N
Nelida
Guest
Aleksander
Mein Name ist Kyle. Ich bin 36 Jahre alt und homosexuell, was allgemein schwul genannt wird. Ich mag dieses Wort nicht sehr, weil es auf mich diskriminierend wirkt. Aber in der heutigen Zeit hat es ohnehin keine Bedeutung, da niemand mehr nach seiner Gesinnung gefragt wird. Das Einzige was zählt ist, den Tag zu überleben, was mit Nahrungssuche und einem Lager für die Nacht verbunden ist.
Als ich Aleksander kennen lernte, sah es noch etwas besser auf der Erde aus. Obwohl bereits viele Menschen arbeitslos waren und am Hungertuch nagten, zählte ich zu den Glücklichen, der in eine eher reiche Familie hinein geboren wurde. Ich war gerade dabei, die Firma meines Vaters zu übernehmen. Es handelte sich um Bestattung. Bei uns gab es Särge aller Art zu kaufen, und natürlich wurde auch die Art des Begräbnisses von uns übernommen.
Man glaubt nicht, was sich in zehn Jahres alles verändern kann. Mein Vater sagte mir immer, eine Bestattungsfirma kann nie zugrunde gehen, denn alle Menschen werden einmal begraben. Heute schert sich kein Mensch darum, wie ihre Verwandten begraben werden, und ob sie überhaupt begraben werden.
Ja, die so genannte Endzeit hat begonnen, - eine Endzeit für die Menschheit.
Der Wüstenboden, über den ich gehe, ist sehr oft mit Leichen gepflastert. Manche verdursteten und verhungerten, andere wieder wurden überfallen, um ihnen das Letzte, was sie noch hatten, abzunehmen.
Ich sah Aleksander das erste Mal auf der Straße, - vom Bürofenster der Bestattungsfirma aus. Er fiel mir sofort auf, - alleine wegen seines langen, blonden Haares. Damals gab es nicht mehr so viele Männer mit langem Haar, weil es einfach nicht mehr in war. Aleksanders Haar war fast hüftlang, immens füllig und leicht gelockt wie Engelshaar. Auch sein ebenmäßiges, jedoch etwas zu blasses Gesicht wirkte engelhaft.
Für mich war es Liebe auf den ersten Blick, und ich sagte mir: Diesen jungen Mann musst du kennen lernen.
Als ich aber auf die Straße trat, um ihn anzusprechen, war er verschwunden. Enttäuscht ging ich ins Büro zurück und konnte mich nachher nur schwer auf die Arbeit konzentrieren, die aus Rechnungen schreiben bestand.
Mir ging es so ähnlich wie Verena, deren Schrift mich Aleksander später lesen ließ. Auch ich brauchte drei Anläufe, bis ich Aleksander näher kommen durfte.
Das zweite Mal sah ich ihn ebenfalls in einem Café. Er verließ es gerade, als ich es betrat. Aber das geschah alles viel zu schnell, als dass ich ihm nachlaufen hätte können. Außerdem war ich in Begleitung, wo es nicht sehr chic gewesen wäre, einem anderen Mann nachzugehen, selbst wenn diese Begleitung für mich keine besondere Bedeutung hatte. Er war es, der an mir interessiert war, aber ich nicht an ihm, was ich ihm im Café dann auch klar machte.
Das dritte Mal klappte es endlich. Ich machte gerade Besorgungen und kam aus dem Supermarkt, als ich Aleksander auf der anderen Straßenseite sah. Ich ließ ihn nicht aus dem Augen und schaute, dass ich so schnell wie nur möglich über die Straße kam, da gerade viel Verkehr war. Dann eilte ich ihm nach und hielt ihn, - zugegeben, nicht sehr höflich, - am Arm zurück.
Entschuldige, dass ich dich auf offener Straße so unschicklich aufhalte, sagte ich und begann leicht zu stottern, da er mich mit seinen wundervollen hellblauen Augen durchleuchtete, aber ich muss dich einfach kennen lernen.
