Tiefgang

Serenade

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18. März 2007
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Tiefgang. Zu schwer beladen. Es wäre weniger belastend, wenn das Schiff nicht sinken würde. Die Bei- oder Rettungsboote zählen nicht mehr. Wurden längst abgelassen und sind als kleine Punkte am Horizont auszumachen. Es könnte sich aber auch um etwas anderes handeln. Zwei kleine Punkte.

Und die Ansage: Neues Jahr – neues Glück. Einfach verschlafen diesen Moment, diesen Übergang von einer Zahl zur anderen. Was soll es da zu feiern geben? Was gab es schon Großes im alten und was wird es schon Großes im neuen Jahr geben? Nichts als Alltäglichkeiten.

Die Schiffsreise unter vielen Leuten. Was stets zu vermeiden war. Viele Leute, viel Dummheit. Das lässt der Stolz nicht zu. Man ist doch was Besseres. Viel klüger und viel belesener.

Wieder ein Ruck. Bald wird das Schiff den Meeresgrund erreichen. Fünftausend, sechstausend, siebentausend Meter? Der Druck wird unerträglich werden. Lebensbedrohlich.
Es beginnt immer im Inneren. Wenn sich das Innen nach Außen stülpt gibt es keine Geheimnisse mehr. Man müsste sich nicht mehr belügen. Der Stolz und vieles andere würde sich auflösen und es gäbe keinen Tiefgang mehr. Das Schiff würde wie ein riesiger Delphin, mit hunderten von Gedanken, aus dem Meer springen und eiligst davon schwimmen. Ward nie wieder gesehen. Und glücklich. Vor allem glücklich, denn Delphine lächeln stets.

Und die Moral von der Geschichte: Man hätte im Meer bleiben sollen. Der Erdboden ist nichts für uns. Seine Anziehungskraft ist beängstigend, vor allem der Gedanke, was passiert, wenn diese Kraft eines Tages oder vielleicht eines Nachts versagt? Dann würde es uns auch im Meer nicht wirklich gut gehen. Alles würde ins All wandern. Langsam, ganz langsam würde sich die Erde reinwaschen, samt Wasser.

Sozusagen gibt es keine Moral. Hat es denn je eine gegeben? Es war die Dummheit, die sie übertroffen hat. Und nun verlässt auch der Kapitän das Schiff. Ahoi!

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Menschen sind dazu da, um die Erde und ihre Lebewesen zu beschützen. Meist wird die Erde und ihre Lebewesen ausgebeutet, um Profit und Macht zu befriedigen.
In diesem Moment hat das Schiff den Meeresgrund erreicht. Dumpf setzt es auf. Es geht ein Zittern durch den gesamten Körper. Dabei hat er sich so schick gemacht. Dreiteiler aus feiner Kaschmirwolle, Seidenkrawatte und schwarze Lackschuhe. Als er vor wenigen Stunden in den Spiegel sah, fiel ihm das Wort „Dandy“ ein.

Oh ja, er ist schön, wenn auch bereits mit etwas angegrauten Schläfen und Fältchen um Augen und Mund. Immerhin ist er in einem Alter, wo die Jungen bereits das Nest verlassen haben. Er aber ist mit Leib und Seele Single. Sein Leben gehört nur ihm. Von nichts und niemandem lässt er sich etwas drein reden. Künstler sind Egomanen. Er ist einer davon. Ein Schriftsteller. Ein Autor, der nur dann schreibt, wenn er sich dazu fähig fühlt. Berühmt ist er nicht. Dazu ist er zu, wie soll man das nennen, nun – eigensinnig - würde zutreffen.

Ja, er ist eigensinnig, denn wie gesagt, er schreibt nur, wenn es ihm passt. Aus diesem Grund hat er auch keinen Manager und ist bei keinem Verlag gemeldet oder wie immer man das ausdrückt. Ein Verlag wollte ihn einst engagieren, aber als er das Manuskript für das nächste Buch nicht präsentierte, warf man ihn raus.

Das Schiff ächzt und stöhnt. Ob es tatsächlich zu schwer beladen war, wird man nie erfahren. Vielleicht schaffen es einmal Taucher in einer Taucherglocke oder sonst in einem Transportmittel, das diesen enormen Unterwasserdruck standhalten kann, um nach dem gesunkenen Schiff zu suchen. Es ginge vorwiegend um die Toten, um sie zu bergen und damit den Hinterbliebenen Trost zu spenden.

