Schlafes Bruder
Vor 35 Jahren wurde ein junger Forscher in einem kargen Kellerraum eingeschlossen: Ohne Tageslicht, ohne Uhren, ohne feste Essenszeiten, ohne Informationen über die Außenwelt sollte er vier Wochen lang essen, wenn er Hunger hatte, schlafen, wenn er müde war, und arbeiten, wenn er sich wach fühlte.
Der junge Forscher hieß Jürgen Zulley, und die Isolationsexperimente im "Andechser Bunker" des Münchner Max-Planck-Instituts sollten für den studierten Elektroingenieur und Diplompsychologen eigentlich nur ein erster Job sein, Zulley nur einer von 200 Testschläfern. Doch als die Auswertung schließlich ergab, dass unsere innere Uhr eher einen 25-Stunden-Tag bräuchte, war er begeistert. Zulley machte es zu seiner Lebensaufgabe, all den Rätseln unseres Schlafes auf die Schliche zu kommen: Was macht unser Hirn, wenn wir schlummern? Wieso schaltet sich unser Bewusstsein ab? Wozu verschlafen wir überhaupt ein Drittel unseres Lebens?
Inzwischen ist Zulley, heute 62, Professor der Uni Regensburg und gilt als angesehenster Schlafforscher Deutschlands. Er belegte, dass unser Körper nicht nur nachts, sondern auch mittags ins Energietief fällt. Er fand heraus, dass die Probleme von vielen der zwölf Millionen deutschen Schlafgestörten nicht messbar sind, die Patienten sie nur als Problem empfanden. So dachten fast alle, sie seien bereits wach gewesen, wenn sie im Schlaflabor geweckt wurden. Und Zulley ermittelte, dass unser Hirn im Schlaf oft aktiver ist als am Tag.
Doch das Beste daran, ein amtlicher Schlafexperte zu sein, ist: Man schläft wissenschaftlich abgesichert. Niemand klagt etwa, wenn Zulley mittags einen "Power Nap" hält. Schließlich verbessert der 10-Minuten-Schlaf im Büro nachweislich die Hirnleistung. Langschläfern kann Zulley beruhigt den Versuch ausreden, ihre Kinder zu Frühaufstehern zu erziehen: Die Veranlagung zum Lerchen- oder Eulen-Typ wird vererbt. Zulley selbst schläft sechs Stunden pro Nacht und geht vor Mitternacht ins Bett, damit er genug Tiefschlaf bekommt. Diese für die Erholung wichtige Schlafphase endet nämlich um drei Uhr.
Am Montag nach der Uhrenumstellung auf Sommerzeit, die an diesem Sonntag wieder ansteht, fährt er lieber eine Stunde später ins Büro. "Statistiken zeigen, dass nach der Umstellung mehr Unfälle passieren. Viele fahren zur Arbeit, obwohl ihr Körper noch schläft."
Doch das Leben als Schlafforscher ist nicht immer einfach. Die Disziplin ist mit rund 70 Jahren noch jung - und hat eine Krux. Sobald sie ihrem Objekt zu nahe kommt, verflüchtigt es sich: Stört man Schlafende, wachen sie auf. Also tricksen Zulley und seine Kollegen: Den Sinn des Schlafes suchen sie etwa, indem sie testen, was ohne ihn passiert. Sie hielten Ratten ununterbrochen wach - bis sie nach vier Wochen ohne klaren Grund starben. Die Forscher schlossen, dass ohne Schlaf Stoffwechsel und Hirn schlapp machen. Studenten, die nach erstem Durchdenken von Aufgaben schliefen, lösten sie dann flinker als ohne Nickerchen. Also helfe Schlaf wohl bei der Organisation des Gehirns. Und auch Frühjahrsmüdigkeit scheint mehr zu sein als ein Stimmungstief - zumindest ist messbar, dass unser Körper im Winter in einen Energiesparmodus umstellt, der uns dann bei den ersten Sonnenstrahlen offenbar immer noch hemmt.
Frustriert diese indirekte Forschung mit den vagen Ergebnissen nicht? "Nein", sagt Zulley. "Ich finde es ja spannend, dass ich mich auch mit Unfallstatistiken und Historikern beschäftigen muss." So las er, dass die Menschen im Mittelalter zwei lange Schlafphasen am Tag hatten und nachts fürs Melken oder längere Plauschs aufstanden. "Erst das Industriezeitalter verlangte, dass wir komprimiert schlafen und tags durcharbeiten."
Zulley sieht die Tücken der Schlafforschung als Herausforderung. Selbst die Tatsache, dass ein US-Biologe nun alle erarbeiteten Theorien in Frage stellt, nimmt er gelassen: Jerry Siegel von der University of California hat dieser Tage ein Papier vorgelegt, in dem er bezweifelt, dass wir schlafen, um uns zu erholen oder Erlebtes zu verarbeiten. "Schlaf ist vielleicht gar keine biologische Notwendigkeit", meint Siegel. Er habe sich nur im Laufe der Evolution aus einer Art Stand-By-Modus entwickelt, in dem unsere Vorfahren dösten, um Energie zu sparen.
Für Zulley ist das Unsinn: "Der menschliche Körper ist im Schlaf hoch aktiv. Die Verdauung und die Regeneration des Immunsystems funktionieren zum Beispiel nur im Schlaf." Das verbrauche so viel Energie, dass wir pro Nacht im Vergleich zum Wachsein gerade mal die Energie sparen, die in einer Scheibe Toastbrot steckt. "Zum Energiesparen taugt der Schlaf also nicht", sagt Zulley. "Aber natürlich sind viele solcher Fragen nach wie vor offen." Die Forschung geht weiter.