Jenseits der Zeiten

reinsch

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Jenseits der Zeiten





Der Tag, an dem...

Es war an einem schönen Sommertag im August als die Geschichte, die ich hier erzählen möchte, begann. Er war jemand, der sich an Prinzipien hielt. Prinzipien die schon seine Vorfahren durch ihre Leben geleitet hatten. Es gab für ihn keinen Grund an der Richtigkeit der alten Werte zu zweifeln. Waren unsere Vorfahren denn um so vieles dümmer, nur weil sie einige Generationen vor uns gelebt hatten? Oder hatte sich die Welt so radikal verändert und damit auch ihre Gesetzmäßigkeiten?

Die Welt in die er hineingeboren wurde hatte sich nur beschleunigt, nichts weiter. Alles wurde einer Mode unterworfen, in den Himmel gehoben, benutzt und schließlich wieder ausgespuckt, um sich neuem zuzuwenden. Doch langsam gingen den Machern die Ideen aus. Moden kamen und gingen, nur die Hochzeit verkürzte sich rapide und damit auch der Wert dessen man sich bedient hatte. Was konnte man auch erwarten, wenn man alles, nachdem man es benutzt hatte, verdammte. Unmodern wurde mit wertlos, überholt und nicht mehr zeitgerecht und damit falsch in Verbindung gebracht. Sie redeten sich ihre eigene Welt in den Abgrund. Und nicht nur die Welt, auch die Krone der Schöpfung konnte sich dem nicht entziehen. Gerade hatten Menschen den Zenit ihres Lebens erreicht, standen am Optimum ihrer Leistungsfähigkeit, hatten Wissen angehäuft und begonnen die Welt zu verstehen, schon drehte sich das Rad weiter. Alles bisher gelernte schien nutzlos zu sein. Lebenserfahrungen beuteten nichts, dem alten Eisen zugeordnet. Man könnte von modernem Sklaventum sprechen. Die Menschen unterwarfen sich dem Diktat des Kapitals.

Doch er hielt an seinen Prinzipien fest, nicht diese preußischen. Es waren andere Prinzipien die ihn stützten und Sicherheit gaben. Prinzipien wie Ehre, Aufrichtigkeit, Gewaltlosigkeit. Was er haßte war die Lüge. Denn durch Lüge verändert sich die Welt. Man spielt dem Teufel in die Hände; Vertrauen unter den Menschen löst sich auf wie Schnee in der Sonne. Das Zusammenleben wird zum Kampf. Ein Wettstreit bricht los, der im Chaos enden muß, weil die Lüge der Feind des Vertrauens ist.

In diesem Sommer hatten die Menschen sich schon so sehr an die Lüge gewöhnt, daß sie anfingen nicht nur einander zu belügen, sondern auch sich selbst. Der Grund muß darin gelegen haben, daß es eine Zeit der Überforderung war. Zwar hatten sie alles, um ihren Körper zu erhalten und auch für Zerstreuung war gesorgt. Aber es war eine Zerstreuung auf geringem Niveau.

Eine komplexe Welt hatten sie geschaffen, die anfing sich immer schneller zu drehen. Zeit zur Besinnung blieb nur wenig. Zu recht nannten sie es das Informationszeitalter. Nur die Information galt etwas, für Wissen blieb keine Zeit. Zeit, die keiner mehr hatte. Konnte etwas nicht innerhalb weniger Sekunden erreicht werden, wurde versucht es auszublenden.