Ist es denn wirklich leichter zu trauern, wenn man weiß, wo sich die Hülle eines geliebten Verblichenen befindet? Wenn man weiß, dass er oder sie in einem Sarg liegt und in die Erde hinab gelassen oder in das Feuer gefahren wird? Am tiefen Meeresgrund bestattet zu sein ist doch ein schöner Gedanke. Und für manche Fische wäre es ein Festmahl oder auch nicht, denn Menschenfleisch soll angeblich süßlich und gar nicht gut schmecken.

Durch die Luke bietet ihm, der noch immer aufrecht steht, in der geräumigen Schiffskabine ein wunderbarer Ausblick. Es dürfte hier, so tief unten, nichts zu sehen sein, aber das Gegenteil war der Fall. Als wäre jede einzelne Farbe extra beleuchtet, glitzert ihm eine Welt entgegen, die er unbedingt erforschen muss.

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Ausbeuten, Macht- und Profitgier sind typisch menschliche Eigenschaften. Der Mensch ist nun mal so. Und wenn er was beschützt, ist es erstens, sein eigenes Leben und wenn möglich und notwendig, seine Angehörigen, sozusagen seine Familie. Warum sollte ein Mensch fremde Menschen, fremde Tiere oder die Umwelt beschützen? Wer kommt auf so eine hirnrissige Idee?

Wer war das noch, mit dem er vor kurzem diese Debatte hatte? Ach ja, irgend so ein Grüner, ein Umweltaktivist oder so was. Er sah auch so aus. Langes strähniges Haar, Dreitagebart, Jeans und Sweater. Nicht mal, als der Kapitän zum ersten Abendessen einlud, kleidete er sich besser. Mit schwarzen Jeans und schwarzem Pulli hätte er sich nicht an einen Tisch mit dem Kapitän gesetzt. Ihn, den gut gekleideten Mann, in einem seiner besten Anzüge, bat er nicht an den Kapitänstisch, aber diesen Waldmenschen schon. Ja, Waldmensch! Genauso sah er aus. Und jetzt ist er genauso am Meeresgrund gelandet wie alle anderen. Angeblich hat er ein Buch über die Umwelt geschrieben und damit einige Preise eingeheimst. Es soll eine Warnung vor dem Weltuntergang sein, was er geschrieben hat.

Sicher gibt es auch Menschen, die für andere, vielleicht sogar für Fremde ihr eigenes Leben riskieren. Aber die muss man suchen wie eine Nadel im Heuhaufen. Das wären außerdem Ausnahmen. Im Grunde genommen ist der Mensch jedoch ein Egomane. Ist ja wohl logisch als Individuum.

Lange hielt er es neben dem Waldheini nicht aus. Er verabschiedete sich mit einer abwertenden Handbewegung und ging in seine Kabine. Satt gegessen war er und sich mit anderen Menschen zu unterhalten langweilte ihn immer schnell. Es gibt keine Intelligenz mehr unter den Menschen. Alle labern nur unsinniges Zeug. Noch immer verstand er selbst nicht, welcher Teufel ihn geritten haben mag, um eine Kreuzfahrt zu buchen und sie dann auch anzutreten. Schon öfter ließ er Tickets verfallen, weil er plötzlich keine Lust hatte, nach Burma oder in die Südsee zu reisen. Ein anderes Mal vielleicht. Heute nicht.

Er war reich. Ist er noch immer, nur dürfte er kaum mehr einen Zugang zu seinen Millionen haben. Spenden? Alle Spenden sind stets ein Tropfen auf dem heißen Stein. In Afrika verhungern Kinder auf den Straßen. Selber Schuld. Sollen halt weniger Kinder machen. Außerdem geben sie lieber Geld für Waffen aus, statt für Nahrungsmittel. Waffen sollte man denen liefern. Waffen ohne Ende, damit sie sich endlich selbst auslöschen. Dann ist mal Ruhe da unten.

Man hat ihm schon oft gesagt, welch Kotzbrocken er sei. Aber das kümmerte ihn nie. Er brauchte niemanden. Der Reichtum war geerbt. Na und? Geht keinem was an. Nur weil er was geerbt hat, soll er an die Armen denken und wenigstens einen kleinen Teil spenden? Niemals! Jeder ist seines Lebens eigener Schmied. Wenn sie zu blöd sind, um was zu erreichen – selber Schuld. Was kümmert ihn das.

