21. Mai 2010 um 15:21 Uhr
Rezension: Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die schwarz-gelbe Bundesregierung war für die Mittelschicht ein absehbar schlechtes Geschäft und trotzdem hat diese Schicht, die noch immer die weitaus meisten Wahlberechtigten stellt, die Koalition der Mitte an die Macht gewählt. Wie ist das zu erklären?
Ulrike Herrmann macht in ihrem Buch Hurra wir dürfen zahlen einen interessanten Versuch diesen Selbstbetrug der Mittelschicht zu erklären. Wolfgang Lieb
Begütert ist die Mittelschicht nicht: Zu ihr zählt, wer zwischen 1000 und 2200 Euro netto im Monat als Single bzw. 2100 bis 4600 Euro als Ehepaar mit zwei Kindern monatlich verdient. Die Mittelschicht unterstützt in ihrer Mehrheit eine Politik, die vor allem der Oberschicht dient,
* weil es die Reichen verstehen, ihre Macht und ihren Reichtum zu verschleiern,
* weil der Glaube an den Aufstieg in der Mittelschicht ungebrochen ist,
* weil sie ihren Status überschätzt und
* ihre Aufmerksamkeit darauf lenkt, sich von der Unterschicht abzugrenzen.
Diesen Selbstbetrug der Mittelschicht beschreibt Herrmann in ihrem spannend geschriebenen und dennoch faktenreichen Buch.
Die Mehrheit der Deutschen sorgt sich um die Zukunft und hält sich für Reformverlierer und dennoch gibt diese Mehrheit an, dass sie zu den Gewinnern der gesellschaftlichen Entwicklung gehöre. Die Deutschen scheinen zur Selbsttäuschung zu neigen. Es ist fast egal, wie viel er verdient, fast jeder fühlt sich fast reich (20), nur 9 Prozent in Westdeutschland ordnen sich der Oberschicht zu und zur Unterschicht wollen nur 3 Prozent gehören, obwohl die ökonomische Realität völlig anders aussieht.
Einer der Gründe ist, dass man über die Vermögenseliten kaum etwas weiß. Dass dem reichsten Prozent 23 Prozent des gesamten Vermögens gehören, den obersten 5 Prozent über 46 Prozent und das reichste Zehntel 61,1 Prozent kontrolliert und die unteren 70 Prozent nicht einmal 9 Prozent des Gesamtvermögens besitzen, wird in Statistiken verschleiert und durch das Klischee einer sozialen Marktwirtschaft verkleistert. Oder man will es schlicht nicht wahr haben, schreibt Ulrike Herrmann.
Zwar wisse die übergroße Mehrheit durchaus, dass die soziale Herkunft entscheidend sei, um zu Reichtum zu gelangen, doch über zwei Drittel glaubten an die Leistungsgesellschaft. Obwohl die meisten klar erkennen, dass die Startchancen keineswegs gleich verteilt sind, wird Reichtum umstandslos akzeptiert. (48) Es sei geradezu paradox, dass die Arbeitnehmer immer qualifizierter seien und real trotzdem weniger verdienten, während die Firmengewinne explodierten.
Die Eliten mühten sich nach Kräften, den Aufstiegsoptimismus und damit den Selbstbetrug der Mittelschicht zu fördern schon fast zur Elite zu gehören. (52)
An Beispielen, wie etwa der Partnerwahl (65) oder der Begabtenförderung (66ff.) ja sogar der Wahl der Vornamen für die Kinder (101ff.) belegt Ulrike Herrmann, dass sich die Schichten immer stärker voneinander separieren und sich die Elite immer mehr abschottet (65).
Unter dem Stichwort Schickedanz-Syndrom beschreibt die Autorin das seltsame Phänomen, dass zwar objektiv der Reichtum zunehme, sich subjektiv aber immer mehr Reiche um ihre Zukunft sorgten. Weil ihnen ihr eigener Reichtum prekär erscheint, rechnen sie sich prompt zum Prekariat (75). Die Reichen würden arm gerechnet, während die Armen zu den Reichen ernannt würden, die als Schmarotzer lebten und die Leistungsträger aussaugten.
Typisch dafür, wie sich die Reichen arm rechneten, sei der Verweis auf die Einkommensteuerstatistik, wonach etwa die obersten 20 Prozent der Steuerbürger über 70 Prozent des Gesamtaufkommens stemmten. Dabei würde allerdings verschwiegen, dass die Reichen keineswegs übermäßig belastet würden, denn selbst Spitzenverdiener zahlten im Durchschnitt nur 23,8% an Steuern auf ihr Einkommen. Selbst Multimillionäre wüssten sich arm zu rechnen. Der Verweis auf die Einkommensteuer sei aber auch schon deshalb eine Irreführung, weil diese Steuerart schon fast zur Bagatellsteuer verkommen sei (77) und sich der Staat immer stärker durch die indirekten Steuern finanziere, die alle gleich betreffen.
Für 2010 sei etwa die Körperschaftssteuer mit 7,2 Milliarden Euro niedriger eingeplant als die Versicherungsteuer mit 10,45 Milliarden Euro.
