Aleksander (Vampirsaga 2)

N

Nelida

Guest
Aleksander

Mein Name ist Kyle. Ich bin 36 Jahre alt und homosexuell, was allgemein „schwul“ genannt wird. Ich mag dieses Wort nicht sehr, weil es auf mich diskriminierend wirkt. Aber in der heutigen Zeit hat es ohnehin keine Bedeutung, da niemand mehr nach seiner Gesinnung gefragt wird. Das Einzige was zählt ist, den Tag zu überleben, was mit Nahrungssuche und einem Lager für die Nacht verbunden ist.

Als ich Aleksander kennen lernte, sah es noch etwas besser auf der Erde aus. Obwohl bereits viele Menschen arbeitslos waren und am Hungertuch nagten, zählte ich zu den Glücklichen, der in eine eher reiche Familie hinein geboren wurde. Ich war gerade dabei, die Firma meines Vaters zu übernehmen. Es handelte sich um Bestattung. Bei uns gab es Särge aller Art zu kaufen, und natürlich wurde auch die Art des Begräbnisses von uns übernommen.
Man glaubt nicht, was sich in zehn Jahres alles verändern kann. Mein Vater sagte mir immer, eine Bestattungsfirma kann nie zugrunde gehen, denn alle Menschen werden einmal begraben. Heute schert sich kein Mensch darum, wie ihre Verwandten begraben werden, und ob sie überhaupt begraben werden.

Ja, die so genannte Endzeit hat begonnen, - eine Endzeit für die Menschheit.
Der Wüstenboden, über den ich gehe, ist sehr oft mit Leichen gepflastert. Manche verdursteten und verhungerten, andere wieder wurden überfallen, um ihnen das Letzte, was sie noch hatten, abzunehmen.

Ich sah Aleksander das erste Mal auf der Straße, - vom Bürofenster der Bestattungsfirma aus. Er fiel mir sofort auf, - alleine wegen seines langen, blonden Haares. Damals gab es nicht mehr so viele Männer mit langem Haar, weil es einfach nicht mehr „in“ war. Aleksanders Haar war fast hüftlang, immens füllig und leicht gelockt wie Engelshaar. Auch sein ebenmäßiges, jedoch etwas zu blasses Gesicht wirkte engelhaft.
Für mich war es Liebe auf den ersten Blick, und ich sagte mir: Diesen jungen Mann musst du kennen lernen.
Als ich aber auf die Straße trat, um ihn anzusprechen, war er verschwunden. Enttäuscht ging ich ins Büro zurück und konnte mich nachher nur schwer auf die Arbeit konzentrieren, die aus Rechnungen schreiben bestand.

Mir ging es so ähnlich wie Verena, deren Schrift mich Aleksander später lesen ließ. Auch ich brauchte drei Anläufe, bis ich Aleksander näher kommen durfte.
Das zweite Mal sah ich ihn ebenfalls in einem Café. Er verließ es gerade, als ich es betrat. Aber das geschah alles viel zu schnell, als dass ich ihm nachlaufen hätte können. Außerdem war ich in Begleitung, wo es nicht sehr chic gewesen wäre, einem anderen Mann nachzugehen, selbst wenn diese Begleitung für mich keine besondere Bedeutung hatte. Er war es, der an mir interessiert war, aber ich nicht an ihm, was ich ihm im Café dann auch klar machte.
Das dritte Mal klappte es endlich. Ich machte gerade Besorgungen und kam aus dem Supermarkt, als ich Aleksander auf der anderen Straßenseite sah. Ich ließ ihn nicht aus dem Augen und schaute, dass ich so schnell wie nur möglich über die Straße kam, da gerade viel Verkehr war. Dann eilte ich ihm nach und hielt ihn, - zugegeben, nicht sehr höflich, - am Arm zurück.
„Entschuldige, dass ich dich auf offener Straße so unschicklich aufhalte“, sagte ich und begann leicht zu stottern, da er mich mit seinen wundervollen hellblauen Augen durchleuchtete, „aber ich muss dich einfach kennen lernen.“
Aleksander verzog keine Miene. Verena beschrieb ihn wirklich gut, denn in diesem Moment erschien mir sein hübsches Gesicht auch wie eine Maske.
„Ich entschuldige Ihre Haltung“, sagte er blessiert. „Aus welchem Grund wünschen Sie mich kennen zu lernen?“
Seine tiefe Stimme ging mir übrigens auch durch und durch, - nicht nur der Blick seiner Augen!
„Ich habe Sie schon öfters gesehen“, sagte ich und sprach ihn auch in der dritten Person an.
„Ja? Und?“
„Sie erscheinen mir höchst interessant. Sie wirken so anders auf mich“, stotterte ich.
Plötzlich lachte Aleksander laut auf.
„Ich verstehe!“ sagte er. „Wollen wir auf einen Kaffee gehen?
Dagegen hatte ich nichts einzuwenden.

Natürlich wunderte ich mich dann, dass er Kaffee für sich bestellte und keinen Schluck davon trank. Aber das war damals noch Nebensache für mich. Ich wollte ehrlich zu ihm sein und erzählte ihm sofort von meiner Gesinnung und dass ich mich in ihn verliebt hatte.
Aleksander nahm es gelassen auf. Ich konnte keinerlei Gefühlsregung in seinem Gesicht erkennen, - auch nicht, dass er vielleicht schockiert gewesen wäre. Ich hatte eher das Gefühl, dass ihn eigentlich gar nichts schockieren und ebenso nichts aus seiner stoischen Ruhe bringen kann. Mir ging nur seine etwas blessierte Art auf die Nerven. Und auch darauf sprach ich ihn an, worauf er abermals laut auflachte.
„Du bist nicht der Erste, der mir das sagt“, meinte er und benutzte endlich das Du-Wort. „Aber so bin ich nun mal. Ich halte sehr viel von höflichen Manieren.“
„Okay“, sagte ich aufatmend. „Ich war offen und ehrlich zu dir. Wie steht es nun mir dir?“
„Du meinst, ich sollte nun ebenso offen und ehrlich zu dir sein?“
Ich nickte.
Aleksander ließ sich über den Tisch zu mir herüber und öffnete leicht seine Lippen. Dann zeigte er auf seine Schneidezähne. Lächelnd lehnte er sich wieder auf dem Sessel zurück. Aber ich verstand nicht und sah ihn fragend an.
„Hast du schon einmal etwas von Vampiren gehört?“ fragte er mich leise.
„Ja, - ich habe als Kind Dracula gelesen und auch schon einige Filme gesehen. Warum?“
„Nun, - ich bin ein Vampir“, sagte Aleksander flüsternd.
Zuerst starrte ich ihn ungläubig an. Ich glaube, ich starrte ihn ziemlich lange ungläubig an. Eigentlich fiel mir als erstes ein, ihm zu sagen, dass er mich nicht verarschen soll, - oder, dass ich mich selbst verarschen kann. Ich wollte es nicht ernst nehmen. Das war der Hauptgrund. Ja, ich wollte es nicht ernst nehmen, weil Vampire einfach nicht in mein Weltbild passten. Nun, in wessen Weltbild – wenn man von so genannten normalen Menschen ausgeht – passen schon Vampire? Aber gleichzeitig machte sich in mir ein Gefühl breit, das mir sagte, dass er die Wahrheit spricht. Um es bildlich darzustellen: In meinem Kopf tobte einige Sekunden lang ein gewaltiger Sturm…
Aleksander sah mich währenddessen vergnügt an. Er schien zu wissen, was in mir vorging und amüsierte sich dabei köstlich. Seltsam, aber diese Regung sah ich ihm wirklich an!
„Ist das vielleicht der Grund, warum du deinen Kaffee nicht trinkst?“ fragte ich mit gedämpfter Stimme.
„Das hast du sehr scharfsinnig festgestellt.“

Das war also unser erstes Zusammentreffen. Ich wollte Aleksander unbedingt wieder sehen, - auch auf die Gefahr hin, dass er mich beißen könnte, was er aber nicht tat und auch nicht vorhatte.
Wir beschränkten uns nur auf Konversation, denn zu meinem Leidwesen machte er mir klar, dass Vampire keine sexuellen Aktivitäten haben. Was Konversation betrifft, hatte Aleksander einiges anzubieten, was mein Weltbild noch mehr auf den Kopf stellte.

