Gedanken hinter sich, ließ die Töne hinter sich und tauchte ein in die große Stille.


Die Sonne strahlte nun in hellem Licht. Mahoud stand neben Stella. Da kehrte sie langsam, ganz allmählich wieder in ihren Körper zurück. Nach dem Erfahren von Grenzenlosigkeit ein fast schmerzhafter Zustand.

„Du warst weit weg, Stella.“

„Das ist wahr. Zum Raum wird hier die Zeit.“ Sie lächelte ihn an.

Jedoch so tief Stella sich in geistige Dimensionen hineinbewegte, so schnell schaltete sie wieder auf Normalität und Belanglosigkeit um.

„Gibt es an diesem Platz der Welt auch Frühstück? Ich habe riesigen Hunger auf Rühreier mit Käse und Tomaten und ich brauche dringend Kaffee.“

„Das will ich doch hoffen“, meinte er lachend. „Wir haben alles dabei, was wir benötigen.“

Schnell bereiteten sie Kaffee auf dem Campinggaskocher.

„Weißt du noch das Wort für Kaffee?“
„Qahwat“, gab sie zurück.

Zum Kaffee gab es Fladenbrot und frischen Ziegenkäse, den sie gestern im Souk von Al-Fugaira besorgt hatten. Zu den Rühreiern aßen sie Toastbrot, denn zu ihnen passe kein Fladenbrot, fand Stella. Das passe wiederum besser zum Ziegenkäse, und der schmecke im Oman genauso gut, wie in Frankreich.

„Das war heute noch einmal eine Ausnahme, Stella. Ab morgen gibt es selbstgebackenes Fladenbrot an einer richtigen Feuerstelle.“

„Wollen wir zurück in die Zeiten des Propheten, mein Beduine?“

Sie hob belustigt die Brauen und verzehrte dabei mit Genuss ihre Rühreier.

„Wohin führt diese Reise?“
„Unsere Reise soll eine Reise der Erfahrung werden. Wo wir alles Unwichtige hinter uns lassen und uns auf das Wesentliche beschränken.“
„Solange wir Kaffee zu trinken haben, bin ich’s zufrieden.“
„Kaffee wird es geben.“
„Dann bitte ich um einen weiteren Becher davon.“


Danach packten sie die Sachen in den Wagen und brachen auf.

Die Strasse führte weiterhin in westliche Richtung, immer auf die Berge zu. Erst Steinwüste, dann trockene Steppe mit ausgebleichten Grasbüscheln und kargem Boden. Ab und an tauchten ein paar Sträucher auf. Eine kahle und doch faszinierende Landschaft.


Mahoud hatte vor, mittags eine Rast am Rande der Berge zu machen. Dort gäbe es schattenspendende Bäume, denn auch im Winter sei es um die Mittagszeit in der Wüste heiß, erzählte er.

„Dein Land Rover fährt gut.“

„Findest du? Der Discovery wurde für Strecken wie diese hier gebaut. In Dharan habe ich genau den gleichen Wagen.“

„Und was ist mit Kamelen?“, fragte sie enttäuscht. „Reitet Ihr nicht mehr auf Kamelen?“

„Weniger.“ Er lachte. „Heutzutage findest du, von ein paar Beduinen abgesehen, niemanden mehr auf dem Kamel. Hier im Oman stößt man gelegentlich auf verwilderte Kamelherden. Man braucht sie nicht mehr.“

„Das finde ich traurig.“

„Einige Kamele werden für Rennen gezüchtet. Du hast Recht, es ist eigentlich traurig. Ansonsten verwendet man sie nur noch für zivilisationsmüde, ausländische Touristen.“

Er machte eine längere Pause und sagte dann:

„Manchmal, wenn ich nachdenken will, nehme ich mir zwei Kamele und reite weit in die Wüste hinein. In die große Rub-Al-Kahli. Die Rub-Al-Kahli ist die größte und unwirtlichste Wüste der Welt.“

„Wirklich?“
„Sie ist furchtbarer als die Sahara.“
„Die Rub-Al-Kahli ist furchtbarer als die Sahara? Übertreibst du da nicht?“

Stella runzelte die Stirn.