Aleksander verzog keine Miene. Verena beschrieb ihn wirklich gut, denn in diesem Moment erschien mir sein hübsches Gesicht auch wie eine Maske.
Ich entschuldige Ihre Haltung, sagte er blessiert. Aus welchem Grund wünschen Sie mich kennen zu lernen?
Seine tiefe Stimme ging mir übrigens auch durch und durch, - nicht nur der Blick seiner Augen!
Ich habe Sie schon öfters gesehen, sagte ich und sprach ihn auch in der dritten Person an.
Ja? Und?
Sie erscheinen mir höchst interessant. Sie wirken so anders auf mich, stotterte ich.
Plötzlich lachte Aleksander laut auf.
Ich verstehe! sagte er. Wollen wir auf einen Kaffee gehen?
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.
Natürlich wunderte ich mich dann, dass er Kaffee für sich bestellte und keinen Schluck davon trank. Aber das war damals noch Nebensache für mich. Ich wollte ehrlich zu ihm sein und erzählte ihm sofort von meiner Gesinnung und dass ich mich in ihn verliebt hatte.
Aleksander nahm es gelassen auf. Ich konnte keinerlei Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen, - auch nicht, dass er vielleicht schockiert gewesen wäre. Ich hatte eher das Gefühl, dass ihn eigentlich gar nichts schockieren und ebenso nichts aus seiner stoischen Ruhe bringen kann. Mir ging nur seine etwas blessierte Art auf die Nerven. Und auch darauf sprach ich ihn an, worauf er abermals laut auflachte.
Du bist nicht der Erste, der mir das sagt, meinte er und benutzte endlich das Du-Wort. Aber so bin ich nun mal. Ich halte sehr viel von höflichen Manieren.
Okay, sagte ich aufatmend. Ich war offen und ehrlich zu dir. Wie steht es nun mir dir?
Du meinst, ich sollte nun ebenso offen und ehrlich zu dir sein?
Ich nickte.
Aleksander ließ sich über den Tisch zu mir herüber und öffnete leicht seine Lippen. Dann zeigte er auf seine Schneidezähne. Lächelnd lehnte er sich wieder auf dem Sessel zurück. Aber ich verstand nicht und sah ihn fragend an.
Hast du schon einmal etwas von Vampiren gehört? fragte er mich leise.
Ja, - ich habe als Kind Dracula gelesen und auch schon einige Filme gesehen. Warum?
Nun, - ich bin ein Vampir, sagte Aleksander flüsternd.
Zuerst starrte ich ihn ungläubig an. Ich glaube, ich starrte ihn ziemlich lange ungläubig an. Eigentlich fiel mir als erstes ein, ihm zu sagen, dass er mich nicht verarschen soll, - oder, dass ich mich selbst verarschen kann. Ich wollte es nicht ernst nehmen. Das war der Hauptgrund. Ja, ich wollte es nicht ernst nehmen, weil Vampire einfach nicht in mein Weltbild passten. Nun, in wessen Weltbild wenn man von so genannten normalen Menschen ausgeht passen schon Vampire? Aber gleichzeitig machte sich in mir ein Gefühl breit, das mir sagte, dass er die Wahrheit spricht. Um es bildlich darzustellen: In meinem Kopf tobte einige Sekunden lang ein gewaltiger Sturm
Aleksander sah mich währenddessen vergnügt an. Er schien zu wissen, was in mir vorging und amüsierte sich dabei köstlich. Seltsam, aber diese Regung sah ich ihm wirklich an!
Ist das vielleicht der Grund, warum du deinen Kaffee nicht trinkst? fragte ich mit gedämpfter Stimme.
Das hast du sehr scharfsinnig festgestellt.
Das war also unser erstes Zusammentreffen. Ich wollte Aleksander unbedingt wieder sehen, - auch auf die Gefahr hin, dass er mich beißen könnte, was er aber nicht tat und auch nicht vorhatte.