Verena hatte es in ihrer Schrift, die sie Aleksander zum Abschied zurück gelassen hatte, bereits angedeutet, - das Bewusstwerden mehrerer Dimensionen der Erde.
Übrigens habe ich Verena nie kennen gelernt. Ich durfte sie nur einmal von weitem sehen, als sie nach Mitternacht im Anwesen Aleksanders verschwand. Sie kam gerade um die Ecke und ich versteckte mich hinter einem Baum der Allee, konnte sie jedoch sehr gut sehen, bedingt durch die Straßenlaterne. Verena war eine wunderschöne, junge Frau, - das musste ich neidlos anerkennen und konnte auch verstehen, warum sich Aleksander so sehr um sie kümmerte.
Ich konnte mich auch gut in sie hineinfühlen, während ich ihre Schrift las, - besonders das, was sie über Aleksander schrieb, - über sein gutes Herz und seine Selbstlosigkeit, die ich ebenso kennen lernen durfte. Wann immer Not am Mann war, bot Aleksander seine Hilfe an. Obwohl er selbst von materiellem Reichtum absolut nichts hielt, sammelte er ihn an, - aber nicht zu seinem Zweck, sondern um ihn an Bedürftige weiter zu geben. Meistens tat er das nicht persönlich, sondern durch menschliche Helfer. Und einer dieser Helfer war ich.
Er bat mich, Ausschau zu halten und mich bei einigen Familien umzuschauen, denen es geldmäßig nicht sehr gut ging. In der Kartei unserer Firma fand ich einige solcher Familien, - darunter auch manche, die unsere Rechungen nicht bezahlen konnten, aber für ihre Toten dennoch ein ehrbares Begräbnis forderten.
Bevor ich Aleksander kannte, hielt ich nicht viel von solchen Menschen. Ich sagte mir, wenn ich mir etwas nicht leisten kann, dann lass ich es bleiben. Aber Aleksander belehrte mich und erzählte mir einiges über jene Menschen, die im Grunde genommen für ihre Armut nichts konnten. Es lag an der allgemeinen Arbeitslosigkeit. Diese Menschen wollten arbeiten und für ihre Familie aufkommen. Aber was sollten sie tun, wenn es keine Arbeit mehr gab?

Ich fragte mich oft, - genauso wie Verena, - woher Aleksander all den Reichtum hatte. Aber das blieb sein Geheimnis. Auch wussten nur wenige Menschen von seiner Existenz, obwohl er sich gerne in der Öffentlichkeit zeigte und anscheinend wirklich den Kontakt zu Menschen brauchte, was wohl aus einem uralten sentimentalen Grund geschah.
Die Residenz, wo er wohnte, befand sich etwas abseits der Stadt, - der ehemaligen Hauptstadt Venezuelas. Natürlich gab es in dieser Umgebung auch neugierige Leute, aber sie fanden nie etwas heraus. Es hieß, dass ein alter Mann das Haus, samt Grundstück, gekauft habe, aber noch nie jemand den neuen Besitzer zu Gesicht bekommen hätte. Aber das war nur das erste Jahr lang ein Gespräch unter den Leuten dieser Umgebung. Und das war auch gut so, denn Aleksander hatte seine Ruhe.
Er war ziemlich geschickt darin, seine Person geheimnisvoll erscheinen zu lassen. Es lag auch daran, weil er die Anwesenheit von Menschen spüren konnte, ohne sie sehen zu müssen. So verließ er sein Anwesen auch immer nur dann, wenn er wusste, dass er nicht beobachtet wird.
Verena hatte dieses Gespür ebenso. Auch wenn ich mich hinter einem Baum versteckte, - so sagte mir Aleksander am nächsten Tag, habe sie mich gesehen, jedoch gefühlt, dass ich keine Gefahr für ihr Geheimnis bin. Nur – so meinte Aleksander – wäre es gesünder für mich, mich in Zukunft von Verena fern zu halten, da sie mich sehr leicht zum Vampir machen oder gar töten könnte.

Wie geschrieben, ich durfte Verena nur einmal sehen und fand es selbst auch für sicherer, ihr nicht mehr aufzulauern. Das war übrigens nur wenige Tage später, nachdem ich mit Aleksander das erste Mal gesprochen hatte.
Was mich wunderte, war, dass er zur mir so großes Vertrauen hatte. Es war einen Monat später, als er mich bat, ihn in seiner Residenz zu besuchen. Ich sollte nachts zu ihm kommen, - nach Mitternacht. Ich fragte ihn nicht, ob es für mich nicht gefährlich sei, - wegen Verena, da ich ihm ebenso vertraute, und er mir von Anfang an versprochen hatte, mich nicht zu beißen. Und ich vertraute ihm auch, dass mich nicht als Opfer seiner Verena zuführte.

Also betrat ich kurz nach Mitternacht sein Anwesen und klopfte an das große Portal der Villa. Es dauerte nicht lange, und Aleksander öffnete mir. Als ich ihm ins Gesicht sah, stellte ich fest, dass seine Augen gerötet waren, als ob er geweint hätte.
Aleksander führte mich in ein großes Zimmer, in dessen Mitte ein langer Tisch für mindestens 20 Personen stand. Der Tisch, wie auch die prunkvollen Stühle, schienen aus Eiche zu sein. An der einen Wand des Raumes standen große Schränke und Vitrinen aus demselben Holz. Es sah alles sehr rustikal aus. Gegenüber dieser Wand befanden sich drei große Fenster, darüber dunkelrote Samtvorhänge. Die schmale Wand war mit einem offenen Kamin ausgefüllt, mit einer Bank um den Kamin, und davor eine weiche Ledercouch. Der Boden des Raumes war mit wertvollen – so ich das beurteilen konnte – ausgelegt. Die Beleuchtungen bestanden aus drei Lustern und einer antiken Stehlampe neben dem Ledersofa.
Aleksander nahm vor dem Kamin Platz, wo ein flauschiger, naturfarbener Teppich lag. Er winkte mir zu, und ich hockte mich neben ihn auf den weichen Teppich.
„Ich liebe es, hier zu sitzen und in das Feuer zu starren“, brach Aleksander das Schweigen. „Wenn ich mit dem Rücken zum Raum sitze, erscheint er mir nicht mehr so groß.“
Ich wollte schon lachen und eine Bemerkung machen, - wie etwa, die vom Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, um nicht gesehen zu werden. Aber noch rechtzeitig bemerkte ich, dass ein Lachen unangebracht war, denn mein Freund wirkte sehr traurig.
Ich schwieg und wartete, ob er sich bei mir ausreden möchte. Und dann rückte er schon mit seinem Schmerz heraus.
„Verena ist gegangen.“
Ich sah eine Träne an seiner Wange.
„Wusstest du, dass Vampire gar nicht weinen können?“ fragte er mich. „Sie haben keine Körperausdünstungen und Körpersäfte mehr, weil sie tot sind. Das Blut, das sie trinken, dient nur dazu, die Energie im Körper zu erhalten. Dennoch sterben sie nicht, wenn sie kein Blut mehr trinken, da sie ja schon tot sind. Aber es ist ein qualvolles Dasein, wenn sie kein Blut mehr trinken. Dann erscheinen sie wie tot, was sie ja auch sind, - aber sie sind bewegungslos, - starr. Und niemand weiß, was in ihnen vorgeht, - welche Schmerzen, - krampfhafte Schmerzen sie aushalten müssen.
Ich weiß das, weil ich einmal einen Vampir in diesem Zustand gesehen habe. Ich gab ihm Blut zu trinken, dann erzählte er mir, was er durchgemacht hatte. Deshalb wissen wir Vampire, dass wir nicht sterben können.“
 
