Das Buch von R. Whitaker erscheint Ende des Jahres auf Deutsch. Ich wage es, ein Interview mit ihm zu veröffentlichen. Kritische oder fett markierte Anmerkungen stammen von mir. Die Datei hänge ich als PDF an:
"Direktor des National Institute of Mental Health
(Nationales Institut für seelische Gesundheit),
veröffentlichte 1996 ein Papier, in dem er
schilderte, wie Psychopharmaka das Gehirn
beeinflussen.
All diese Medikamente, schrieb er,
verursachen Störungen in der Funktion der
Hirnbotenstoffe. Ihm zufolge reagiert das Gehirn
auf die chemische Manipulation von außen, indem
es seine normalen Funktionen verändert und sich an
die Psychopharmakawirkung anpasst. Anders
gesagt, das Gehirn passt sich an die Blockade der
normalen Dopamin-Funktionen durch die
Neuroleptika an. Im Falle der Antidepressiva
wiederum versucht das Gehirn, die Blockade der
normalen Serotonin-Wiederaufnahme
auszugleichen. Es tut dies, indem es sich in
umgekehrter Richtung verändert. Blockiert man
also das Dopamin, versucht das Gehirn, den
Dopamin-Spiegel wieder zu erhöhen und vermehrt
dabei die Zahl der Dopamin-Rezeptoren. Dies
bedeutet, dass jemand, der mit einem
Neuroleptikum behandelt wird, schließlich eine
anormal große Zahl von Dopamin-Rezeptoren im
Gehirn hat."
Das heißt, das Gehirn reagiert sofort, um die Homöostase aufrechtzuerhalten – es kann gar nicht anders.
Ja, diese Medikamente stören die normale
Hirnchemie. Das ist das wirklich Paradoxe daran.
Die wahre Tragödie ist die, dass beim Einsatz
dieser Medikamente genau das Gegenteil von
einem Ausgleich der Hirnchemie geschieht.
Man
nimmt ein Gehirn, das keine anormale Hirnchemie
hat, und stört diese normal funktionierende Chemie
mit Psychopharmaka. Was mit jemandem
geschieht, der ein SSRI-Antidepressivum einnimmt,
beschreibt Barry Jacobs, ein Neurowissenschaftler
aus Princeton, wie folgt: Diese Medikamente
veränderten die Übertragungsrate an den Synapsen
über den unter normalen biologischen Bedingungen
bestehenden physiologischen Rahmen hinaus. Die
dadurch erzielten Veränderungen im Organismus
und im Verhalten seien deshalb eher als krankhaft
zu betrachten als eine Reaktion im Rahmen der
normalen biologischen Funktion des Serotonins."
"Die Geschichte von Prozac ist faszinierend.
Von Anfang an stellte man im Vergleich zu
Placebos nur eine ganz gering erhöhte Wirksamkeit
fest.
Gleichzeitig bemerkte man jedoch, dass die
Selbstmordneigung unter Prozac höher war, als
unter Placebos. Anders gesagt, das Mittel machte
Menschen, die noch nie an Selbstmord gedacht
hatten, unruhig, aufgeregt und suizidal. Genauso
gab es manische Reaktionen bei Menschen, die
noch nie eine Manie gehabt hatten, und
psychotische Episoden bei Menschen, die noch nie
psychotisch gewesen waren. Man bemerkte also
diese problematischen Nebenwirkungen, während
man gleichzeitig bei der Behandlung von
Depressionen eine im Vergleich zu Placebos nur
bescheiden verbesserte Wirksamkeit feststellte.
Was also Eli Lilly, der Hersteller von Prozac, im
Wesentlichen tun musste, war, psychotische und
manische Nebenwirkungen zu vertuschen, um so
die FDA-Zulassung zu erhalten. Ein FDAMitarbeiter
bemerkte sogar warnend, Prozac
scheine doch recht gefährlich zu sein. Dennoch
wurde dieses Mittel schließlich zugelassen."
"--dass
manche Menschen von
Prozac so nervös und unruhig wurden, dass sie an
Selbstmord dachten. Nur dadurch erhielt man die
Zulassung. Es gab verschiedene Wege, diese
Risiken zu vertuschen. Zum einen entfernte man
einfach Meldungen über psychotische Reaktionen
aus den Daten der Studien. Zum anderen wurden
die Testbefunde zum Teil umbenannt. Zeigte
jemand z. B. eine manische oder psychotische
Reaktion, so wurde diese nicht als solche vermerkt,
sondern man hielt es als Rückfall in die Depression
oder so ähnlich fest. Von Anfang an bestand die
Notwendigkeit, diese Nebenwirkungen zu
vertuschen, und genau das hat Eli Lilly getan."
"---Vergessen Sie nicht: Prozac wird der
amerikanischen Öffentlichkeit als wunderbar
sicheres Medikament angepriesen – und worüber
klagen die, die es einnehmen?
Manien,
psychotische Depressionen, Nervosität,
Ängstlichkeit, Unruhe, Aggressivität,
Halluzinationen, Gedächtnisausfälle, Tremor,
Impotenz, epileptische Anfälle, Schlafstörungen,
Übelkeit, Selbstmordneigungen – eine gewaltige
Bandbreite ernster Symptome.
Das gilt nicht nur für Prozac. Als um 1994 andere
SSRIs auf den Markt kamen, wie Zoloft und Paxil
(Seroxat), waren unter den 20 Medikamenten, zu
denen die meisten Meldungen über
Nebenwirkungen bei Medwatch eingingen, vier
SSRI-Antidepressiva. Anders ausgedrückt, jedes
dieser auf den Markt gekommenen Medikamente
löste die gleiche Bandbreite unerwünschter
Nebenwirkungen aus. Wir sprechen hier nicht von
harmlosen Beschwerden. Manien, Halluzinationen
und psychotische Depressionen sind
schwerwiegende Erkrankungen.
Der FDA war dies alles durchaus bewusst. Die
Behörde hatte eine Flut von Meldungen über
Nebenwirkungen erhalten, doch wurden diese
länger geheim gehalten als bei jedem anderen
Medikament. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis die FDA
erstmals zugab, dass diese Arzneien bei manchen
Menschen eine Neigung zu Selbstmord und
gewalttätigen Handlungen hervorrufen. Dies zeigt,
wie die FDA die amerikanische Öffentlichkeit
belogen hat. Statt ihrer Verantwortung
nachzukommen, die Bürger vor den Gefahren von
Medikamenten zu schützen,
vertuschte die FDA die
Risiken der neuen Antidepressiva."
Ich hoffe nur, dass ich es schaffe, das ganze Buch zu lesen.
Interview mit Robert Whitaker aus der
amerikanischen Zeitschrift Street Spirit
Interviewer: Terry Messman
übersetzt von Thomas Gotterbarm / Kalle Pehe
Originalartikel unter:
The American Friends Service Committee (AFSC) is a Quaker organization that includes people of various faiths who are committed to social justice, peace, and humanitarian service. Its work is based on the Religious Society of Friends (Quaker) belief in the worth of every person, and faith in the...
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