Wir beschränkten uns nur auf Konversation, denn zu meinem Leidwesen machte er mir klar, dass Vampire keine sexuellen Aktivitäten haben. Was Konversation betrifft, hatte Aleksander einiges anzubieten, was mein Weltbild noch mehr auf den Kopf stellte.
Verena hatte es in ihrer Schrift, die sie Aleksander zum Abschied zurück gelassen hatte, bereits angedeutet, - das Bewusstwerden mehrerer Dimensionen der Erde.
Übrigens habe ich Verena nie kennen gelernt. Ich durfte sie nur einmal von weitem sehen, als sie nach Mitternacht im Anwesen Aleksanders verschwand. Sie kam gerade um die Ecke und ich versteckte mich hinter einem Baum der Allee, konnte sie jedoch sehr gut sehen, bedingt durch die Straßenlaterne. Verena war eine wunderschöne, junge Frau, - das musste ich neidlos anerkennen und konnte auch verstehen, warum sich Aleksander so sehr um sie kümmerte.
Ich konnte mich auch gut in sie hineinfühlen, während ich ihre Schrift las, - besonders das, was sie über Aleksander schrieb, - über sein gutes Herz und seine Selbstlosigkeit, die ich ebenso kennen lernen durfte. Wann immer Not am Mann war, bot Aleksander seine Hilfe an. Obwohl er selbst von materiellem Reichtum absolut nichts hielt, sammelte er ihn an, - aber nicht zu seinem Zweck, sondern um ihn an Bedürftige weiter zu geben. Meistens tat er das nicht persönlich, sondern durch menschliche Helfer. Und einer dieser Helfer war ich.
Er bat mich, Ausschau zu halten und mich bei einigen Familien umzuschauen, denen es geldmäßig nicht sehr gut ging. In der Kartei unserer Firma fand ich einige solcher Familien, - darunter auch manche, die unsere Rechungen nicht bezahlen konnten, aber für ihre Toten dennoch ein ehrbares Begräbnis forderten.
Bevor ich Aleksander kannte, hielt ich nicht viel von solchen Menschen. Ich sagte mir, wenn ich mir etwas nicht leisten kann, dann lass ich es bleiben. Aber Aleksander belehrte mich und erzählte mir einiges über jene Menschen, die im Grunde genommen für ihre Armut nichts konnten. Es lag an der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Diese Menschen wollten arbeiten und für ihre Familie aufkommen. Aber was sollten sie tun, wenn es keine Arbeit mehr gab?
Ich fragte mich oft, - genauso wie Verena, - woher Aleksander all den Reichtum hatte. Aber das blieb sein Geheimnis. Auch wussten nur wenige Menschen von seiner Existenz, obwohl er sich gerne in der Öffentlichkeit zeigte und anscheinend wirklich den Kontakt zu Menschen brauchte, was wohl aus einem uralten sentimentalen Grund geschah.
Die Residenz, wo er wohnte, befand sich etwas abseits der Stadt, - der ehemaligen Hauptstadt Venezuelas. Natürlich gab es in dieser Umgebung auch neugierige Leute, aber sie fanden nie etwas heraus. Es hieß, dass ein alter Mann das Haus, samt Grundstück, gekauft habe, aber noch nie jemand den neuen Besitzer zu Gesicht bekommen hätte. Aber das war nur das erste Jahr lang ein Gespräch unter den Leuten dieser Umgebung. Und das war auch gut so, denn Aleksander hatte seine Ruhe.
Er war ziemlich geschickt darin, seine Person geheimnisvoll erscheinen zu lassen. Es lag auch daran, weil er die Anwesenheit von Menschen spüren konnte, ohne sie sehen zu müssen. So verließ er sein Anwesen auch immer nur dann, wenn er wusste, dass er nicht beobachtet wird.