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„Aber ihr seid doch schon tot“, wandte ich ein.
„Siehst du, das ist die Paradoxie daran. Wir sind tot, aber wir sind es auch wieder nicht. Wären wir wirklich tot, würden wir in den Gräbern verfaulen. Aber wie du siehst – mich als Beispiel – bewegen wir uns wie ganz normale Menschen. Wir sprechen, - und unsere Geruchs-, Seh- und Gehörsinne sind um einiges besser als jene der normalen Menschen.
Es gibt dennoch ein großes Rätsel. Ich sprach es bereits an. Vampire haben keine Körpersäfte. Demnach können sie nicht weinen. Ich aber weine.
Und weißt du warum?“
Aleksander sah mich nach dieser Frage an.
Ich sagte nichts, - aber ich erwiderte seinen traurigen Blick interessiert.
„Ich weine, weil sie mein Herz berührte.“
Er wandte seine Augen von mir ab und starrte wieder ins Feuer.
„Die wahre Liebe bewegt alle Lebewesen, - auch jene, von denen gesagt wird, dass sie kein Herz haben. Das ist das Schöne, aber auch das Grausame an der wahren Liebe.“
„Warum grausam?“ fragte ich – fast flüsternd, da mir ein Kloß im Hals steckte.
„Weißt du nicht, dass alle Lebewesen im Grunde genommen Angst vor allen Gefühlen haben? Die meisten von ihnen streben Gleichgültigkeit gegenüber allem an, weil sie ihre eigenen Gefühle nicht ertragen können. Und dann erst wahre Liebe! Wie sollen Lebewesen sie jemals ertragen können, wenn sie schon Angst vor viel niedrigeren Gefühlen haben? Aber es ist so, - die meisten wissen gar nicht, wie viel Grausamkeit im Schönen steckt.“
„Siehst du das nicht ein bisschen zu schwarz?“ fragte ich – schon mit etwas festerer Stimme.
„Ja, vielleicht hast du recht, Kyle. Ich sollte nicht alle in einen Topf werfen, nur weil ich im Moment so empfinde.“
Wir schwiegen eine Weile, bis ich es wagte, Aleksander zu fragen, wohin Verena gegangen ist.
Er sah mich lange, bevor er mir antwortete, - und als er sprach, blickte er wieder ins Feuer des Kamins.
„Der Tod hat sie mitgenommen. Manchmal haben Vampire die Chance, ihr Vampirdasein zu beenden. Dann erscheint ihnen der Tod persönlich. Verena sagte, er wirke männlich auf sie und trage einen dunklen Umhang, mit Kapuze, die er tief ins Gesicht gezogen hat, dass man sein Gesicht nur erahnen könne. Und er habe eine enorme Ausstrahlung, die sie kraftmäßig fast erdrückte.
Nun, Verena hatte diese Chance und sie nahm sie an, nachdem ich ihr es geraten hatte.“
„Du hast es ihr geraten?!“ stieß ich überrascht hervor.
„Natürlich!“ sagte Aleksander und sah mich an. „Es ist eine einmalige Chance. Als Vampir darf man sich diese Chance nie entgehen lassen.“
Ich hatte Ehrfurcht vor diesem Mann. Vielleicht zum ersten Mal spürte ich damals sein selbstloses Herz und eine Liebe, die er in sich trug, die so gewaltig war, dass sie ihn selbst erschreckte, weshalb er sie auch grausam nannte.
„Hast du gesehen, wie sie gegangen ist?“ fragte ich.
„Keiner von uns kann den Tod sehen, - nur derjenige, den es betrifft“, sagte Aleksander und überreichte mir ein zusammengerolltes Päckchen Papier.
„Lies das“, sprach er weiter. „Verena hat es auf ihr Kopfkissen gelegt. Es sind sozusagen ihre Memoiren, wie sie zum Vampir geworden ist. Sie hat mir damit eine wunderschöne Liebeserklärung gemacht.“
„Dann ist es doch nur für dich bestimmt, Aleksander“, sagte ich und wollte ihm die Rolle zurückgeben.
Aber er wehrte ab.
„Ich möchte, dass du es liest. Und ich bin mir sicher, dass Verena es auch gewollt hätte.“
„Warum hätte sie es gewollt?“
„Du und Verena, ihr seid euch sehr ähnlich“, sagte Aleksander, und ich errötete.
„Sagst du das, weil du vielleicht dasselbe für uns empfindest?“ wagte ich zu fragen und schluckte.
Aleksander zeigte mir ein gequältes Lächeln.
„Vielleicht tue ich es einmal. Aber jetzt hängt mein Herz noch an Verena. Nein, - ich meinte, eure Herzen sind euch sehr ähnlich. Ihr seht die Dinge der Welt auf ähnliche Art.“
Ich wollte die Schriftrolle öffnen.
„Lies es bei dir zu Hause. Und dann bringe es mir wieder, bitte.“
Wir saßen noch eine Weile schweigend am Feuer, dann bat er mich, zu gehen.

Zu Hause setzte ich mich bequem aufs Sofa und öffnete die Schriftrolle. Verena nannte ihre Memoiren „Liebestod“. Nachdem ich alles in einem Zug gelesen hatte – ich konnte mit Lesen nicht aufhören – verstand ich den Titel ihrer Schrift. Er war nicht auf sie oder ihre Schrift gemünzt, - er galt Aleksander, der sie aus Liebe zu ihr mit dem Tod gehen ließ.