„Nein, Stella. Diese Wüste erstreckt sich über die gesamte Arabische Halbinsel. Man kann sich nur in den Wintermonaten hineinwagen, denn im Sommer steigen dort die Temperaturen auf über sechzig Grad. Dann ist kaum noch Leben möglich. Deshalb nennen wir sie das leere Viertel.“
„Und da wagst du dich hinein? Es gibt ein brasilianisches Lied. Da heißt es, lieben sei wie die Wüste mit ihrer Furcht.“

Sie blickte ihn von der Seite an, „hast du mehr Angst vor der Liebe oder vor der Wüste, Mahoud?“
„Ich habe weder Angst vor der Liebe, noch vor der Wüste.“

Er schien zu überlegen und sagte:
„Aber ich habe große Achtung vor Naturgewalten und brauche Herausforderungen. Manchmal, suche ich die Einsamkeit auf, gehe alleine in die Wüste. Ich fahre von Dharan aus mit meinem Land Rover bis Harad und starte von dort mit zwei Kamelen. Nach einer Woche komme ich wie gereinigt zurück. Die Wüste ist das Schweigen. Man ist allein mit sich und hört außer dem Rauschen des Windes keinen Laut. Dort fühlst du wahrhaftig den Hauch der Ewigkeit, erlebst unvergessliche Nächte, mit einem Sternenhimmel, so nah, dass du glaubst, du seist auf einer interstellaren Reise durch das Weltall. Oh Allah! Allah-Al-Kaliq, unser Schöpfer ist mir dort so nah, wie sonst nirgendwo. Die Ungläubigen glauben an ein kaltes Weltall ohne Leben, aber wir Muslime glauben an Allah, unseren Schöpfer, er sei gepriesen.“

Sie schwiegen eine Weile, die Straße führte nun bergauf. Sie erreichten die ersten Ausläufer des Hadjargebirges.

„Ich glaube an beides, Mahoud“, antwortete Stella schließlich. „An die Wissenschaft und an eine kosmische Intelligenz, die wir eines Tages auch begreifen werden. Kant war der Ansicht, dies gehe über unser Verstehen hinaus, doch das finde ich zu begrenzend gedacht. Wir sind grenzenlos und ich glaube an eine Evolution des Geistes. An die Zeit, wo Wissenschaft und Theologie sich wieder die Hände reichen werden.“

„Vielleicht hast du Recht. Religion dient in unserem aufgeklärten Zeitalter nur noch den kindlich gebliebenen Gemütern. Mit so einer Denkweise wird man bei euch belächelt. Es ist aber so, dass Ihr mit eurer rein wissenschaftlichen Denkweise gerade dabei seid, euch selbst auszulöschen.“

Mahoud hielt im Schatten einiger Samara Bäume und sah Stella an.

„Bei uns ist Religion fest verankert, Stella. Unser Glaube ist integriert und gibt uns die Impulse für alles Übrige.“

Sie stiegen aus, breiteten eine Decke aus und setzten sich. Beide hatten Durst und tranken Wasser aus der Thermosflasche, dazu aßen sie Brot und ein paar Datteln.

„Aus der Wüste ging unsere Religion hervor“, setzte Mahoud seine Gedanken fort. „Wie eine lebendige, nie versiegende Quelle. Diese Quelle ist unerschöpflich, glaube mir, und von köstlicher Reinheit. Diejenigen, die Durst verspüren, können aus ihr schöpfen und sich erquicken.“
 
Von der Oase Al-Buraimi fuhren sie in die Emirate zurück, tankten in Guhr und besorgten frisches Wasser. Am späten Nachmittag ging es wieder in die Wüste. Mahoud bog von der Straße ab und fuhr den Land Rover durch ein ausgetrocknetes Flussbett, bis er schließlich zu einer Gruppe Akazienbäumen kam und anhielt.

Sie stiegen aus. Sanddünen, soweit das Auge reichte.

Zusammen bauten sie das Zelt auf, sammelten Reisig und schichteten es zu einem Haufen auf. Dann legten sie einige dicke Äste darüber und entzündeten das Feuer. Die Sonne stand bereits weit unten am Horizont, als sie mit allem fertig waren.

„Zieh dir etwas über“, ermahnte er sie. „Es kühlt gleich ab.“

Mahoud bereitete sich für sein Gebet vor, da bat Stella, noch einmal jene Sure zu wiederholen, die er vor einigen Tagen aufgesagt hatte.


„Ich schwöre es bei den Sternen, die kreisen und verschwinden...“, begann er.


