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Der um 1870 erstmals verwendete Begriff der Esoterik wird heute in doppeltem Sinn gebraucht:
1. als Sammelbezeichnung für okkulte Praktiken, Lehren und Weltanschauungsgemeinschaften,
2.für »innere Wege«, bestimmte spirituelle Erfahrungen zu erlangen, die von einer bloß »äußeren« Befolgung von Dogmen und Vorschriften zu unterscheiden sind.
Der Begriff Esoterik leitet sich ab von dem griechischen Adjektiv »esoterikos« (seit dem 3.Jahrhundert n.Chr. belegt), womit zunächst die Insider griechischer Philosophenschulen und deren Lehren bezeichnet wurden (der gegensätzliche Begriff »exoterikos« nach außen gerichtet findet sich bereits bei Aristoteles im 4.Jahrhundert v. Chr.).
Hauptquellen der traditionellen Esoterik sind die Weisheitslehren des Ostens (Hinduismus, Buddhismus, Taoismus u.a.) und des Westens (Gnosis, Gralslegende, Alchemie, Kabbala, Mystik u.a.), die bis zu den Griechen und den Ägyptern zurückreichen. Alle großen Religionen kennen neben ihren bekannten (exoterischen) Lehren esoterische Traditionen, zum Beispiel das Christentum Gnosis und Mystik, das Judentum die Kabbala und den Chassidismus, der Islam den Sufismus, der Buddhismus die tantrischen Lehren. Auch der Orient, Stämme in Ozeanien, Afrika und die Ureinwohner Nord- und Südamerikas (Indianer) haben ein uraltes geheimes Wissen, das über viele Generationen hinweg tradiert wurde und heute von der modernen Esoterik entdeckt wird.
Mit »Esoterik« werden, anknüpfend an die oben bezeichnete Tradition, Geheimlehren bezeichnet, die nur für einen ausgewählten Kreis von Menschen zugänglich sein sollten und nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt waren.
Ein Blick in die moderne Esoterikszene
Kennzeichnend für die moderne Esoterik ist im Gegensatz dazu, dass sie nur sehr wenig Wert auf Geheimhaltung legt. Anders als in der bisherigen Geschichte der Esoterik sind esoterische Lehren und Praktiken heute durch Medien, Zeitschriften und einen reichhaltigen Buchmarkt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich; Esoterik stößt in weiten Kreisen auf Interesse. Zudem hat sie sich in den westlichen Industrieländern zu einem lukrativen, weiterhin wachsenden Markt entwickelt. I-Ging-Kurse und andere Orakeltechniken werden in fast jeder größeren Stadt in Deutschland angeboten. Praktiken der östlichen Traditionen wie Hatha-Yoga, Taijoquan und Chi Gong sind Bestandteil des Programms vieler Volkshochschulen. Auf Wochenendkursen kann man z.B. lernen, mit seinem Schutzengel in Berührung zu kommen, Einweihungen in Reiki erfahren, an Schwitzhüttenzeremonien in indianischer Tradition teilnehmen, über glühende Kohlen laufen (Feuerlauf) u.a.
Nachdem die weitere Verbreitung der Esoterik mit einer Hinwendung vieler Menschen zu östlichen Religionen etwa seit den 1960er-/1970er-Jahren begonnen hatte, sind in der modernen Esoterik Traditionen des Ostens wie auch des Westens (z.B. germanische Runenkunde, keltische Druidenweisheit) gleichermaßen bekannt geworden eine Entwicklung, die sich nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern in allen Industrieländern beobachten lässt.
Im Folgenden soll auf einige verbreitete Grundanschauungen der esoterischen Traditionen eingegangen werden. Des Weiteren werden Hintergründe für die Entwicklung der modernen »Esoterikwelle« erörtert. Es werden Trends und kritische Aspekte der modernen Esoterikszene aufgezeigt, insofern sich hier das Esoterikverständnis von der Tradition der alten Weisheitslehren unterscheidet. Abschließend wird auf Berührungspunkte und Unterschiede zwischen der traditionellen Esoterik und dem New Age eingegangen.
Kritische Trends in der Esoterikszene
Den alten Traditionen zufolge bezeichnete die Esoterik eine Art Einweihungsweg, bei dem es um Erkenntnis der kosmischen Gesetzmäßigkeiten, um Bewusstmachung von Lebensmustern und Verwandlung ging. Der Suchende war vor die Aufgabe gestellt, die kosmische Ordnung zu erkennen und sich in diese einzufügen. Dieser Weg der Selbsterkenntnis forderte das ernste und angestrengte Bemühen des Suchenden.