Aber mich faszinierte etwas anderes noch viel mehr, das ich bereits angesprochen habe – nämlich die unzähligen Dimensionen der Erde, die es, laut Verenas Schriften, wirklich geben sollte. Und genau darauf sprach ich Aleksander das nächste Mal, als ich ihm die Schriftrollen zurückbrachte, an.
Sein Lächeln auf meine Frage war sehr geheimnisvoll. Ich hatte das Gefühl, er würde nicht gerne darüber sprechen, weil er sehr lange überlegte.
„Was hast du davon, wenn ich dir sage, wie Vampire wahrnehmen?“ stellte er mir die Gegenfrage, die mich nun sprachlos machte.
Aleksander sah mir an, dass ich darauf keine Antwort wusste. Aber ich machte ihm einige Augenblicke später klar, dass es mich einfach interessierte und zu einer Thematik gehörte, mit der sich die Menschen viel zu wenig beschäftigen und wohl auch früher viel zu wenig beschäftigt hatten. Wissenschaft sollte allgemein beweisbar sein. Aber wie sollte man eine derartige Wahrnehmung beweisen, wenn sie die Menschen selbst nicht betrifft, sondern nur Vampire? Außerdem, - wer glaubt schon an Vampire und dann erst an ihre Wahrnehmungen?
„Mir ist deine Neugierde schon klar. Aber sei dir bewusst, dass du mit diesem Wissen nichts anfangen kannst, solange du nicht selbst ein Vampir bist“, sagte Aleksander.
„Ich erinnere mich, in Verenas Schriften gelesen zu haben, dass es auch einige wenige Menschen gibt, die andere Dimensionen wahrnehmen können“, hielt ich dagegen.
„Oh ja, vor allem Kleinkinder nehmen die näher liegenden Dimensionen wahr. Aber dann kommen die Erwachsenen und nennen das alles Phantasie. Und bekanntlich ist Phantasie etwas, das nicht real ist. Die Kinder werden praktisch in die Welt der Erwachsenen gezwungen und verlieren somit den größten Teil ihres Selbst.“
Ich wurde hellhörig, und Aleksander sprach weiter.
Natürlich saßen wir wieder auf seinem Lieblingsplatz, vor dem offenen Kamin auf dem weichen Teppich.
„Da einige der Erddimensionen zum Menschen selbst gehören, was Parallelleben genannt wird, versäumen sie damit sehr viel. Es besteht ja nicht nur die Erde wie eine Zwiebel aus unzähligen Schichten, sondern auch die meisten Lebewesen auf ihr. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn sich Kinder manchmal als Märchenprinzessinnen, oder Fabelwesen wahrnehmen. Da aber die Kinder in dieser Wahrnehmung nicht gefördert werden, verlieren sie mehr und mehr den Kontakt zu jenen anderen Dimensionen. Auch können sie nicht direkt in jene anderen Dimensionen eindringen, indem sie wirklich dort sind. Kinder sind immer nur in dieser einen Dimension. Dennoch vermittelt ihnen ihr inneres Wissen auch andere Dimensionen. Leider wird dieses Wissen als Phantasie abgetan.“
„Willst du damit sagen, dass Kinder gar nicht phantasieren, sondern einfach andere Realitäten wahrnehmen?“ fragte ich verblüfft.
„Genau das will ich sagen, Kyle. In Wirklichkeit gibt es gar keine Phantasien, sondern nur andere Wirklichkeiten. Was meinst du, woher all die Märchen und alle anderen so genannten Phantasiegeschichten herkommen? Aus dem Menschen selbst? Oh, nein! Der Mensch selbst ist nur ein wahrnehmendes Wesen, - ein Wesen wie ein Schwamm, das alles um sich herum aufsaugt.
Da der Mensch jedoch keinen realen Zugang zu anderen Dimension hat, wird logischerweise einiges verfälscht. Es ist ja nur ein vager Blick, den er in andere Dimension wirft, wobei es ihm gar nicht bewusst ist, dass sein inneres Auge all das, was er Phantasie nennt, wirklich sieht.
Ja, Kyle, das dritte Auge, - es ist Realität, auch wenn es kein Auge, sondern eine Drüse ist, - sozusagen das größte Wahrnehmungsorgan, das der Mensch leider verkümmern lässt, da es in seiner Kindheit nicht gefördert wird.“
„Und warum ist es bei Vampiren intakt?“ fragte ich.
Aleksander lächelte.
„Siehst du, Kyle, - das ist etwas, was ich dir nicht sagen kann, weil ich es nicht weiß. Es ist einfach so. Du musst dich mit dieser Antwort begnügen.“
„Aber warum weißt du alles andere? Warum weißt du das über die Kinder?“
„Weil auch Kinder zu Vampire werden können. Ich kannte eine Sechsjährige, die gar nicht erstaunt darüber war, als sie mehrere Dimensionen gleichzeitig wahrnehmen konnte. Ganz im Gegenteil! Sie war erfreut darüber, weil sie ihr Feenreich – wie sie es nannte – plötzlich viel intensiver wahrnehmen konnte.
Auch kannte ich einen sehr alten Vampir, der wiederum einen sehr alten Vampir kannte. Du siehst, auch bei uns gibt es uralte Überlieferungen, die aber meist nur mündlich weitergegeben werden.
Weißt du, wir hinterlassen ungern Schriften, da die Gefahr besteht, dass sie von Menschen gefunden werden könnten. Wir nehmen zwar an, dass solche Schriften nicht ernst genommen werden, - dennoch ist es sicherer, wenn wir keine haben und wenn, dass wir sie vernichten.“
Nach diesen Worten warf Aleksander Verenas Schriftrolle ins Feuer. Ich wollte ihn zurückhalten, aber sein Arm war stärker.
„Schade drum“, sagte ich, „denn so etwas müsste den Menschen gesagt werden.“
Aleksander lachte wieder.
„Was meinst du, was den Menschen schon alles gesagt wurde? Haben sie alles geglaubt, oder sich nach irgendwelchen Schriften wirklich gerichtet, obwohl diese als überaus weise verkauft wurden?“
Ich musste ihm recht geben.
„Aber wenn so eine Möglichkeit besteht…“
„Ja, die besteht!“ unterbrach mich Aleksander. „Aber wer sollte sie nutzen können? Wer könnte ein qualifizierter Lehrer sein, der die Kinder darin unterrichtet, ihr drittes Auge zu fördern?“
„Du – zum Beispiel!“ sagte ich schnell.
„Und dann? Was meinst du, was die Menschen in den anderen Dimensionen anrichten werden?
In all den Jahren habe ich schon öfters überlegt, so etwas zu tun, aber dann fragte ich mich, ob es wirklich so gut wäre, den Menschen so einen wertvollen Schlüssel zu überreichen. Und ich kam auf die Antwort, dass es nicht so gut wäre und es durchaus einen Sinn hat, warum ihr drittes Auge verkümmert.
Es ist nun mal so, dass sich die Menschheit für einen ganz bestimmten Weg entschieden hat. Sie hatte die freie Entscheidung.“
„Wie meinst du das?“ fragte ich.
„Denke doch an die Geschichte der Menschheit, - an die Urgeschichte. Wie lebten die Menschen damals? Wonach suchten sie?“
„Ich glaube, die Menschen suchten damals schon nach Wohlstand, nach einem gesicherten Leben.“
„Und genau das war die Richtung, der Weg, für den sich alle entschieden haben. Es ist nichts Falschen daran, denn etwas hätten sie immer verloren.“
„Was hätten sie verloren, wenn sie sich für das dritte Auge entschieden hätten?“ fragte ich verwirrt.
„Die menschliche Gemeinschaft, Kyle. Bedenke doch, wie viele Welten den Menschen offen stehen würden! Sie könnten von einer Dimension in die andere reisen und wären nirgendwo wirklich zu Hause. Das, was sich die Menschheit hier auf der Erde aufgebaut hat, würde es nicht geben, wenn sie sich für das dritte Auge entschieden hätte. Und wer weiß schon, was ihr der Weg in andere Dimensionen gebracht hätte?“
„Auf jeden Fall mehr als diese eine Welt“, sagte ich.
„Und genau darin liegt das Problem, Kyle. Aus dir spricht das Menschengeschlecht, das stets mehr haben will, als es hat. Und sieh es mal so, - Vampire waren einst Menschen.“
Jetzt war ich es, der lachte.
„Aber um andere Dimensionen wahrzunehmen, müssen Menschen erst sterben“, sagte ich bitter.
„Ach, Kyle – es ist ein anderes Sterben. Dennoch – so gesehen haben einige doch die Chance, dieses Wissen real zu erfahren.“

Mich beeindruckte dieses Wissen so sehr, dass ich wirklich überlegte, auch ein Vampir zu werden. Aber Aleksander weigerte sich, mich zu beißen und hielt mich auch von anderen Vampiren fern, - oder besser gesagt, ich stand unter seinem Schutz, dass es keiner wagte, mich zu beißen. Darüber habe ich mich mit Aleksander nie unterhalten, aber ich glaube doch, dass es auch unter Vampiren so etwas wie einen Ehrenkodex gibt.

Die Zeiten wurden zusehendes schlechter. Es gab bald kaum mehr Arbeit, und sogar das Bestattungsgeschäft ließ sehr nach. Obwohl es noch immer verboten war, seine Angehörigen selbst irgendwo zu vergraben oder zu verbrennen (was häufiger war), häuften sich diese Rituale.
Meinen Nebenjob, für Aleksander besonders bedürftige Familien, wie auch einzelne Menschen zu finden, übte ich zusehends mehr aus. Immerhin sprang ja auch für mich etwas heraus, da mich Aleksander für meine Mühe ebenso belohnte.
Es kam dann die Zeit, wo ich mich fragte, woher er seinen Reichtum noch immer hatte, obwohl es eigentlich nirgendwo mehr etwas zu holen gab. Sicher, er hatte sehr viel Erspartes, aber auch das müsste einmal zu Ende gehen. Aber als es ringsum bald nur mehr Armut gab, hatte Aleksander noch immer sehr viel zu geben. Dennoch, bald mussten wir dieses „Geschäft“ nach einigen Jahren aufgeben, da es gefährlich wurde. Überall lauerten Raubmörder, die herausgefunden haben, dass es da einige Menschen gibt, die sich mit Geld und anderen Kostbarkeiten herumtreiben. Und – ehrlich gesagt – auf diese Art wollte ich sicher nicht sterben!
 