Sie saß da und hörte ihm zu, ohne störende Gedanken dazwischen kommen zu lassen. Seine Worte erreichten direkt ihre Seele.

Danach folgte Schweigen.

Ich schwöre es bei der Nacht, wenn sie sich ausbreitet, dachte Stella. Sie schaute hinauf in die Unendlichkeit des Himmels. Am Horizont verblasste ein sanftes Pfirsichrosa, wurde immer zarter, bis es verschwunden war. Wie bei einem Regenbogen folgten Nuancen von Hellrosa Grün und Gold. Es glühte nochmals auf, um dann zu einem opalisierenden Grau zu werden, dem rasch die Dämmerung folgte.

Mahoud hatte weitere Holzscheite ins Feuer gelegt, es brannte jetzt stark. Er wendete sich gen Mekka und betete.

Stella blickte weiter hinauf zum Himmel, verharrte im großen Schweigen und dachte, ich habe keine Angst vor dem Tod. Es ist jedes Mal wie ein Sterben, das Nirwana. Wenn ich mich auflöse, mich aufgebe, mich hingebe und hineingehe in das Nichts...

Wäre nicht das Feuer, ich würde mich genauso einsam fühlen, wie in der Wüste bei Dubai. Wieder geht die Sonne unter und die Dunkelheit kommt groß und mächtig, aber das Feuer leuchtet und wärmt. Wir haben es den Göttern gestohlen, so heißt es in der Sage...

Da fiel ihr der Flug von Bombay nach Delhi ein. Damals dachte sie daran, wie die Sonne jenen schmalen Ring, den wir Erdatmosphäre nennen, beleuchtet. So schmal, im Vergleich zur Unendlichkeit des Weltalls. Innerhalb dieses Streifens Licht wird der höchste Platz eingenommen, den Materie auf ihrem Weg zu ihrer Organisierung erreichen kann. Auf diesem Platz entstehen die Fragen über den Ursprung des Universums.

Da fiel ihr das Lied von Lamb ein und leise, ganz leise, begann sie zu singen.


„I can fly... but I want his wings,
I can shine… even in the darkness,
But I crave the light that he brings.
Gravel in the songs that he says,
My Angel Gabriel…
I can love… but I need his heart.
My Angel Gabriel…
My Angel… Gabriel…“


Mit ihrem Gesang kam die Nacht, die Sterne, zum Greifen nah... Billionen und Billionen Sonnen, die ihr Licht in die Dunkelheit strahlen.

Und Stella fragte sich, ob es mehr Sterne oder mehr Sandkörner gebe...

Kismet
 
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„Es steht alles geschrieben, Stella, Kismet.“

„Ich glaube an das Kismet, aber auch daran, dass wir wählen können. Wir sind Spielleiter.“
„Spielleiter? Was meinst du damit?“
„Das, was wir zusammen gerade erfahren, ist wie ein Theaterstück. Ich habe immer mehr den Eindruck, ich sei Zuschauer und Regisseur zugleich.“
„Diese Ideen sind für mich zu revolutionär, ich werde darüber nachdenken“, antwortete er vorsichtig.
„Wir müssen im Leben alles spielen. Möglich, dass dieses Spiel, unser Spiel, Mahoud, bereits vor langer Zeit schon festgelegt wurde.

Ich glaube sogar, wir selbst haben es da oben festgelegt. Wir spielen traurig sein, wir spielen glücklich sein. Manchmal sind wir so in unser Spiel verliebt und vergessen darüber, dass es ein Spiel ist. Dann wird das Spiel ernst. Wir übernehmen nicht mehr die Verantwortung, geben den anderen die Schuld. Haben vergessen, warum wir kamen.“
„Ich bin nicht Spielleiter!“, meinte er entschlossen und stocherte im Feuer herum. Er legte noch einige Holzscheite nach und sagte dann:
„Der Spielleiter ist Allah.“
„Ich denke, ich bin Spielleiter und meistere mein Leben. Allah hilft mir dabei, wann immer ich ihn darum bitte. Sonst hätten wir ja keine Freiheit.“



Stella und Mahoud waren nun im Hotel Hilton von Abu Dhabi, erneut umgeben vom Reichtum und Luxus der Emirate.