Eine Abkehr von diesem Verständnis der Esoterik bedeutet es, wenn heute esoterische Praktiken bisweilen dazu verwendet werden, unmittelbar den eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu dienen. Die Grundlagen und Zusammenhänge einer esoterischen Tradition werden dabei gleichsam ausgeblendet und esoterische Praktiken persönlichen, oft materiellen Interessen dienstbar gemacht. So werden manchmal Horoskope, Tarotkarten sowie andere divinatorische Praktiken dazu verwendet, auf leichte und schnelle Weise gegenwärtiges Unglück, Krankheitssymptome und andere Schicksalsschläge zu deuten. Aus esoterischer Sicht dagegen stehen solche Geschehnisse in komplexeren Zusammenhängen und können nur durch einen Erkenntnisprozess angemessen bewältigt werden. Ein Vertrauensmangel der Persönlichkeit zeigt sich darin, wenn etwa Kartenlegen, Pendeln oder die Wünschelrute auf vielfältige Weise auf alltägliche Entscheidungen, z.B. die Zuträglichkeit bestimmter Nahrungsmittel, Antwort geben müssen, anstatt dass der Betroffene das Experiment und die Entscheidung selbst und aus sich heraus wagt. Andere wenden sich esoterischen Praktiken (z.B. Astrologie) zu, um zu Geld zu kommen oder um in ihrem Geschäft erfolgreich zu sein, etwa indem manche Politiker und Manager vor wichtigen Entscheidungen den günstigen Termin beim Astrologen erfragen.
Ein Trend zu wachsender Kommerzialisierung der Esoterik zeigt sich darin, dass in bisher relativ wenig reglementierten und schwer zu regelnden Bereichen Klienten manchmal innerhalb kürzester Zeit selbst als Therapeuten oder Anbieter tätig werden augenscheinlich ohne zureichende Schulung, verglichen mit den traditionellen Ausbildungswegen. Solche Entwicklungen findet man etwa bei Therapeuten, Kartenlegern, Hellsehern, Astrologen, »esoterischen Lebensberatern« und Heilern. In vielen Bereichen fehlen bisher den konventionellen Berufen vergleichbare Regelungen für Ausbildungsgänge und -zeiten und Normen für berufliche Qualifizierung, Niederlassung sowie Titelschutz. Diese Situation kommt einerseits dem Macht- und Geltungsdrang Einzelner, andererseits dem materiellen Interesse entgegen, das sich das wachsende Bedürfnis nach Lebensberatung und therapeutischer Unterstützung in der Bevölkerung zunutze zu machen weiß. Für den Klienten ist es daher heute zunehmend schwer geworden, in der Fülle der Angebote zu entscheiden, um meinen seriösen Berater und Therapeuten zu finden.
Als Kriterien für einen guten Therapeuten oder Berater wird manchmal empfohlen, darauf zu achten, 1. inwieweit der Therapeut oder Berater der persönlichen Entscheidungsfreiheit des Einzelnen Raum gibt; 2. ob er als Autorität mit quasi göttlichem Anspruch auftritt, oder ob er sich in seiner vollen Menschlichkeit zeigt; 3. schließlich auch, ob Honorarforderungen im Vordergrund stehen oder eine echte Unterstützungsbereitschaft zum Ausdruck kommt.
Wenngleich die Kommerzialisierung der Esoterik und damit einhergehende Möglichkeiten der Reduktion oder Verfälschung ihrer Lehren kritisch zu beurteilen sind, bleibt deren Wahrheit im ursprünglichen Sinn davon jedoch unberührt.
Manchmal werden heute bewusstseinswirksame Praktiken, z.B. bestimmte Meditationstechniken, aus den kulturellen und religiösen Zusammenhängen, in denen sie ursprünglich stehen, herausgelöst. Ihre unvorbereitete Anwendung kann jedoch, wegen der hierdurch ausgelösten Aktivierung machtvoller Inhalte des Unbewussten, schwere Gefahren für die seelisch-geistige Gesundheit mit sich bringen.
Einige wenden sich einer esoterischen Richtung, etwa als Anhänger des Dalai-Lama dem tibetischen Buddhismus, zu, um damit für kürzer oder länger einem Trend zu folgen. Andere und auch darin liegt Verbreitung bleiben dabei, die verschiedensten Richtungen kennen zu lernen und auszukundschaften. Den alten Lehren zufolge dauert der esoterische Weg des Lernens und der Vervollkommnung jedoch ein Leben lang. Zudem ist jede einzelne Richtung von ihrer jeweiligen Perspektive aus geeignet zum Wesentlichen hinzuführen.
Eine Verkehrung der Esoterik liegt vor, wenn sie als Flucht vor der Realität verwendet wird. Kritische Äußerungen weisen darauf hin, dass bisweilen Menschen in der Esoterikszene Halt suchen, die mit ihrem gewöhnlichen Leben nicht zurechtgekommen sind. Solches Ausweich- oder Meidungsverhalten hat seine Wurzeln jedoch nicht in den esoterischen Traditionen, die den Suchenden vielmehr dazu anhielten, sich den Lebensaufgaben zu stellen, um sie mit wachsender Selbsterkenntnis immer besser erkennen und bewältigen zu können.
In der Bhagavadgita, einem indischen Versepos, das etwa aus dem 5.Jahrhundert v.Chr. stammt und in Indien zu den meistgelesenen heiligen Büchern zählt, wird Fürst Arjuna durch den Gott Krishna kurz vor einer Entscheidungsschlacht auf dem Schlachtfeld belehrt: Es geht nicht darum, den Kampf zu meiden, sich aus dem Leben zurückzuziehen (auch ein Rückzug ist Handeln); ein Weg, um Vollendung zu erreichen, besteht vielmehr darin, zu handeln und den zugemessenen Aufgaben ohne Absichten, geleitet von Erkenntnis nachzugehen.
Grüße Equinox