Nach etwa 10 Jahren brach alles zusammen. Die Anarchie war ausgebrochen. Es gab nur mehr Mensch gegen Mensch. Jeder raffte zusammen, was er fand – auch wenn dabei Menschenleben drauf gingen.
Vor einigen Jahren war es noch relativ sicher, tagsüber auf die Straße zu gehen, - aber jetzt machte es keinen Unterschied, ob am Tag oder in der Nacht. Die Raubmörder lauerten überall, - und – es gab nur mehr Raubmörder.
Familien brachen auseinander und neue wurden nicht mehr geschlossen. Frauen wollten keine Kinder mehr in diese Welt setzen, und wenn – aufgrund von Vergewaltigung – dann brachten die Mütter ihre Neugeborenen eigenhändig um.
Ich habe zwar an der Menschheit schon immer ein bisschen gezweifelt, aber diese brutale Rohheit hätte ich ihr niemals zugemutet. Gerade in dieser Zeit dachte ich wieder an die anderen Dimensionen, ob sie vielleicht eine Rettung für die Menschheit hätten sein können. Aber was würden die Menschen, die sich zu wahren Raubtieren entwickelten, in anderen Dimensionen anstellen?

Aleksander musste seine Residenz verlassen. Es war auch für ihn zu gefährlich, - nicht nur wegen der Überfälle, sondern viel mehr um sein Geheimnis zu wahren. Natürlich hatten es alle Vampire zu dieser Zeit nicht leicht, da es immer weniger Menschen gab.
Unsere Stadt, in der es vor einige Jahren noch ein paar Millionen Menschen gab, verringerte sich bis zu einigen tausend Menschen. Und bald war von der Stadt selbst kaum mehr etwas zu sehen, als nur mehr Ruinen und Staub.
Aleksander und ich zogen uns zurück in die Berge. Wir begannen ein Leben, so wie einst unsere Vorfahren, die Höhlenbewohner, die jedoch den Vorteil hatten, dass die Natur noch intakt war. Heute war es nicht mehr so einfach, Nahrung in der Natur zu finden. Aleksander hatte kein Problem damit, er brachte „nur“ Blut, aber für mich war Essen und vor allem Wasser lebensnotwendig.

Als sich Aleksander eines Tages vor Schmerzen auf dem Boden der Höhle krümmte, weil er kein Opfer fand, schlug ich ihm vor, sich eines aus einer anderen Dimension zu nehmen, wenn er sich schon nicht dazu entschließen kann, mich zu beißen. Aber der gute Kerl litt lieber, als sich in fremden Gefilden nieder zu lassen.
Es war einer der schrecklichsten Tage, den ich mit Aleksander erlebte. Ich wusste, er kann nicht sterben und wenn er kein Opfer findet, würde er für immer leiden müssen. Was also tun?
Es blieb mir dann keine andere Wahl, als auf die Suche zu gehen. Wir waren ja nicht die Einzigen, die eine Bleibe in den Bergen hatten, denn viele Menschen zogen hier herauf. Das Problem war nur, welche zu finden, da sich die meisten hier versteckten.
Schließlich sah ich ein junges Mädchen, das gerade Beeren pflückte, die kärglich an einem eher dürren Strauch wuchsen. Ich sprach es an. Das Mädchen schien keine Angst vor mir zu haben. Es war alleine und erzählte mir, dass es seine Mutter verloren hatte, die vor Räubern weggelaufen war. Es konnte mit der Mutter nicht Schritt halten und blieb zurück. Das Mädchen dürfte etwa sieben Jahre alt gewesen sein.
Ich hatte wirklich ein schlechtes Gewissen, als ich es zu Aleksander in die Höhle führte, aber es bestand ja auch die Hoffnung, dass es den Biss überlebt und selbst zum Vampir wird.

Mich packte die Angst, als ich Aleksanders Augen sah, wie er das Mädchen anblickte. Ich verglich ihn mit einer Schlange, die ihr Opfer hypnotisiert und unbeweglich macht. Es stand wirklich starr vor ihm, obwohl es die Möglichkeit hatte, wegzulaufen. Dann ging alles blitzschnell. Aleksander packte das Mädchen, riss es zu sich hinunter und saugte ihm das Blut aus.
Ich wandte mich ab und musste die Höhle verlassen. Draußen setzte ich mich auf einen Felsen und unterdrückte meine Tränen und den Schrei, der in meiner Kehle stecken blieb. Mir kam das Bild des gefallenen Engels in den Sinn und ich fragte mich, ob es das Sinnbild der Menschheit ist. Satan gibt es nicht, sonst hätte ich ihn schon getroffen – sagte ich mir, - aber es gibt den Menschen, und ich habe erfahren, was dem Menschen alles möglich ist und wozu er wirklich fähig ist. Und langsam glaubte ich daran, dass die nächst tiefere Stufe das Dasein der Vampire ist, denn nur Menschen können zu Vampiren werden. Das Blut eines Tieres löscht den Durst eines Vampirs leider nicht…
Wieder einmal dachte ich an Verenas Schriftrolle, in der sie etwas über Lichtarbeit und Aufstieg geschrieben hatte, dass es angeblich Menschen gibt, die aufgestiegene Meister geworden sind. Jesus Christus sein unter anderem so ein aufgestiegener Meister gewesen. Wäre es den Menschen wirklich möglich, so etwas wie einen Aufstieg zu vollziehen? Wenn, dann hätte ich allzu gerne gewusst, wie.