Der Blick nach draußen ist tatsächlich faszinierend. Diese Buntheit! Nicht nur der Boden mit den sich im Wasser wiegenden Pflanzen. Es sind auch die Fische mit strahlenden Farben und allen möglichen Formen, die ihn begeistern. Schon oft hörte er von Tauchern, wie schön die Wasserunterwelt sei. Er war zu feige zum Tauchen. Da lag er lieber am Pool und ließ sich hinten und vorne vom Poolpersonal bedienen, als sich in enge Taucheranzüge zu zwängen und womöglich mit irgendwelchen anderen Idioten das Meer erkunden.

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Man wird einwenden, klar, der Mann hatte es in seinem Leben immer leicht, also denkt er nicht an andere. Er muss auch nicht arbeiten. Es kann ihm egal sein, ob seine Manuskripte angenommen werden oder nicht, ob der Verlag ihn als Autor behält oder nicht. Und irgendwie stimmen all diese Argumente, denn er hatte es wahrhaftig immer leicht, was das Materielle betrifft. Aber er nahm auch das so genannte Psychische hin, wie es nun mal war und ist. Er lamentierte nie, wenn es mal nicht so lief, wie er es gerne gehabt hätte und war nie einer der Möchte-gern-Weltverbesserer. Diese Typen konnte er nie ausstehen. So wie diesen Waldheini, der das Privileg hatte, am Kapitänstisch zu sitzen. Nicht, dass er deswegen aufbegehrte, denn wie gesagt, er lamentierte ja nie. Es lag ihm nur daran, dass den anderen Menschen endlich mal die Augen aufgehen über derartige Typen. Hängen ihre guten Taten stets an die große Glocke. Schaut her, welch guter Mensch ich bin!

Gutmenschen! Die waren ihm stets ein Dorn im Auge. Es bereitete ihm großes Vergnügen, jenen Menschen ein Bein zu stellen. Die Möglichkeiten und vor allem das Geld für Detektive hatte er, also war es ein Leichtes, Ungereimtheiten dieser ach, so guten Menschen aufzudecken. Niemand hat eine komplett weiße Weste. Und wenn es nur winziges kleines Fleckchen war, es gab immer etwas Dunkles im Weißen. Wo Licht, da auch Schatten – und das stimmte allemal.

Warum er das tat, weiß er selbst nicht so genau. Vielleicht, weil er seine Anschauungen über den Menschen an sich beweisen wollte. Der Mensch ist nicht gut. Die besten Beweise dafür lassen sich am ehesten zu schlechten Zeiten beweisen. Vor allem damals, als Menschen anderer Rasse und Kultur verfolgt wurden, stellte man fest, dass nur wenige bereit waren, jene arme Teufel zu beschützen.
Heute schreien sie auf, wenn Politiker an die Macht kommen, denen Ausländer weniger willkommen sind. Man muss diese alte Zeiten stets vor Augen führen, damit so was nie wieder passiert. Welch Schwachsinn! Je mehr man diese alten Zeiten vor Augen führt, um so mehr stachelt man junge Leute damit auf, die all dies nachmachen. Von wegen Ausländer! Die sind harmlos. Zumindest die meisten. Wollen nur ihre Ruhe haben und weg von den Gräueln des Krieges in ihrem eigenen Land. Wenn einer von zehn heraussticht, heißt es schon, dass alle Ausländer böse sind. Aber so ist das nun mal, denn wenn einer von zehn heraussticht, der gut zu anderen Menschen ist und selbstlos handelt, heißt es ja auch, dass alle Menschen gut sind.

Diese Doppelmoral stieß ihm schon immer sauer auf. Nach außen aufschreien und zeigen, wie gut man ist, aber in den eigenen vier Wänden die Alte niedermachen und die Kinder womöglich schlagen. Es ist ja nicht die Rede davon, dass es dauernd so ist. Aber welcher Mann, welche Frau hat nicht schon seine, ihre Hand gegen andere erhoben? Wie heißt es so schön in der Bibel? Wer ohne Schuld, der werfe den ersten Stein. Aber wehe, es wird aufgezeigt, dass da einer Dreck am Stecken hat. Wie Hyänen stürzen sich alle auf ihn, weil er, der einstige Gutmensch, dem alle vertrauen, den alle stets loben, weil er so viel für andere tut, Geld unterschlagen oder Frauen begrapscht hat oder eben was anderes, ach, so Furchtbares, getan hat. Dann sind alle da und zeigen mit dem Finger auf den armen Wurm, der nichts anderes getan hat, als Mensch zu sein. Aber niemand will wahrhaben, wie der Mensch wirklich ist.