Es gibt noch Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Auch wenn es heute kaum zu begreifen ist- es war alles bekannt. Sie nannten es wohl "Magnetische Aufzeichnung" und Digitalisierung. In ihren Nachrichten wurde den Völkern jeden Abend mitgeteilt, welche Ereignisse zur Kenntnis genommen werden mußten. Doch einen hohen Anteil bildeten Themen, die einzig und allein durch die eigene Hand der Menschen hervorgebracht wurden. Es war Unwissenheit, Ignoranz, Hass und Neid, was diese Dinge erzeugte. Nur eines wurde vergessen. Auch wenn das Interesse schnell nachließ und der Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf andere Geschehnisse gerichtet wurde und dabei nur Ausschnitte darstellte, so blieben die Probleme doch erhalten und verstärkten sich mitunter gegenseitig. Es war eben nicht die richtige Epoche für Probleme von gestern oder morgen. Die Vielschichtigkeit nahm immer weiter zu. Ein ganzheitliches Bild ließ sich unter diesen Umständen nicht mehr zeichnen.

Rituale, wie sie in vergangenen Tagen benutzt worden waren, bildeten kein Fundament mehr. Sie galten als überholt und wirkungslos. Was damit einherging, war ein Gefühl der Bodenlosigkeit. Woher, wohin, sie konnten es nicht bestimmen.

Die immer weiter fortschreitende Technisierung forderte ihre Opfer. Die Welt wuchs in so rasantem Tempo zusammen, daß von einem globalen Dorf gesprochen wurde. Wozu vor Zeiten noch achtzig Tage benötigt wurden, nämlich die Umrundung der Erde, benötigte man jetzt neunzig Minuten oder nur einen einzigen Klick.

Aber die Gesellschaften sind langsame Gebilde. Die Entwicklung läuft von Generation zu Generation ab. Veränderungen treten zögernd ein und lassen sich dann nur noch schwer wieder rückgängig machen. Einige Gesellschaften, die sich für besonders fortschrittlich ansahen, bestimmten den Rhythmus. Andere konnten nicht mehr ihren eigenen Vorstellungen entsprechend handeln und sich den neuen Gegebenheiten schnell genug anpassen.

In der Geschichte der Menschheit gab es schon einmal eine solche Situation. Es war die Erfindung des Krieges, wie er dann lange praktiziert werden sollte. Die Kulturrevolution begann mit der Domestizierung einiger Tierarten und dem ortsgebundenen Züchten von Pflanzen. Der Übergang vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter. Diese gesellschaftliche Entwicklung hatte entscheidende Vorteile für die Menschen. Man konnte Vorräte anlegen und sich so weitgehend unabhängig von klimatischen Schwankungen machen. Doch der Nachteil liegt genauso auf der Hand. Man ist ortsgebunden und sieht sich immer wieder dem Neid der Nachbarn ausgesetzt. Somit wurde es unumgänglich seine Scholle zu verteidigen, denn einfache Flucht, die zu Beginn der Menschwerdung als Jäger und Sammler noch möglich war, hätte einen Aufbruch in die Ungewißheit und ein Todesurteil für den Großteil der Gemeinschaft bedeutet.

Und genau an einer solchen Schwelle standen die Menschen erneut. Nur mit dem Unterschied, daß die Entwicklung mit rasender Geschwindigkeit ablief. Durch die Globalisierung, die sie immer abhängiger voneinander machte, waren sie gezwungen miteinander auszukommen, auch wenn ihnen das gegenseitige Verständnis und der nötige Respekt vor den unterschiedlichsten Kulturen ein hohes Maß an Weisheit abverlangen würde. Doch Weisheit hat zur Grundlage, daß man die Entwicklung und die Auswirkungen für sich durchdacht hat, und die nötigen Schlüsse gezogen worden sind. Und die Zeit lief davon.

Sie wurden zu Suchenden. Jeder auf seine Weise. Die Gesellschaften und Kulturen segmentierten sich. Eine ganzheitliche Vorgehensweise war unmöglich. Verschiedene Absichten standen sich diametral gegenüber. Wirtschaftsysteme, Gesellschaftssysteme, Kulturen, Religionen, Ressourcen. Nur eine sie alle verbindende Struktur war nicht zu erkennen. Doch sie lag im wahrsten Sinne des Wortes vor ihren Füßen.