Nach etwas mehr als einer Stunde kam Aleksander aus der Höhle. Er setzte sich zu mir.
„Ist sie tot?“ fragte ich mit belegter Stimme.
„Ich weiß es nicht.“
Plötzlich ekelte es mich vor meinem Freund, den ich bisher immer so hoch eingeschätzt hatte. Es war ja auch das erste Mal, dass ich ihn in „voller Aktion“ gesehen hatte. Und mir wurde in diesem Moment bewusst, dass ich mir bis jetzt nicht einmal vorgestellt hatte, wie es ist, wenn er sich ein Opfer nimmt. Das war eben die Kehrseite meines so hochgeschätzten Freundes…
„Worüber denkst du nach?“ fragte Aleksander, als wäre nichts gewesen.
„Ich denke nach, ob die Menschheit gerettet werden kann“, sagte ich – ebenso, als wäre nichts gewesen.
„Wovor soll sie gerettet werden?“
„Wahrscheinlich vor sich selbst“, sagte ich verbittert.
„Sie kann sich selbst retten, wenn sie das will. Aber so wie überall und immer gibt es auch hier zwei Seiten. Um etwas Neues zu vollbringen, muss Altes geopfert werden.“
„Lichtarbeit und Aufstieg?“ fragte ich, um wieder einmal Verenas Schrift zu erwähnen.
Aleksander lachte.
„Das wäre zu einfach. Außerdem ist es dem Menschen nicht möglich, von selbst seine Körperlichkeit zu verändern. Das ist Privileg der Natur, der natürlichen Entwicklung. Auch glaube ich nicht, dass es zur wahren Aufgabe des Menschen gehört, denn immerhin existiert ein Teil von ihm in einer feinstofflicheren Erddimension – und das bereits von Anbeginn des Menschen selbst.“
„Wozu soll das gut sein, dass alles geteilt ist, obwohl es ganz sein sollte?“ fragte ich.
„Es ist ganz, Kyle. Das gesamte Universum ist ein Ganzes. Es liegt nur an der Wahrnehmung, - daran, es so wahrzunehmen wie es ist.“
Wir schwiegen eine Weile. Ich versuchte krampfhaft, meine Gedanken über das Mädchen zu verdrängen. Die Vorstellung, dass sie tot ist war genauso schrecklich für mich, wie die, dass sie zum Vampir werden könnte.
Aleksander nahm das Wort wieder auf.
„Ich habe dir nicht alles über Verena erzählt“, begann er. „Es ist kein Privileg, wenn einem Vampir der persönliche Tod erscheint. Und Verena hatte keine Wahl. Sie musste mit dem Tod gehen, weil er ihren Willen bereits beim ersten Mal, als sie ihn sah, gebrochen hat. Auch wenn sie geschrieben hat, dass der Tod ihr sagte, sie könne sich entscheiden, was durchaus stimmen mag, ist es nicht so. Der Tod ist gnädig und lässt den Vampiren das letzte Ehrgefühl.“
Die Gedanken an das Mädchen in der Höhle waren weg.
„Aber warum? Warum…“
„Warum der Tod Verena erschien? Das kann ich dir sagen, Kyle. Sie war nicht würdig, ein Vampir zu sein, auch wenn sie die Chance dazu bekommen hat. Verena legte sehr viel Wert auf Äußeres. Sie liebte das Leben in Saus und Braus. Und sie achtete niemals darauf, welche Opfer sie sich nahm. Verena verkannte das Vampirdasein, indem sie glaubte, wir Vampire seien herzlos.
Aber wir sind nicht herzlos. Nicht nur ich suchte mir meine Opfer aus. Das taten alle Vampire, auch wenn es manchmal so schien, als würden sie wahllos morden.
Verena hatte wenig Kontakt zu anderen Vampiren, was durchaus unserem Naturell entspricht. Wir sind keine Gemeinschaftswesen, wie es Menschen sind. Wir gründen keine Familien, keine Gruppen. Wir sind wie einsame Wölfe.
Vielleicht verurteilst du unser Leben“, sprach Aleksander weiter. „Ich habe vorhin in der Höhle deinen Blick voller Abscheu gefühlt. Dennoch frage ich mich, warum du nicht auch Abscheu empfindest, wenn Menschen Tiere töten und ihr Fleisch essen. Ist es deshalb, weil du Menschen höher stellst, als Tiere? Für einen Vampir ist alles Leben, - selbst die Früchte, die auf Bäumen oder Sträucher wachsen. Nicht, dass ich es verurteile, wenn Menschen Tiere, Obst und Gemüse essen. Sie brauchen Nahrung, um zu überleben. Nur was ich verurteile ist, wie sie mit ihrer Nahrung umgehen, bevor sie sie essen, - vor allem, wie sie mit den Tieren umgehen.
Es ist für mich kein Wunder, warum die Menschheit jetzt ihrem Ende entgegensieht, warum sich ihre Nahrung zurückzieht und immer weniger wird. Das alles haben sich die Menschen selbst zuzuschreiben, weil sie zu sorglos und zu respektlos mit ihrer Umgebung umgegangen sind.
Auch wenn es dich erschreckt, aber für mich besteht kein Unterschied, ob ich ein Tier, das lebenslang in einem engen Käfig gesteckt wurde, esse, oder einem Menschen, der ein halbwegs erfülltes Leben hatte, das Blut aussauge. Ich würde sogar sagen, dass der Mensch es viel besser hatte, da er artgerecht leben konnte, während das Tier sein Leben lang litt und obendrein gar nicht wusste, warum es leidet.“
Ich musste ihm, ob ich wollte oder nicht, recht geben. Immerhin habe ich in den letzten Monaten selbst gesehen, wozu Menschen fähig sind. Wenn es eng wird, ermorden sie sogar ihre Mütter.
„Sind die Menschen von Natur aus böse?“ fragte ich.
„Sie sind faul und dumm“, sagte Aleksander. „Sie sind zu faul, die Chance zur Veränderung zu ergreifen und sie sind zu dumm, um die Chance zur Veränderung überhaupt zu sehen. Und das, weil sie viel zu viel mit sich selbst beschäftigt sind.“
„Vielleicht gehört auch das zu dieser Richtung, - zu diesem Weg, den sie vor Millionen Jahren eingeschlafen haben“, wandte ich ein.
„Natürlich! Aber dann dürfen sie sich nicht beklagen und sollten mit stolz erhobenem Kopf in ihren endgültigen Tod gehen, anstatt sich selbst auszurotten, um vielleicht noch ein paar Tage von ihrem jämmerlichen Leben zu gewinnen.“
„Gibt es wirklich keine Rettung, Aleksander?“ fragte ich weinerlich.
„Wir sind die Rettung, - wir, die Vampire!“

In diesem Moment torkelte das kleine Mädchen aus der Höhle. Ich sprang sofort auf und nahm sie in meine Arme.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte ich. „Du musst keine Angst haben.“
Sie löste sich von mir und sah mich erstaunt an.
„Ich habe keine Angst“, sagte sie mit fester Stimme.
Aleksander streckte seine Hand nach ihr aus. Lächelnd fasste sie zu und schmiegte sich an ihn.
„Weißt du, was mit dir passiert ist?“ fragte er sie.
Das Mädchen schüttelte seinen Kopf.
„Ich bin ein Vampir und habe dir ein bisschen Blut ausgesaugt“, outete sich Aleksander. „Wenn ich dich noch zwei Mal beiße, wirst du selbst ein Vampir. Willst du das?“
Das Mädchen nickte.
„Wie heißt du?“ fragte Aleksander.
„Angelina.“
„Ein schöner Name“, sagte Aleksander. „Dieser junge Mann dort heißt Kyle. Er ist mein Freund, aber er ist kein Vampir. Und mein Name ist Aleksander. Ich bin schon sehr lange auf dieser Welt und kann dir gar nicht sagen, wie alt ich schon bin.“
Angelina lachte und schmiegte sich noch enger an ihn.
„Darf ich bei dir bleiben?“ fragte sie und sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen bittend an.
„Natürlich darfst du bei mir bleiben. Ich werde für dich sorgen, solange es mir möglich ist.“

In ein paar Tagen war Angelina ein Vampir. Aleksander und ich mochten die Kleine sehr. Sie kam mir anders vor, als die Kinder, die ich früher kannte. Sie wirkte viel reifer, - schon, bevor sie zum Vampir wurde. Und was mich wunderte, sie vermisste ihre Mutter kein bisschen. Fast schien mir, als wäre sie froh, sie verloren zu haben.

Aber dann kam die Zeit, wo beide unter dem Blutdurst litten. Zu zweit streiften sie durch die Umgebung, um Opfer zu suchen. Ab und zu hatten sie „Glück“, - aber manchmal kamen sie müde und mit Krämpfen am ganzen Körper zurück zur Höhle, wo ich auf sie wartete.
Ich schlug vor, dass wir weiter ziehen sollten, aber Aleksander meinte, es würde auch andernorts kaum mehr Menschen geben.

„Hast du wirklich keine Wahl?“ fragte ich ihn, als wir des Nachts nebeneinander in der Höhle lagen.
Angelina schlief währenddessen.
„Manche von uns sind bereits vorausgegangen, aber ich möchte noch eine bisschen warten“, sagte Aleksander.
„Vorausgegangen? Wohin?“
„In eine andere Dimension.“
„Ich dachte, das dürft ihr nicht, - oder ihr wollt es nicht.“
Aleksander lächelte. Ich sah es nicht, da es in der Höhle stockfinster war, aber wie durch ein Wunder fühlte ich sein Lächeln.
„Du glaubst noch immer, dass Vampire schreckliche Geschöpfe sind. Nicht wahr?“
 