Langsam stellt sich ihm die Frage, wie er das gesunkene Schiff verlassen könnte. Durch die vielen Gänge nach oben, oder gleich durch die Luke, die ihm aber doch etwas zu schmal für seinen Körper erschien. Wieder sah er seltsame Wesen da draußen herum schwimmen. Manchem würden sie wie Ungeheuer erscheinen. Ihm erscheinen sie interessant. Aber möchte er ihnen Auge in Auge gegenüber schwimmen, wenn er sich denn aus dem Schiff hinaus wagt?

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Vor 52 Jahren, eine Sekunde nachdem das neue Jahr begonnen hatte, wurde er in eine wohlhabende Familie hinein geboren. Er war das Neujahrsbaby und das einzige Kind in der Familie von Großeltern, Inhaber, wie auch Teilhaber mehrerer Fabriken im In- wie auch Ausland, mit zwei Söhnen, von denen einer bereits verheiratet und sein Vater war, die alle in einer riesigen Villa, die einem Schloss glich, luxuriös lebten.

Bereits im ersten Schuljahr legten die Lehrer seinen Eltern nahe, ihn doch von einem Privatlehrer unterrichten zu lassen, da er für eine Gemeinschaft höchst untauglich sei. Doch erst in der nächst höheren Schule kamen seine Eltern seiner Bitte nach. Dabei genügte er damals nur der Gerechtigkeit, indem er einen Mitschüler darauf hinwies, dass andere ihre Zeit mit Lernen verbrachten, während dieser durch Nichtstun und Schummelzettel jene anderen betrog. Er deckte Ungerechtigkeiten, wie auch Ungereimtheiten auf, auch jene der Lehrer und Professoren, was oftmals höchst peinlich war. Peinlich für Lehrer und Professoren, denn sie konnten nie leugnen, was der Junge aufdeckte, da es stets die Wahrheit war, die sogar schwarz auf weiß bewiesen wurde.

Damals schwebte ihm ein Beruf wie der von Sherlock Holmes vor. Man sagte ihm auch jene Intelligenz und Kälte nach, mit der jener Sherlock aus der englischen Fernsehserie mit Benedict Cumberbatch agiert. Auch eine gewisse äußere Ähnlichkeit mit dem Schauspieler sei vorhanden. Natürlich gab es diese TV-Serie damals noch nicht, aber hätte es sie gegeben, wäre der Vergleich schon damals angebracht gewesen.

Privatdetektiv und Helfer der Kriminalpolizei. Das wäre sein Traum gewesen, aber die Familie hatte anderes für ihn vor. Natürlich sollte er, als einziger Nachkomme, alle Firmen und Fabriken übernehmen. Dazu müsste er gar nichts tun, denn auf die Hintermänner war stets Verlass und die Nachkommen der Hintermänner seien noch verlässlicher.

Schnüffeln alleine war es auch nicht, denn ihn interessierten viele Dinge. Eigentlich wollte er alles wissen, sich ein Allgemeinwissen aneignen, als hätte er alle Fächer dieser Erde studiert. Und das tat er dann auch. Er studierte Naturwissenschaften aller Art, mehrere Sprachen, von denen er sechs perfekt beherrscht, Geschichte und Kunstgeschichte und schließlich auch Elektronik und Informatik. Abschlüsse machte er nie. Er studierte gerade so viel, wie er meinte, dass es für das Allgemeinwissen genügt.

Gerade als er begann sein Leben zu genießen, geschah das Unglück. Durch irgendeine defekte Leitung brannte die Villa bis auf die Grundmauern ab und mit ihr seine Familie. Außer die Großeltern väterlicherseits, denn die waren bereits tot, eines natürlichen Todes gestorben. Kurz nach seinem letzten Studium war er Waise und einziger alleiniger Erbe eines Millionenvermögens geworden.
Es war ganz leicht durch die Luke zu schwimmen. Dick war er ja nicht, eher ein so genannter Schmalhans wie der Schauspieler, der Sherlock spielte. Dennoch wäre es nach physikalischen Gesetzen eine Unmöglichkeit gewesen, als erwachsener Mann durch eine Luke von etwa zwanzig Zentimetern zu schlüpfen.

Der Fisch, der wie ein Ungeheuer aussah, war noch da. Er bestand fast nur aus stets offenem Maul mit riesigen, schiefen Zähnen. Die Flosse auf seinem buckligen Rücken zitterte, als er ihm gegenüber in der Schwebe Auge in Auge schwamm.