Stella trat ans Fenster und sah hinaus in die Nacht, sie war unruhig. Da war ein Teil von ihr, der wollte Miguel Angelo nicht anrufen, aber im Grunde wusste sie genau, sie musste es jetzt endlich hinter sich bringen. Man konnte es nicht noch weiter auf schieben. Sie war nur unschlüssig, was sie ihm sagen sollte.

„Mahoud, ich rufe jetzt Miguel Angelo an.“
„Du bist sehr erregt.“

Er stand auf, mixte an der Bar zwei Bourbon mit Eis und reichte ihr ein Glas davon.

„Hier, trink. Es wird dich beruhigen.“
„Danke, Mahoud.“

Sie kippte den Whisky herunter und wählte Miguel Angelos Telefonnummer. Es läutete auf der anderen Seite. Sie hielt Mahoud ihr leeres Glas hin.

„Hallo.“
“Hallo, Miguel Angelo.”
“Stella? Wo bist du? Ich erwarte dich seit einer Woche zurück, was ist los?“

Mahoud hatte das Glas nachgefüllt und reichte es ihr. Sie trank einen großen Schluck.

„Ich bin im Hilton in Abu Dhabi.“
Auf der anderen Seite der Leitung erst einmal Pause.
Mahoud hatte sich gesetzt und beobachtete sie.

Endlich schien Miguel Angelo sich gefasst zu haben.
„Abu Dhabi? Was machst du dort?“
„Ich bin hier mit meinem neuen Freund, wir lieben uns, Miguel.“
„Was? Um Himmels Willen!“, schrie er ins Telefon. „Bist du völlig durchgedreht?“

Nachdem Stella die Hälfte des zweiten Glases geleert hatte, fühlte sie endlich entspannende Wärme. Ihr Körper beruhigte sich spürbar.
„Das gleiche hätte ich dich im Dezember fragen können“, antwortete sie.

Pause. Miguel schien zu überlegen.

„Ich komme am sechzehnten Februar und rufe dich von Paris aus an. Mach dir keine Sorgen. Es geht mir bestens.“

Sie war entschlossen, das Gespräch schnell zu beenden, kompromisslos und ohne Gefühlsregungen.

„Stella.“
„Am sechzehnten von Paris aus, in Ordnung?“
„Das ist überhaupt nicht in Ordnung!“, schrie er. „Was machst du in Saudi Arabien?“
„Ich bin nicht in Saudi Arabien, sondern in den Emiraten.“
„Ach, das ist doch alles das gleiche. Du bist mit einem Araber zusammen.“
„Das geht dich nichts mehr an“, antwortete sie kühl. „Du machst auch, was du willst. Ich lege jetzt auf.“
„Stella, Stella!“
„Auf Wiedersehen.“ Sie legte auf, trank erleichtert ihr Glas leer und setzte sich.

Er hatte sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Von dem Gespräch verstand er nicht viel und war verstimmt, ließ sich aber nichts davon anmerken.

„Warum sind Männer immer so besitzergreifend?“ Sie seufzte.

Mahoud zuckte mit den Schultern. Er stand auf, um ihre Gläser noch einmal zu füllen.

Sie trank einen Schluck. Die Wirkung des Alkohols machte sich stärker bemerkbar.

„Mahoud. Ich brauche frische Luft.“

„Wir machen eine kleine Fahrt auf der Autobahn“, schlug er vor. „Der Abendwind wird dich erfrischen.“

Kismet
 
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Koran Sure II



Der Lear Jet ließ die Wüste hinter sich und flog jetzt über die Ausläufer eines Gebirges. Stella sah unten einen Stausee. Dann, in einem Talkessel, einen braunen Fleck.

Da setzte der Jet zur Landung an.

Der Flug war ungewohnt. Mit einer Ausnahme war sie bisher immer nur mit großen Maschinen geflogen. Ja, das eine Mal in Brasilien, dachte Stella. Auf der kleinen Insel Ilha Bela. Da nahm mich Frederico, ein Freund von Miguel Angelo auf eine kleine Tour mit seiner Piper mit. Es war schön oben in der Luft. Weit unten die Insel, wie ein smaragdenes Juwel im blauen Atlantik. Im Jahr darauf kehrte Frederico von einem Flug über den Amazonas nicht mehr heim. Verschollen irgendwo im Urwald, zwischen Belém und Manaus. Genauso hätte es mir bei unserem gemeinsamen Flug gehen können, dachte sie. Drei Stunden flogen wir über die endlose Rub-Al-Kahli. Nichts als Sand. Wären wir abgestürzt, hätte uns niemand gefunden. Aber der Lear Jet von Mahouds Bruder ist vertrauenserweckender, als die kleine Piper, und der englische Pilot versteht etwas von seinem Handwerk.

