AFFÄRE IN DER COVID-FORSCHUNG
Eine epische Schlacht um verlorene Leben
John Ioannidis galt als Ikone für Qualitätsforschung. In der Pandemie gibt er den Verharmloser und provoziert mit Machtspielen.
Für die querdenkenden Populisten reicht das zur Galionsfigur.
Die Tragödie begann vor ungefähr einem Jahr. Ihre Hauptfigur, John Ioannidis von der Universität
Stanford, einer der zehn meistzitierten Forscher der Welt, war da längst Herakles, und die biomedizinische Welt war sich sicher, keine anderen Götter fürchten zu müssen, solange Ioannidis, ihr Schutzpatron, die Hand über sie hielt. Wissenschaftliche Evidenz hatte ein Gesicht.
Als Ioannidis im Jahr 2005 der Welt erklärt hatte, warum die Forschung seriöser mit Statistiken umgehen und ihre Studien sorgfältiger planen muss, um reproduzierbare und damit vertrauenswürdigere Ergebnisse zu produzieren, war der Held geboren. Der Personenkult um den griechisch-amerikanischen Statistiker flaute nicht ab – nicht weil die Forschung von nun an revolutionär richtige und haltbare Resultate lieferte, sondern weil Ioannidis einen neuen skeptischen Geist entfachte. Ioannidis gründete an der kalifornischen Küste das Meta-Research Innovation Center in Stanford, kurz Metrics, einen Tempel der datengetriebenen Forschung. Kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie wurde er vom Berlin Institute of Health berufen, seinen outspoken-skeptischen Geist drei Jahre lang als BIH-Fellow im neuen biomedizinischen Mekka der Hauptstadt zu installieren. John Ioannidis und
Christian Drosten, der Coronavirus-Experte, arbeiten also gewissermaßen unter einem Dach. Denn das BIH und die Charité gehören zusammen.
Wissenschaftlich und kommunikativ allerdings könnte die Trennlinie zwischen den beiden deutlicher nicht sein – nicht mehr. Wie Drosten hatte
Ioannidis kurz nach Beginn der Pandemie öffentlich davon gesprochen, dass es sich nach den aus China vorliegenden Daten zur Übertragungsfähigkeit des neuartigen Coronavirus um eine ansteckende Erkältungskrankheit handeln könnte. Drosten hat sich längst revidiert, die Datenlage über die Covid-19-Zahlen und -Folgen ließ bald keinen anderen Schluss mehr zu. Ioannidis dagegen bleibt bis heute dabei. In Videos, wissenschaftlichen Aufsätzen, egal wo, der Statistiker hält die Covid-19-Pandemie für nicht viel schlimmer als eine Grippe. Seine Evidenzen aber sind dünn, und sie werden immer dünner, je mehr Menschen vorzeitig an Covid-19 sterben. Drei Millionen sind es inzwischen weltweit.
(FAZ Artikel vom 14.04.2021)
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