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An seinem ersten und einzigen veröffentlichten Roman schrieb er zwei Jahre. Ein Kriminalroman, in dem der Protagonist ein Detektiv und ein noch größerer Einzelgänger als Sherlock ist. Es ist unheimlich schwer, ihn aufzuspüren, um seine Dienste in Anspruch zu nehmen und doch hat er Aufträge noch und noch. Der Roman war so gewieft geschrieben, dass er es unter die ersten zehn der Bestseller schaffte. Der Verlag war begeistert und ernannte ihn sofort zur Nummer Eins ihrer Hausautoren. Was ein Fehler war und einige treue Schreiber aus dem Haus vertrieb.

Er schrieb über seinen Helden kein weiteres Buch und doch nannte er sich, wenn mal jemand nach seinem Beruf fragte, was ohnehin selten war, Schriftsteller. Warum es selten war? Weil sich niemand mit ihm anfreunden wollte. Dort, wo er zu Hause war, ein kleines Städtchen, in dem er sich in einem Dachgeschoß eines alten dreistöckigen Hauses eine hundertfünfzig Quadratmeter große Wohnung gemietet hatte, nachdem die Villa abgebrannt war, kannte ihn fast jeder und erkannte in ihm – wortwörtlich – ein arrogantes, überhebliches Arschloch. Schrecklich, aber wahr! Einmal kam ein Agent des Verlags in das Städtchen und fragte nach ihm. Als Antwort bekam er: Dieses arrogante, überhebliche Arschloch wohnt in der Sachsengasse 21 ganz oben im Dachgeschoß.

Das Dachgeschoß, das er selbst ausbauen ließ, ohne die Bewohner zu fragen. Und als herauskam, dass er selbst das Haus gekauft hatte und die Miete schmerzlich erhöhte, obwohl er in Geld schwimmt, war ihm jegliche Freundschaft, sogar Bekanntschaft, verwehrt. Aber kümmerte ihn das? Mitnichten! Es war ihm sogar willkommen, denn er verzichtete schon immer auf Freundschaften.
Stets sonderte er sich ab. Das begann schon in den ersten Schuljahren, wo er in den Pausen stets auf seinem Platz sitzen blieb. Forderte ihn ein Mitschüler auf, mit ihm in den Schulhof zu kommen, bekam dieser meist eine patzige Antwort, wie etwa: Verzieh dich! Oder: Lass mich in Ruhe!

Streng genommen war er ein Menschenfeind. Und doch wieder nicht, denn er war überzeugt davon, die wahre Natur des Menschen erkannt zu haben: Das Böse. Der Mensch allein war dazu fähig, vollkommen bewusst Böses zu tun. Es mag so etwas wie ein Gewissen geben, aber das lässt sich allzu leicht ausschalten.
Was ihn jedoch am meisten faszinierte, was er an seinem geheimen Studium am Menschen erkannt hatte, war, dass sich der Mensch selbst belügt und diese Lügen am Ende noch glaubt. Es gab so wenige Menschen, die das, was sie als Kinder lernen und was ihnen weiter als Erwachsene vorgesagt wird, überprüfen. Sie glauben all diese Lügen, die ihnen vorgesagt werden. Sie laufen sogar zu höheren Stellen und bitten und betteln, weil sie glauben, die Oberen würden aus Mitleid für sie da sein. Dabei kümmert diese Menschen kein einzelnes Schicksal. Vor allem kein fremdes Schicksal.

Der Ungeheuerfisch starrte ihn aus kalten Augen an und er starrte mit seinen ebenso kalten Augen zurück. Und doch gab es da so etwas wie eine Kommunikation zwischen den beiden. Der eine die Hässlichkeit selbst und der andere, er, unser Hauptdarsteller, noch immer ein höchst ansehnliches Geschöpf von Mensch, männlichen Geschlechts.
Es kam ihm so vor, als würde etwas von ihm auf das Meerestier übergehen, während wiederum etwas von dem Meerestier auf ihn überging. Es war etwas Geistige, das jedoch so subtil war, was nur ein extrem feinfühliges Wesen erkennen kann.

Er und feinfühlig? So widerspruchsvoll sich das anhört, es stimmt. Ja, er war und ist durch und durch feinfühlig, spürte die kleinsten Regungen seines Gegenübers. Und das war auch der Grund, warum er die Einsamkeit suchte. Es war zu seinem eigenen Schutz.