Da setzte die Maschine gerade auf die Landepiste auf und rollte aus.

Sie stieg mit Mahoud und dem Piloten die Gangway herunter. Der Pilot begleitete sie bis zur Abfertigungshalle und verabschiedete sich dann, weil er sofort nach Dubai zurück fliegen wollte.

Sie hatten einen Toyota Landcruiser reserviert. Als Mahoud anfuhr, sagte er, sie müssten noch zum Supermarkt. In der Nähe des Hauses gebe es keine Einkaufsmöglichkeit. Sie hätten Zitronen, Orangen und Gemüse auf dem Grundstück. Eier, Milch, Brot und Honig würde Nadja aus dem Dorf mitbringen. Alles andere müssten sie hier in Nagran besorgen.

Eine Stunde später hatten sie alles beisammen, was sie brauchten. Stella war inspiriert und kaufte einiges für ein Menü, das sie kochen wollte. Frische Riesengarnelen aus dem Roten Meer und andere Köstlichkeiten. Zum Schluss war der Einkaufswagen fast voll, und jetzt fuhren sie auf der Strasse in Richtung Abha.

Die Fahrt führte zuerst durch Wüstensteppe, die langsam in eine Hügellandschaft überging, dann folgten hohe Berge mit bizarren Felsformationen und Nadelwäldern.

„Diese Strecke war früher die alte Weihrauchstraße“, sagte Mahoud. „Weihrauchbäume wachsen nur im Südwesten der Arabischen Halbinsel. Die Gegend gehörte bis 1934 noch zum Yemen.“

Er erzählte von knorrigen, alten Bäumen und Weihrauchkarawanen, die einmal bis nach Syrien zogen.

„Mahoud, das klingt so faszinierend, wie die Geschichte über die Seidenstraße. Ich hätte gerne in dieser Zeit gelebt.“
„Ja. Ich auch, aber zusammen mit dir.“
„Vielleicht haben wir ja zusammen dort gelebt und es nur vergessen.“

Stella schaute aus dem Fenster.

„Was für eine Landschaft! Können wir nicht einmal anhalten?“
„Genau das hatte ich vor. Ich suche nur nach einem guten Platz.“

Mahoud hatte eine Stelle zum Halten gefunden und steuerte den Wagen an den Straßenrand.

Die Luft war kühl, als sie ausstiegen. Es roch nach Nadelwald.

Sie setzten sich auf einen Stein in die Sonne. Erleichtert nahm Stella ihren Tschador ab, der Wind spielte in den Gräsern und in ihrem Haar.

Von hier oben reichte der Blick weit in die Ferne. Bis hinunter zum Roten Meer. Hinter ihnen türmten sich die Berge zu einer gewaltigen Kulisse auf.

„Wie hoch ist das Asir Gebirge?“, wollte Stella wissen.

„Die höchsten Gipfel erreichen über dreitausend Meter.“
„Ich hätte nie gedacht, dass es in Saudi Arabien so hohe Berge mit Nadelwäldern gibt.“

Sie atmete tief die aromatische Luft ein.

„Man denkt, wenn man von Saudi Arabien spricht, immer an Sandwüsten.“
„Jenseits der Berge ist die Wüste Rub-al-Khali. Sie erstreckt sich bis zum Oman und über die ganze Arabische Halbinsel.“
„Es ist hier sehr einsam, Mahoud. Bis jetzt fuhr kein einziges Auto vorbei. Wie weit ist es noch bis zu deinem Haus?“

„Ungefähr eine Stunde“, antwortete er. „Die letzten Kilometer sind nicht asphaltiert, da müssen wir langsam fahren.“

Stella entdeckte einen Raubvogel. Sie beobachtete, wie er ruhig seine Kreise zog und deutete noch oben.
„Schau mal, ist es nicht herrlich, ihn fliegen zu sehen?“
„Ja.“, pflichtete Mahoud bei. „Wir lieben bei uns die Falkenjagd. Es ist eine alte Tradition und die nobelste Art zu jagen.“

Er erzählte, wie die Falken gehalten würden und dass man hier hohe Summen dafür ausgebe. „Es gibt nichts Schöneres als die Liebe zwischen Mensch und Falke!“, meinte er begeistert.