Verena hatte dieses Gespür ebenso. Auch wenn ich mich hinter einem Baum versteckte, - so sagte mir Aleksander am nächsten Tag, habe sie mich gesehen, jedoch gefühlt, dass ich keine Gefahr für ihr Geheimnis bin. Nur so meinte Aleksander wäre es gesünder für mich, mich in Zukunft von Verena fern zu halten, da sie mich sehr leicht zum Vampir machen oder gar töten könnte.
Wie geschrieben, ich durfte Verena nur einmal sehen und fand es selbst auch für sicherer, ihr nicht mehr aufzulauern. Das war übrigens nur wenige Tage später, nachdem ich mit Aleksander das erste Mal gesprochen hatte.
Was mich wunderte, war, dass er zur mir so großes Vertrauen hatte. Es war einen Monat später, als er mich bat, ihn in seiner Residenz zu besuchen. Ich sollte nachts zu ihm kommen, - nach Mitternacht. Ich fragte ihn nicht, ob es für mich nicht gefährlich sei, - wegen Verena, da ich ihm ebenso vertraute, und er mir von Anfang an versprochen hatte, mich nicht zu beißen. Und ich vertraute ihm auch, dass mich nicht als Opfer seiner Verena zuführte.
Also betrat ich kurz nach Mitternacht sein Anwesen und klopfte an das große Portal der Villa. Es dauerte nicht lange, und Aleksander öffnete mir. Als ich ihm ins Gesicht sah, stellte ich fest, dass seine Augen gerötet waren, als ob er geweint hätte.
Aleksander führte mich in ein großes Zimmer, in dessen Mitte ein langer Tisch für mindestens 20 Personen stand. Der Tisch, wie auch die prunkvollen Stühle, schienen aus Eiche zu sein. An der einen Wand des Raumes standen große Schränke und Vitrinen aus demselben Holz. Es sah alles sehr rustikal aus. Gegenüber dieser Wand befanden sich drei große Fenster, darüber dunkelrote Samtvorhänge. Die schmale Wand war mit einem offenen Kamin ausgefüllt, mit einer Bank um den Kamin, und davor eine weiche Ledercouch. Der Boden des Raumes war mit wertvollen so ich das beurteilen konnte ausgelegt. Die Beleuchtungen bestanden aus drei Lustern und einer antiken Stehlampe neben dem Ledersofa.
Aleksander nahm vor dem Kamin Platz, wo ein flauschiger, naturfarbener Teppich lag. Er winkte mir zu, und ich hockte mich neben ihn auf den weichen Teppich.
Ich liebe es, hier zu sitzen und in das Feuer zu starren, brach Aleksander das Schweigen. Wenn ich mit dem Rücken zum Raum sitze, erscheint er mir nicht mehr so groß.
Ich wollte schon lachen und eine Bemerkung machen, - wie etwa, die vom Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, um nicht gesehen zu werden. Aber noch rechtzeitig bemerkte ich, dass ein Lachen unangebracht war, denn mein Freund wirkte sehr traurig.
Ich schwieg und wartete, ob er sich bei mir ausreden möchte. Und dann rückte er schon mit seinem Schmerz heraus.
Verena ist gegangen.
Ich sah eine Träne an seiner Wange.
Wusstest du, dass Vampire gar nicht weinen können? fragte er mich. Sie haben keine Körperausdünstungen und Körpersäfte mehr, weil sie tot sind. Das Blut, das sie trinken, dient nur dazu, die Energie im Körper zu erhalten. Dennoch sterben sie nicht, wenn sie kein Blut mehr trinken, da sie ja schon tot sind. Aber es ist ein qualvolles Dasein, wenn sie kein Blut mehr trinken. Dann erscheinen sie wie tot, was sie ja auch sind, - aber sie sind bewegungslos, - starr. Und niemand weiß, was in ihnen vorgeht, - welche Schmerzen, - krampfhafte Schmerzen sie aushalten müssen.
Ich weiß das, weil ich einmal einen Vampir in diesem Zustand gesehen habe. Ich gab ihm Blut zu trinken, dann erzählte er mir, was er durchgemacht hatte. Deshalb wissen wir Vampire, dass wir nicht sterben können.