Winfried Müller: Briefe an dich mein Kind
Wenn ich mit Mensch- und Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht,
so wäre ich tönend Erz oder eine klingende Schell.
Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte,
und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.
Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen
und hätte der Liebe nicht, so wär´s mir nichts nütze.
Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen,
sie bläht sich nicht,
sie stellt sich nicht ungebärdig,
sie sucht nicht das Ihre,
sie läßt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu,
sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit,
sie freuet sich aber der Wahrheit,
sie erträgt alles,
sie glaubt alles,
sie hoffet alles,
sie duldet alles.
Die Liebe höret nimmer auf, so doch Weissagungen aufhören werden
und die Sprachen aufhören werden und die Erkenntnis aufhören wird.
Denn unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk.
Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören.
Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge, da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich`s stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.
Nun aber bleibet Glaube, Liebe; Hoffnung, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Die Liebe höret nimmer auf.