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Wow - liebe @Serenade -
da warst du heute morgen hier ja schon sehr fleissig..
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....und deine Überschrift "Tiefgang" ist wahrlich gut gewählt von dir....ich bin begeistert :)
 
Das Ungeheuer mit seinem Riesenmaul, in dem gefährlich spitze Zähne saßen, kam immer näher auf ihn zu. Manche Lebewesen in dieser Tiefe, so sagt man, seien fast bis vollkommen blind. Dieses aber schien ihn geradezu zu fixieren, indem es vor ihm keinen Halt machte und geradeswegs durch ihn hindurch tauchte. Er spürte nur einen leisen Hauch. Dort, wo der Monsterfisch eben noch war und sie sich gegenseitig angestarrt hatten, schwebte eine Nixe. Zumindest sah sie so aus in dem engen, hellblau schimmernden Abendkleid, das ab den Waden seitlich ausgestellt war wie die Flosse einer Meerjungfrau.

Er erinnerte sich an diese Frau. Einige Male trafen sich ihre Blicke, unter denen sie sanft errötete, was er, zu seinem eigenen Erstaunen, niedlich fand. Niedlich? Er wusste selbst nicht, wie ihm dieses alberne Wort in den Sinn kam. Aber es traf durchaus zu, musste er sich eingestehen, als er in ihre dunklen, großen Rehaugen sah.

Beim ersten Gemeinschaftstreffen, dem Willkommensgruß des Kapitäns in der großen Halle, fiel sie ihm schon auf, weil sie sich ziemlich schüchtern benahm. So, als ob sie nicht recht wüsste, was sie hier tat. Nein, nicht schüchtern, das Wort - unsicher – traf es besser. Ihr wurde zwar ein Platz zugewiesen, so wie allen Passagieren, aber als man sie fragte, ob der Platz auch angenehm für sie wäre, sah sie zu ihm, der zwei Tische weiter, links von ihr bereits an seinem zugewiesenen Platz saß. Es war das erste Mal, dass sich ihre Blicke trafen. So erschien es zumindest ihm. Dass sie ihn bereits beim Einchecken beobachtete, fiel ihm, dem höchst intelligenten und aufmerksamen Hobbydetektiven, nicht auf. Er war viel mehr mit dem Gedanken beschäftigt, ob er diese Reise tatsächlich antreten sollte oder nicht. Noch wäre Zeit zum Umkehren gewesen.

Für Frauen hatte er sich nie interessiert. Auch nicht für Männer, obwohl gerade er äußerlich der Typ dazu wäre. Als er den Hochschulabschluss mit Auszeichnung absolvierte, fragten sich seine Eltern, eigentlich die gesamte Familie in der großen Villa, ob etwas nicht mit ihm stimmte. Jungs in seinem Altern gingen aus und hatten großteils bereits eine fixe Freundin. Er hatte nicht einmal Freunde. Manchmal hielten sie sich vor, auf die Lehrer und Professoren gehört zu haben und einen Privatlehrer für ihn engagiert zu haben, was ihn wahrscheinlich noch weiter in die Isolation getrieben hatte.

Als er bereits studierte, fragte ihn seine Mutter, ob er glücklich sei. Der Blick, den er ihr zuwarf, schockierte sie. Ihr Sohn sah sie aus herrlich blauen, aber eiskalten Augen an, dass ihr ein Frösteln durch den ganzen Körper ging. Wie kann man in einer Welt wie dieser glücklich sein? - stellte er die Gegenfrage.

In seinem ganzen Leben hatte er, wenn er zurück denkt, noch nie wirklich gelacht. Vielleicht gelächelt, aber ein erfrischendes Lachen war ihm noch nie entkommen. Ja, vielleicht ein gestelltes oder herablassendes Haha, mit herab gezogenen Mundwinkeln, was seine sinnliche Lippen keineswegs entstellte. Es machte seine Erscheinung sogar noch interessanter.

Man könnte also sagen, er ist noch Jungfrau und schwebte nun einer Meerjungfrau gegenüber. Fast wäre ihm gerade in diesem Moment und bei diesem Gedanken ein lautes Lachen entkommen. Er spürte sogar, wie sich sein Gesicht veränderte, offener wurde und er war versucht seine Arme nach ihr auszustrecken, als sie, wie er, scheu lächelte.

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War er wirklich nie glücklich? Nicht ein bisschen? Immerhin machte er die Aussage, dass man in einer Welt wie dieser nicht glücklich sein kann, als Student, als noch sehr junger Mann.

