"Sinnliche Anziehung ist eng mit unserem Gefühl der Selbstidentität verknüpft. Dies wird in einer der Abhandlungen aus dem *Aṅguttara-nikāya* (AN 7.48; Anālayo 2013: 71) hervorgehoben. Dort wird beschrieben, wie ein Mann versucht, seine Männlichkeit zu definieren und daran Freude zu finden, genauso wie eine Frau versucht, ihre Weiblichkeit zu definieren. Der Mann sucht, indem er sich mit seiner inneren Männlichkeit identifiziert, nach der Weiblichkeit im Außen, und ebenso sucht die Frau, die sich innerlich mit ihrer Weiblichkeit identifiziert hat, nach der Männlichkeit im Außen.
Das Verlangen nach sexuellem Beischlaf hindert sie also daran, über die engen Grenzen ihrer Selbstdefinition hinauszugehen. Auch wenn es nicht ausdrücklich erwähnt wird, lässt sich dieses Prinzip auch auf gleichgeschlechtliches sinnliches Begehren anwenden. Das Grundprinzip besteht hier darin, sich von der begrenzenden und einschränkenden Natur der sinnlichen Begierde zu lösen, die aus einer fixierten sinnlichen Identität hervorgeht.
Die in dieser Lehre vorgestellte Übung bietet einen Weg, diese Befreiung zu erlangen. Sie beinhaltet eine Veränderung der Wahrnehmung, weg von der konventionellen Sichtweise des menschlichen Körpers als sexuell attraktiv. Wir sind gesellschaftlich dazu konditioniert, den Körper als attraktiv zu betrachten, und oft investieren wir beträchtliche Ressourcen, um den Körper zu pflegen und zu verschönern. Dies ist jedoch eine Verschwendung von Zeit und Energie, die besser für sinnvollere Zwecke genutzt werden könnte. Stattdessen sollten wir uns davon abwenden, den Körper als Objekt sexueller Anziehung zu betrachten, und es als viel einfacher und nützlicher ansehen, den Körper lediglich sauber und funktional zu halten.
Sinnliche Begierde wird traditionell als eines der fünf Hindernisse im spirituellen Fortschritt angesehen. Es ist jedoch erwähnenswert, dass Verlangen an sich nicht unbedingt ein Hindernis darstellt. Der Wunsch, sich zu verbessern und auf dem spirituellen Pfad voranzuschreiten, ist zweifellos lobenswert. Das Problem mit der sinnlichen Begierde liegt in der falschen Annahme, dass wahres Glück in der Erfüllung sinnlicher Vergnügungen gefunden werden kann. Je weiter man in der Praxis fortschreitet, desto klarer wird, dass der Geist so entwickelt werden muss, dass er zu einer heilsameren Freude und einem tiefer verwurzelten Glück führt.
Diese Freude und dieses Glück, die in den Zuständen tiefer Konzentration oder Einsicht erfahren werden, beruhen auf einem Geist, der frei von sinnlicher Begierde ist. Die Hauptfunktion dieser Übung ist es, einen Rückzug von sinnlichen Reizen zu fördern. Sie ist ein Heilmittel, das es uns ermöglicht, ein viel tieferes und reineres Glück zu erfahren, als es jemals durch das Nachgeben an sinnliche Vergnügungen erreichbar wäre. In gewisser Weise bedeutet dies, sich der Entwicklung innerer Intimität zuzuwenden, anstatt Intimität durch äußere sexuelle Vereinigung zu suchen."
Anālayo, Der praktische Ratgeber zu Satipaṭṭhāna.