„Nein! Sie sind auf keinen Fall schrecklicher als die Menschen.“
„Das sind sie auch nicht, Kyle. Jeder Mensch, der die Kraft hat, selbst zum Vampir zu werden, hat ansatzweise ein gutes Herz. Ansatzweise deshalb, weil es ja nicht alle schaffen, für immer ein Vampir zu bleiben, wie es – zum Beispiel – bei Verena war. Aber jene, die für immer Vampire bleiben, sind auf dem Weg mit Herz.“
Aleksander schwieg eine Weile, dass ich dachte, er wäre eingeschlafen.
„Hast du dir schon einmal über die Religionen der Menschen Gedanken gemacht?“ fragte er plötzlich.
„Ich halte nicht so viel von Religionen, Aleksander, deshalb habe ich nicht allzu viel darüber nachgedacht.“
„Als die Menschen das erste Mal einen Götterglauben entwickelten, geschah das aus Furcht“, sprach er weiter. „Sie erkannten die Gewalt der Natur, - den Blitz, den Donner, das Unwetter. Sie hatten Angst davor und interpretierten diese Naturerscheinungen als Strafe der Götter. Ist es nicht schrecklich, dass Religionen aus Angst entstanden sind?“
„Wenn es so war, dann ist es sicher schrecklich“, sagte ich. Mir fielen meine Gedanken wieder ein, die ich mir über den gefallenen Engel machte.
„In der Religion, mit der ich aufgewachsen bin, gibt es einen gefallenen Engel. Er soll der schönste und klügste Engel Gottes gewesen sein. Aber er wollte größer und mächtiger sein als Gott, weshalb er von Gott verstoßen wurde.“
„Ich kenne die Geschichte, Kyle. Da geht es auch um die Vertreibung aus dem Paradies. Der gefallene Engel stiftete die zwei ersten Menschen dazu an, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Es war der einzige Baum im Paradies, von dem Gott den zwei ersten Menschen sagte, er sei tabu. Eigentlich war dies das erste Gebot Gottes, indem er sagte: ‚Ihr dürft nicht!’ Meines Erachtens zeugt es von einer gewaltigen Schwäche Gotte, wenn er Gebote aufstellen muss.“
„Aber er überlässt den Menschen auch einen freien Willen. Sie müssen die Gebote nicht einhalten“, sagte ich.
„Ich sag dir einmal etwas, Kyle. Eine Religion, die aus Angst entstanden ist, kann nur einen Gott hervorbringen, der ebenso aus Angst besteht. Glaube mir, ich habe mich sehr gründlich mit Religionen beschäftigt, und so seltsam es klingen mag, für mich sind jene Religionen, in denen ein Gott Gebote aufstellt, Teufelszeug, während der Teufel der wahre Gott und Befreier ist.
Für die Schlange im Paradies gab es keine Gebote. Ganz im Gegenteil, sie war es, die die beiden ersten Menschen befreite, indem sie ihnen das Tor aus dem Paradies, in dem ein machtgieriger und rachsüchtiger Gott herrschte, öffnete.
Du magst es nicht glauben, aber sieh dir an, wie weit die Menschen mit ihren Religionen gekommen sind. Auch wenn es sehr oft nicht so ausgesehen hat, haben sie alle durchaus ihrem Gott gedient. Sie sind genauso macht- und habgierig geworden wie er selbst. Und die Schlange, der Luzifer genannt wird, war in ihren Augen stets der Böse, der Dunkle, auch wenn sein Name Lichtbringer bedeutet.
Es macht keinen Unterschied, ob das Gute zum Bösen wird, und das Böse zum Guten. Aber im Fall der Menschheit war dies im wahrsten Sinne des Wortes ein tiefer Fall, indem sie ihrem Gott Glauben schenkten.“
„Aber Jesus sprach vom Gott der Liebe“, wandte ich ein.
„Jesus machte meiner Meinung nach einen großen Fehler, als er Satan die Stirn bot. Was wäre den Menschen alles möglich gewesen, wenn Jesus dem Satan gefolgt wäre? Sie hätten Nahrung und Reichtum für immer. Das Brot würde niemals ausgehen, und kein Mensch würde jemals an irgendetwas leiden. Jesus jedoch entschied sich für das Leid. Er ließ sich sogar freiwillig töten. Jesus wählte den Tod.“
„Und er besiegte den Tod, indem er nach drei Tagen wieder auferstand.“
Aleksander lachte leise auf.
„Gott hat Macht, mein lieber Kyle. Er täuscht die Menschen genauso, wie sie sich gegenseitig täuschen.“
„Willst du damit sagen, dass Jesus gar nicht auferstanden ist, sondern dies nur ein Trick Gottes war?“
„Gott ließ Jesus vor seinen Jüngern erscheinen. Es war ein Trugbild, aber ein sehr perfektes, das die Jünger sogar anfassen konnten.“
„Woher weißt du das alles?“ fragte ich erstaunt.
„Mein lieber Kyle, - es gab schon damals, zu Jesu Zeiten, Vampire. Und jene Vampire haben das alles durchschaut.“
Mein Herz klopfte plötzlich ziemlich wild. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht länger in der Höhle liegen bleiben konnte.
Aleksander folgte mir. Draußen setzten wir uns auf einen Felsen und blickten zum Vollmond hoch.
„Das bringt dich ganz schön durcheinander, nicht wahr?“ fragte er mich lachend.
„Es stellt alles auf den Kopf“, sagte ich und atmete tief durch.
„Früher sprachen die Menschen davon, dass die Bibel falsch übersetzt und mehrmals überschrieben wurde“, sprach ich weiter. „Und auch, dass die Kirchenmänner einige Schriften zurückhalten, wodurch die Wahrheit zum Vorschein kommen hätte können.“
„Die Bibel wurde nicht ganz falsch übersetzt. Der Sinn ist schon der geblieben, der er ursprünglich war. Und ja, einige Schriften wurden zurückgehalten, - und zwar die Schriften der Vampire, die diese Zeit miterlebten.“
„Was?“ fuhr ich auf.
„Du hast schon richtig gehört. Einige Vampire mischten sich unter diese Schriftführer, aber sie waren schon damals unerwünscht, eben weil sie Gott und seine Propheten durchschauten.“
„Also existiert Gott wirklich“, sagte ich mehr zu mir selbst.
„Natürlich existiert er! Aber er ist nicht das gnädige liebevolle Wesen, und auch nicht jener, der alles erschaffen hat. Er ist nichts anderes als ein machthungriges und rachsüchtiges Lebewesen, - das zugegeben doch sehr viel Macht hat. Aber warum hat es Macht? Weil ihm diese Macht ganz besonders von den Menschen zugestanden wird. Gott ist auch ein Vampir, Kyle. Er ist ein Vampir, der sich von Seelen ernährt.“
„Aber wer hat dann alles erschaffen, wenn nicht ein Gott?“
„Ach, Kyle. Ich weiß nur, dass es kein Lebewesen war, sondern etwas vollkommen Unpersönliches, das sich einen Dreck darum schert, was aus dem Erschaffenen wird.“
„Etwas vollkommen Unpersönliches?“ fragte ich nach und erschauderte.
„Natürlich! Oder meinst du, Menschen sind so wichtig, oder wichtiger als alles andere, das existiert, um einen eigenen Schöpfer zu haben? Die Gräser, Sträucher und Bäume beten nicht. Auch Tiere beten nicht. Und doch haben sie ein freieres Leben als die Menschen. Ja, Kyle, - auch wenn die Menschen sich die Erde untertan machten, war die Erde und ihre Lebewesen freier als die Menschen selbst, denn die Menschen haben einen Gott über sich gestellt, der sie gefangen hielt. Sie haben der Schlange im Paradies nicht wirklich geglaubt, als diese ihnen sagte, sie gibt ihnen Freiheit.“
„Gibt es das Paradies wirklich?“ fragte ich.
„Es ist eines der unzähligen Erddimensionen. Aber es ist eine sehr traurige und auch sehr schreckliche Dimension. Würdest du sie wahrnehmen können, würdest du sie für die Hölle halten. Gott kann sich dort nicht mehr verstecken. Vor all den Seelen, von denen er sich ernährt hat, muss er sein wahres Gesicht zeigen. Er hat auch einen Handlanger. Menschen nennen ihn den Tod.“
Ich sprang vom Felsen auf und starrte Aleksander erschrocken an.
„Du siehst doch, dass Vampire unsterblich sind. Warum wir und nicht auch die Menschen?“ sagte Aleksander mit sanfter, tiefer Stimme. „Ich kann dir sagen warum. Weil sich die Menschen ihrem Gott ergeben. Weil sie ihm glauben, wenn er sagt, dass der Tod sie befreien wird. Schon Jesus belog die Menschen als er ihnen sagte: ‚Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.’ Da war nichts zu gewinnen, als nur das elende Dasein im Herzen eines macht- und habgierigen Wesens. Gott verschlang sie alle, um von ihnen zu leben.“
„Verena ging mit dem Tod“, sagte ich leise und kniete mich vor Aleksander hin. „Du hättest ihr die Wahrheit sagen müssen, wenn du sie geliebt hättest.“
„Ich habe sie geliebt, Kyle. Ich liebe sie sogar noch immer und es tut mir auch noch immer weh, zu wissen, wohin sie wirklich gegangen ist. Aber ich hatte keine Wahl, - genauso wie auch sie keine Wahl hatte. Kein Mensch, kein Lebewesen kann sich durch Worte ändern, wenn die Veränderung nicht im eigenen Herzen passiert. Ich hätte alles, - auch meine Unsterblichkeit – dafür gegeben, um Verena zu retten. Aber das war nicht möglich.“
Ich verstand. Seufzend setzte ich mich wieder auf den Felsen.
„Und ihre Parallelleben?“ fragte ich. „Hat sie es in ihren Parallelleben geschafft.“
Ich spürte, wie Aleksander verneinend seinen Kopf schüttelte.
„Kannst du mir sagen, wie der erste Vampir entstand?“ fragte ich nach einer Weile.
„Es war die Schlange, mit Namen Luzifer. Er war der erste Vampir, der die wahren Herzen erkannte und auserwählte.“
Ich konnte nicht glauben, was Aleksander mir erzählte. Das heißt, ich glaube es, - aber mein Weltbild widerstrebte diesem Glauben.
„Ich weiß sehr gut, was in dir vorgeht, lieber Kyle. Auch ich hatte lange an dieser Wahrheit zu beißen, und doch war es nicht so schlimm für mich, da ich schon als Mensch an diesem Gott gezweifelt habe.“
„Ist das der Grund, warum du mich nicht beißt?“ fragte ich.
„Weil du im Tiefsten deines Herzens ja doch an Gott glaubst?“ stellte er die Gegenfrage.
 