In dem Jahrhundert vor diesem Jahrhundert erging es den Menschen nicht besser. Sie opferten ihre Physis, um ihrer Scholle Nahrung abzuringen, oder sie gingen in die großen Städte auf der Suche nach Arbeit und starben an den schlechten hygienischen und arbeitstechnischen Umständen früh. War das wirklich eine so große Weiterentwicklung, die durch die Technisierung erreicht wurde, wie sie immer wieder behauptet haben? Oder wurden die Probleme nur in eine fernere Zukunft verschoben? Lag die Lösung in der Entwicklung von Maschinen, die ihnen die Arbeit solange abnehmen sollten, bis keiner mehr Arbeit finden konnte. Oder lag sie doch mehr in der geistigen Vervollkommnung jedes Einzelnen? Oder war es am Ende eine Kombination aus beidem? Ein Umdenken lag in weiter Ferne, obwohl klar war, daß diese Vorgehensweise ein natürliches Ende finden mußte. Denn gerade die Maschinen und technischen Anlagen hatten einen entscheidenden Nachteil. Sie verlangten nach immer mehr. Mehr Stückzahlen, mehr Konsum, mehr Ressourcen, mehr Verschmutzung, um ihre hohen Kosten zu decken. Sie taten genau das Gegenteil von dem, was die Natur uns als Beispiel gibt. Das Denken in Kreisläufen. Aber das ganze System lief linear ab. Es war auf ein unendliches Wachstum ausgerichtet. Aus heutiger Sicht ist die Antwort einfach.

Eine Verhaltensweise des Menschen ist es in solchen Situationen die Realität auszublenden. Er lenkt sich mit seichter Unterhaltung ab und macht sich damit zum eigenen Sklaven der Umstände. Die Gesellschaft wurde kalt. Es gelang ihnen nicht einmal mehr die Alten und Kranken richtig zu versorgen. Wer an dieser Ellenbogengesellschaft nicht teilnehmen konnte, wurde im Kampf der Individuen ausgegrenzt.

Auch den Kindern erging es nicht anders. Ihnen wurde zwar eine gewisse Bildung zu teil, aber natürlich nur im Rahmen dieser modernen Gesellschaft. Wie sollte auch ein einzelner Pädagoge allen Anforderungen gerecht werden, zumal mit Werkzeugen, die aus den Anfängen der Industrialisierung stammten. Gewalt und Ausgrenzung waren an der Tagesordnung, und die Eltern kämpften den Kampf der Lüge. Alle streckten sich nach der Decke und das auf dem Rücken derjenigen, die schon lange am Boden lagen. Die materielle und emotionale Verwahrlosung, die schneller um sich griff als die meisten der Betroffenen auch nur ahnen konnten, steigerte die Aggressivität und das Besitzstandsstreben. Fronten, schon lange überwunden geglaubt, schienen erneut zum Schauplatz der Auseinandersetzungen zu werden.

Ähnlich wie im 18.Jhd. konnten die Menschen durch den Lohn ihrer Arbeit kein Auskommen mehr finden. Sie waren gezwungen, entweder alleine zu leben, oder aber die Kinder ihrem Schicksal zu überlassen. Eine Versorgung der Familie war nur noch möglich, wenn beide Elternteile einer Beschäftigung nachgingen. Materielles Denken, Angst vor dem sozialen Abstieg und oberflächliche Abgrenzung von anderen sozialen Schichten und Denkweisen verlangten eine Art des Konsums, der ohne Zweifel keine Substanz mehr hatte. Wie Hamster in ihren Laufrädern liefen sie Idealen nach, die sie nur immer schneller in den Abgrund zwangen. Die Frage nach dem richtigen Einsatz der noch vorhandenen Mittel, um die Situation zu verändern, scheiterte an den vorhandenen Mitteln.
ENDE TEIL 1




R. Reinsch 22/03/2006

http://beepworld.de/members97/wich_mann/

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