Was ist Glück überhaupt? Was passiert, wenn jemand Glück hat? Glück ist etwas Relatives. Na, gut, alles ist auf eine bestimmte und sogar unbestimmte Art relativ. Wenn seine Mutter gefragt hätte, ob er zufrieden sei, hätte er eher mit einem ehrlichen Ja geantwortet.

Ja, er war zufrieden mit seinem Leben. Und ja, er war auch mit sich selbst zufrieden. Vor allem das. Er hielt sich selbst für fast vollkommen. Das ließ auch jeden spüren.

Seine einzige Beziehung, falls man das überhaupt so nennen kann, die er mit einer Frau hatte, war eine Psychologiestudentin, die sich immens bemühte, ihn kennen zu lernen.

Sein Äußeres zog an, keine Frage. Sogar Männer versuchten es. Würde man es genauer betrachten, waren es sogar mehr Männer als Frauen, die etwas mit ihm gehabt hätten. Er war ein absoluter Schönling, was ja auch die enorme Ähnlichkeit mit dem Sherlock-Darsteller (ist natürlich auch relativ, was Schönheit und was den Sherlock-Darsteller betrifft) aussagt. Man könnte fast sagen, sie seien Zwillingsbrüder. Und die Ähnlichkeit besteht noch immer, denn man sah ihm sein Alter nie an. Es war, als hätte er die 30, höchstens 35, für immer gepachtet.

Wie eben erwähnt, bemühte sich eine Psychologiestudentin um ihn. Sie suchte während der Vorlesungen das Gespräch mit ihm und erntet meistens nichts als arrogante Blicke, indem er eine Braue – meist war es die linke – keck nach oben zog. Und wenn er etwas sagte, dann, dass er, bitteschön, die Vorlesung ohne Störungen hören möchte. Na, wenn das nicht arrogant war! Aber die junge Frau gab nicht auf. Sie stalkte ihn, wie man das so nennt, verfolgte ihn, wo immer sie konnte und er schien es sogar zu genießen.

Natürlich bemerkte er ihre Interesse. Nicht so, wie bei der Frau mit den Rehaugen, die ihn schon beim Check-In auf das Schiff beobachtete. Da waren seine Gedanken bei den vielen Menschen und vor allem, wenn er schon auf dem Schiff war, es keine Flucht mehr geben kann. Einmal auf dem Wasser, war er ein Gefangener auf dem Schiff. Er liebte die Einsamkeit. Er brauchte sie sogar. Es waren viel zu viele Einflüsse von anderen Menschen, die es ihm unmöglich machten, Ruhe zu bewahren. Ihr fiel natürlich seine Unruhe sofort auf und schon in diesem Moment, als er zögernd das Schiff vor ihr betrat, hätte sie ihn am liebsten schützend in ihre Arme genommen und beruhigend über sein lockiges Haar gestreichelt.

Auch die Studentin wurde von einem derartigen Gefühl überwältigt. Und schließlich schaffte sie es tatsächlich, ihn zu einem Date zu überreden. Er machte das nur deshalb, weil er einen Tag vorher zufällig ein Gespräch seiner Eltern gelauscht hatte. Und das war wiederum einen Tag später, nachdem ihm seine Mutter gefragt hatte, ob er denn glücklich sei. Natürlich wollte er nicht lauschen, aber die Lautstärke der beiden war nun mal zu laut. Es ging um ihn und darum, dass mit ihm etwas nicht passt. Er sollte längst eine Freundin haben. Ob er schwul sei? Natürlich ist er das nicht. Und lasst ihn doch in Ruhe, denn es ist sein Leben.

Der letzte Satz kam sehr laut von seinem Vater, mit dem er eine gute Beziehung hatte. Ja, doch, man kann es durchaus gut und wohl auch Beziehung nennen. Zumindest von seiner Warte aus. Er konnte einfach nicht mit Menschen. Aber nicht deshalb, weil er sich sicher war, dass der Mensch von Natur aus nicht gut, sondern böse ist, sondern weil er einfach nicht konnte und es ihm lieber war, alleine zu sein. Schon als Kleinkind konnte er sich alleine am besten beschäftigen. Wollte eines der Kindermädchen oder seine Mutter mit ihm spielen, zog er sich zurück. Man vermutete schließlich leichten Autismus bei ihm. Bewiesen wurde es nie.