„Die Falken verlieren ihre Freiheit, Mahoud“, sagte sie vorwurfsvoll. „In meinen Augen ist die Freiheit das Schönste.“
„Bitte, Stella, du siehst das wieder zu radikal.“
„Wie soll ich es dann sehen, wenn man einem Vogel, der die unendlichen Weiten liebt, die Freiheit nimmt?“

Erregt stand sie auf.

„So verstehe doch“, versuchte er sie zu beruhigen. „Die abgerichteten Falken dürfen frei herumfliegen, kehren aber immer zu ihrem Herrn zurück. Und sie haben alles, was sie brauchen. Sogar beste medizinische Versorgung, wie zum Beispiel in der Falkenklinik in der Nähe von Riad. Dort betreuen ausländische Tierärzte die Vögel. Mohamed bringt seine Falken in Dubai in eine Klinik, dort gibt es einen deutschen Tierarzt.“

„Dein Bruder geht auf Falkenjagd?“, fragte sie verächtlich. „Dann erkläre mir bitte, was man mit den Falken gemacht hat, dass sie freiwillig zurückkehren?“
„Sie wurden dressiert“, antwortete er lächelnd. „So etwas dauert Wochen, Stella. Man braucht viel Geduld und Zuwendung, bis man sie abgerichtet hat.“

Er erzählte vom Ursprung der Falkenjagd, die aus den weiten Steppen Zentralasiens komme. Dort, in Turkmenistan, habe man Höhlenzeichnungen gefunden, die auf viertausend Jahre Falkenjagd zurückgingen.

Viertausend Jahre, dachte Stella.

„So eine alte Tradition kann man nicht einfach verdammen“, sagte er.

Sie schwieg, beschloss gegen seine Überzeugung nichts mehr einzuwenden. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Ihr war kalt.

„Du zitterst“, sagte er besorgt und nahm sie in die Arme, wiegte sie sanft.
„Besser so? Wir sollten langsam aufbrechen. Der Wind hat zugenommen.“

„Ich weiß nicht, was ich habe, Mahoud“, murmelte sie. „Ich glaube, Angst, aber wovor?“
„Das ist die raue Landschaft.“ Er versuchte sie zu beruhigen.
„Die hohen Berge wirken düster.“

Entschlossen geleitete er sie zum Wagen.


Die Fahrt führte auf einer kurvenreichen Straße weiter. Allmählich verwandelten sich die hohen Berggipfel in ein sanftes Mittelgebirge.

„Habt Ihr auch Nachbarhäuser?“, erkundigte sich Stella nach einer Weile.
„Nicht weit entfernt gibt es ein kleines Dorf“, entgegnete er. „Dort wohnen Nadja und Yussuf, sie versorgen unser Haus und den Garten.“
„Du hast vermutlich meine Frage nicht richtig verstanden. Ich wollte wissen, ob es bei Eurem Haus Nachbarhäuser gibt.“

„In der Gegend stehen viele Häuser. Die Region ist beliebt als Sommerdomizil. Aber die Häuser stehen weit auseinander. Wir haben viel Platz. Das ist hier nicht wie in Europa.“


Die Kälte in ihrem Rücken blieb. Stella schrieb es ihrer Müdigkeit zu. Mahoud verließ die Asphaltstraße. In steilen Serpentinen ging es an Terrassenanpflanzungen und Zitrusplantagen vorbei bergab. Die Strasse wurde eben und führte jetzt an Olivenhainen entlang.

„Die Landschaft erinnert mich ein wenig an Portugal.“
„Wirklich?“, wollte er wissen.
„Ja. Das ist hier eine wunderschöne Gegend zum Wohnen.“
„Unser Haus steht oben auf der Kuppe, an einem Abhang.“

Und kurz darauf: „Da sind wir schon!“


Eine hohe Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor tauchte vor ihnen auf.

Mahoud hielt an, um es zu öffnen.

Der Weg auf dem Grundstück führte leicht bergab, quer durch einen Orangenhain. Dann erblickte man einen Steingarten, gesäumt von Lavendelsträuchern. Danach das Haus. Stella konnte nur noch staunen. Wie ein Palast aus „Tausend und Einer Nacht“ kam ihr der dreistöckige Bau vor, erbaut aus gebrannten Lehmziegeln.

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