Bei den Sozialabgaben würden die Reichen sogar prozentual weniger belastet als die Mittelschicht ein recht seltener Fall auf der Welt (78).
Herrmann geht in weiteren Kapiteln dem Phänomen nach, warum sich die Mittelschicht so willig täuschen lasse. Als einen Grund nennt sie, dass die Nachkriegszeit und das Wirtschafswunder mental fortwirkten, die zu einem beispiellosen (relativen) Wohlstand in allen Schichten führten.
Im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wuchs das Volkseinkommen zwischen 1950 und 1989 13-mal so stark.
Aus Arbeiter wurden Angestellte und selbst Arbeiter bekamen keine Lohntüte mehr. 1978 sei es 63 % der Arbeiterkinder gelungen, die Schicht ihrer Eltern zu verlassen (84). Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft (Helmut Schelsky) habe die Selbstdeutung der Deutschen nachhaltig beeinflusst. Hierarchien oder der Klassenbegriff waren im Sprachgebrauch verschwunden und Schichten wurden von Milieus abgelöst. Teilhabe am Konsum sei maßgebend geworden. Dabei seien es nur verschiedene Arten gewesen, mit der eigenen Armut umzugehen Armut sei Armut geblieben (86). Obwohl die sozialen Hierarchien in letzter Zeit wieder bewusster wahrgenommen würden, ordneten sich noch immer fast alle Bundesbürger der Mittelschicht zu.
Seit zwei Jahrzehnten sinkende Reallöhne, ja sogar 30 Jahre Massenarbeitslosigkeit hätten keinen Lernprozess ausgelöst, denn inzwischen sei jeder drinnen, der als Arbeitsloser nicht draußen sei (88). Mit der Exklusion der Unterschicht gerate bei den Inkludierten aus dem Blick dass keineswegs alle gleich seien und der Mitte angehörten. Während sich die Gesellschaft faktisch spaltet, wird sie in der Wahrnehmung eingeebnet (89). Ausgerechnet die Massenarbeitslosigkeit verleite die Beschäftigten der Mittelschicht dazu, sich mit der Elite zu identifizieren.
Wenn Wut hochkomme, dann richte sie sich allein auf Manager und Politiker, aber nicht auf Millionäre oder Milliardäre. Aber selbst die obszöne Selbstbedienung in den Chef-Etagen führten bestenfalls zu moralischer Empörung und kränkten die Selbstwahrnehmung der Mittelschicht, statt dass der schlichte Hebel angesetzt würde, den Spitzensteuersatz für Millionäre anzuheben (94). Und aus Sicht der Aktionäre seien eben selbst die teuersten Manager noch billig, fielen sie doch nur als Bruchteile der Personalkosten ins Gewicht.
Der Zusammenhang, dass Manager die Firmenprofite und damit ihre Einkommen dadurch steigerten, weil die Reallöhne der meisten Beschäftigten sanken, interessiere weder die Aktionäre und überraschenderweise noch nicht einmal die Betroffenen selbst.
Die Empörung über die Managergehälter werde gleichzeitig umgelenkt in eine Idealisierung und Romantisierung der mittelständischen Unternehmer, so dass in der Vorstellung vieler Deutscher inzwischen der Klassenkampf zwischen dem guten mittelständischen Unternehmer gegen die bösen Konzerne und ihre Manager stattfinde (98).
Ein weiteres Element des Selbstbetrugs sei die Bildung oder wenigstens die Hoffnung, dass zumindest die Kinder aus der Mittelschicht aufsteigen könnten. Schon im Kleinkindlebenslauf fände inzwischen eine Art Wettrüsten statt. Der eigentliche Stress beginne aber mit der Schule bzw. der Schulauswahl.
Der Massenandrang auf die Gymnasien entwerte das Abitur, das kein Erkennungszeichen der Eliten mehr sei, daraus erkläre sich der Drang vor allem besser Verdienender, ihre Kinder auf Privatschulen zu schicken. Schon 54 Prozent der Eltern würden ihre Kinder am liebsten auf eine Privatschule schicken, wenn sie es sich leisten könnten (112). Die Mittelschicht könne aber gewiss nicht gewinnen, wenn die Bildung zu einem Markt werde (114). Die Mittelschicht-Eltern bemerkten gar nicht, dass sie sich auf einen Konkurrenzkampf einließen, den sie nie gewinnen könnten. Statt aber darauf zu drängen, dass die staatlichen Schulen besser ausgestattet werden, fordere die Mittelschicht Steuersenkungen, wovon vor allem die Eliten profitierten, und entzögen damit dem Staat noch die letzten Mittel für eine Bildung, die für mehr Chancengleichheit nötig wären. Die Mittelschicht leidet unter ihren Widersprüchen: Sie glaubt zwar immer noch an den eigenen Aufstieg, indem sie kräftig in die Bildung ihrer Kinder investiert doch auch die Angst vor dem Abstieg ist allgegenwärtig. (117)
Zwar habe es in der deutschen Mittelschicht schon immer Abstiegsängste gegeben. Der Krisendiskurs sei stets ein Medium bürgerlicher Selbstverständigung gewesen, neu sei jedoch, dass die Sorgen durchaus berechtigt seien. Gehörten 2000 noch 49 Millionen Menschen der Mittelschicht an, so waren es 2006 nur noch 44 Millionen. Gleichzeitig fand sich rund ein Viertel aller Bundesbürger in der Unterschicht wieder (121). Aber in der Selbstwahrnehmung der Mittelschicht seien immer die anderen abgestiegen.