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Ich nickte.
„Ja, vielleicht ist es das. Ich weiß, dass sich Glaube nicht erzwingen lässt, - und genauso wenig lässt er sich auslöschen. Manche nennen das Schicksal“, sagte Aleksander und blickte mich traurig an.
„Aber wenn du mich überzeugst, könnte ich diesem Gott abschwören!“
„Überzeugen? Ach, Kyle, ein wahres Herz braucht keine Überzeugungen. Es ist ganz einfach gut, und das ohne Überzeugung und ohne Beweise.“

Ich war überrascht und gleichzeitig schockiert, wie Aleksander mich überführt hatte. Obwohl ich mich nie für einen gläubigen Menschen bezeichnet hätte, war ich doch gläubig. Durch Aleksanders Worte wurde mir mein eigenes Spiegelbild vor die Nase gehalten. Auch wenn ich nur ein Opfer dieser „Programmierung“ war und im Grunde genommen gar keine Wahl hatte, etwas anderes zu glauben, gab es für mich keinen Ausweg. Jetzt wusste ich, warum mich Verenas Schrift so gefangen genommen hatte und warum ich mich stets mit ihr verglich. Wir waren uns ähnlich, obwohl ich dem Luxus nicht so sehr zugetan war wie sie, aber es war unsere Oberflächlichkeit und unsere Leichtgläubigkeit, die uns wie Bruder und Schwester verband. Weder sie, noch ich haben jemals ernsthaft über all das nachgedacht. Wir haben es für bare Münze genommen, weil wir zu faul und zu dumm waren.

Ich dachte wieder an den Aufstieg, der im Grunde genommen ein Abstieg war und mich geradewegs ins riesige Maul eines seelenfressenden Gottes führte. Ich wusste – und das mit absoluter Sicherheit, dass mir, wenn ich sterbe, nichts bleiben wird, - nicht einmal die Erinnerungen, denn das, was ich mein Bewusstsein nenne, wird von Gott gefressen. Von mir selbst wird nur mehr eine leere Hülle zurückbleiben, die nach und nach verfaulen wird.

Wie sagte Aleksander? „Aber dann dürfen sie sich nicht beklagen und sollten mit stolz erhobenem Kopf in ihren endgültigen Tod gehen, anstatt sich selbst auszurotten, um vielleicht noch ein paar Tage von ihrem jämmerlichen Leben zu gewinnen.“ Vielleicht werden ich mit stolz erhobenem Kopf in den Tod gehen, - mich von einem Gott, wo ich annahm, nicht an ihn zu glauben, ohne zu klagen, fressen lassen. Aber noch ängstigte mich dieser Gedanke, was wohl auch ein Zeichen meiner Gottgläubigkeit war, denn ein Gott, der aus Angst entstanden – der durch Angst erkannt wurde – kann nur selbst aus Angst bestehen.

Wenn es auch reiner Egoismus ist, aber es ist mir doch ein Trost, dass ich in Aleksanders Unsterblichkeit weiterleben werde, - in seinen Gedanken, denn er versprach mir, mich nicht zu vergessen, als er mit der kleinen Angelina in eine andere Dimension ging.
Es war eine Dimension mit Neubeginn, wie er mir verriet, - eine Dimension, für die sich alle Vampire entschlossen haben. Diese Dimension war das eigentliche Paradies, in dem kein Gott Macht hatte, - nicht einmal Luzifer oder andere Dämonen, vor denen die Menschen unbegründeterweise Angst hatten. Aber das war keine wirkliche Angst. Das war nur die Eifersucht des Gottes, - verkleidet als Angst.

Bevor ich meinem Leben ein Ende mache, indem ich mich in eine tiefe Schlucht stürze, erkannte ich, dass sich das Bild, das ich mir von Vampiren machte, zusehends verändert hatte. Sie sanken nicht tiefer als die Menschen, da es nichts, außer vielleicht den Gott der Menschen, gibt, was tiefer sinken könnte. Mag sein, dass die Menschen durch den Glauben an Gott zu Gefangene wurden und sie deshalb auch gar keine Wahl, geschweige denn einen freien Willen hatten, - aber doch hätten sie die Möglichkeit gehabt, nachzudenken, nachzuprüfen und nicht alles für bare Münze zu halten. So wie Aleksander wahrheitsgemäß sagte, sind die Menschen faul und dumm.
Ich zweifelte auch nicht daran, dass der Glaube alles bewirken kann. Vom Glauben hängt es ab, ob der Mensch frei oder gefangen ist. Glaubt der Mensch an etwas Höheres, so ist der Gefangene dieses Höheren. Glaubt der Mensch aber an sich selbst, ist er frei.
Er muss nicht zwangsläufig zum Vampir werden, denn auch Menschen nehmen andere Dimensionen wahr, - vor allem dann, wenn sie die Erinnerung an ihre Kindheit nicht völlig auslöschen. In jener Dimension, in die Aleksander und Angelina gegangen sind, leben auch Menschen. Und das Schöne daran ist, - die Vampire sind dort keine Gefahr für die Menschen. Dort sind alle gleich. Dort gibt es keinen Hunger, keinen Durst mehr. Dort herrscht für immer und ewig absolute Glückseligkeit. Es waren die Auserwählten, die den Weg dorthin gefunden haben. Aber nicht die Auserwählten von irgendeinem Gott oder höherem Wesen. Sie selbst waren es, die diese Wahl getroffen haben!
Ich gräme mich deswegen nicht mehr, obwohl es anfangs erschütternd für mich war. Ich sehe es sogar als Triumph der Menschheit an, zu der ich ja zum Teil gehöre. Und insgeheim, so als letzter Wunsch, formt sich in mir der Gedanke, Gott möge an meiner Seele ersticken.

Ende
 
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