Ulrike Herrmann geht dem Phänomen dieses Abstiegs nach, den sie als deutschen Sonderweg bezeichnet (123), denn ökonomisch seien etwa die fallenden Reallöhne nicht zu erklären (125). Ihr scheint das eine Frage der Mentalität zu sein. So sei es auffällig, wie stark sich die Deutschen immer wieder von dem Arbeitgeber-Argument beeindrucken ließen, die Löhne dürften kaum steigen, weil sonst die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährdet sei. Nie käme die Frage auf, warum andere Länder nicht verarmten, die keine Exportweltmeister seien und dennoch höhere Lohnzuwächse verzeichneten. Den deutschen Arbeitnehmern scheint es auszureichen, dass sie zumindest einen vermeintlichen Statusgewinn verbuchen können: Sie haben die Beschäftigten im Ausland geschlagen (125).
Die deutsche Mittelschicht nimmt ihren eigenen Verlust nicht wahr, weil sie sich nach unten abgrenzen kann (126), die Zuversicht, niemals zum Prekariat zu gehören, verleite die Mittelschicht, sich mental mit den Unternehmern zu verbünden. Es werde krampfhaft an dem Mythos festgehalten, dass eigentlich Vollbeschäftigung herrsche.
Die Verachtung für die Unterschicht wachse sogar, je stärker der eigene ökonomische Status bedroht werde. Die Gesamtstimmung in Deutschland sei: Wer arm ist, muss sich den Verdacht gefallen lassen, eventuell ein Betrüger zu sein (130). Dieser uralte und nicht nur in Deutschland verbreitete Generalverdacht sei mit der Agenda 2010 offizielle Regierungspolitik geworden, wie Ulrike Herrmann mit zahlreichen Belegen untermauert.
Die Wirkung blieb nicht aus: Nach einer Erhebung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer im Jahre 2009 meinten 47 Prozent der Bevölkerung, dass Langzeitarbeitslose arbeitsscheu seien und sogar 57,2 Prozent nahmen an, dass sich Hartz-IV-Empfänger auf Kosten der Gesellschaft ein schönes Leben machen (135).
Ergänzt werde diese Stigmatisierung durch die Kriminalisierung, nämlich dass Arbeitslose massenhaft der Schwarzarbeit nachgingen. Illegal ist unsozial, so propagierte die Bundesregierung in Anzeigen ihre Ich-AG und baute eine groteske Überwachungsbürokratie, namens Finanzkontrolle Schwarzarbeit, aus mit 6500 Fahndern und Kosten von mehr als 400 Millionen Euro jährlich. Ganze 10 Millionen Euro seien in die staatlichen Kassen zurückgeflossen (138).
Tatsächlich sei die Schwarzarbeit das klassische Delikt der Mittelschicht, sozusagen als schichtinterne Kreislaufwirtschaft (143). Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, liege der Anteil der Arbeitslosen bei etwas über 14 Prozent, den Löwenanteil der Schwarzarbeiter stellen Schüler und Studierende, Hausfrauen, Rentner oder Teilzeitbeschäftigte.
Gemessen an der Fahndung nach Schwarzarbeit, sei die Steuerfahndung geradezu lax. Selbst Millionäre müssten kaum befürchten, dass ihre Angaben durchleuchtet würden. Die große Empörung über die Steueroase Deutschland bliebe jedoch aus. Betrug von Reichen werde toleriert und bei Armen erbittert bekämpft.
Dem von manchen Experten (Sarraz, Nolte, Buschkowsky) und vom Boulevard erzeugten Zerrbild über die Unterschicht, von dem sich die Mittelschicht abhebe, werde durch Doku-Soaps des Unterschichtenfernsehens täglich verbreitet. Die reine Fiktion, die dort zur Realität erklärt werde, könne nur in einer Gesellschaft funktionieren, in der sich die Vorurteile derart verhärtet haben, dass sie umstandslos für die Wirklichkeit gehalten werden (151).
Unterlegt würden die Ressentiments gegenüber der den Armen durch einen latenten oder gar offenen Rassismus einer fortwährenden negativen genetischen Auslese. Die konsequente soziale Benachteiligung im Bildungssystem und die Verarmung durch die Hartz-Reform werde ignoriert. Und ausgerechnet Sozialdemokraten hätten es fertiggebracht, erst bei den Bedürftigen zu kürzen und diese dann als Schmarotzer darzustellen (153).