Die Studentin und er gingen also aus. Es passierte nichts weiter als ein Dinner in einem sehr teuren Restaurant, das natürlich er bezahlte. Und es kam zu einem nächsten Date und dann auch zu einem Spaziergang im Park und einige Gespräche im Aufenthaltsraum der Uni.

Es wurde also doch so etwas wie eine Beziehung. Die Studentin sah in ihm nicht nur einen sehr gut aussehenden Mann, sondern auch eine höchst interessante Psyche. Aber sie wurde, genauso wie seine Eltern, nicht schlau aus ihm. Sie erkannte, dass ihm Nähe nicht gut tat. Er sprach nie viel und wenn, ging es ums Studium, das er gerade machte. Zu dieser Zeit war es Biologie und noch ein Zweig der Naturwissenschaften. Aber sie wollte über ihn sprechen, wollte wissen, wie er über die Welt denkt, wie und was er empfindet. Er blockte ab.

Als sie das erste Mal in einem Bett in einem der teuersten Hotels der Stadt lagen, blockte er wieder ab. Dabei hatte es so schön begonnen. Sie zogen sich gegenseitig aus und berührten sich ganz sanft, dann trug er sie auf Händen zum Bett, legte sie vorsichtig hinein und sah sie sogar liebevoll an. Aber als er sich zu ihr legte, sie an sich drücken wollte, schnellte er plötzlich zurück. Es war, als hätte er sich an ihren Körper elektrisiert. Das war's dann auch. Und das war auch seine einzige Beziehung, falls man, wie bereits erwähnt, überhaupt so nennen kann.

Er wusste nicht, ob sie es ebenso empfunden hat. Es gab auch keine Gelegenheit, sie zu fragen, da sie ihm von da an aus dem Weg ging. Es war zu beleidigend für sie. Ihm war es nur recht. Er empfand wirklich keine Traurigkeit deswegen. Gerade deshalb fragte er sich, ob er überhaupt zur Liebe fähig ist, ob er jemanden wenigstens gerne haben kann. Das hatte nichts mit körperlicher Nähe zu tun, denn seine Mutter umarmte ihn auch ab und zu. Da war es nicht, als würde ein Blitz durch seinen Körper fahren. Die Studentin reagierte nicht einmal, also hatte sie, so dachte er, nichts gespürt.

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Es muss, um Missverständnisse möglichst zu vermeiden, etwas richtig gestellt werden. Es war und ist nicht so, dass er die Menschheit als böse verdammte. Im Grunde genommen gab und gibt es für ihn nicht wirklich so etwas wie gut und böse, was nicht heißt, dass er zwischen richtig oder falsch nicht unterscheiden könnte. Er sah, wie er meinte, den Tatsachen realistisch in die Augen, ohne irgendetwas zu beschönigen. Dies war kein Urteil seinerseits, sondern eine für ihn tatsächliche Feststellung.

Es war und ist auch nicht so, dass er gefühlskalt wäre, denn Emotionen sind wesentlich für sein so typisch logisches Denken. Die Frage, ob er überhaupt lieben oder wenigstens jemanden gern haben kann, kam aus seinem tiefsten Herzen. Er erforschte sich selbst genauso wie seine Umgebung.

Zuerst dachte er an seine Mutter, die erste Bezugsperson in seinem Leben. Sie war eine einfache Frau, die schon in jungen Jahren einiges hinter sich gehabt hatte. Ihre Mutter starb, als sie noch ein Teenager war. Der Vater ließ sie daraufhin in Stich und schickte sie zu einer entfernten Tante, die so lange für sie sorgte, bis sie volljährig wurde. Während des Studiums jobbte sie in einem Restaurant, wo sie auf seinen Vater traf, der sich sofort in sie verliebte. Es war ihm egal, woher sie kam und wer sie war, - diese junge Frau musste seine Ehefrau werden. Sie war zwar nicht abgeneigt, aber etwas vorsichtiger, denn sehr reiche Männer – und er war damals schon Besitzer einiger Firmen und Fabriken – spielen gerne mit anderen Menschen.

Er wäre nicht das einzige Kind seiner Eltern, denn seine Eltern hatten einige Jahre vor seiner Geburt schon eine Tochter, die nur eineinhalb Jahre alt wurde. Sie starb an einer seltenen Krankheit. Seine Eltern, vor allem seine Mutter überwanden diesen Verlust nur schwer. Niemals sah er an einer Wand ein Foto seiner verstorbenen kleinen Schwester. Es gab keines, weil seine Mutter, so sagte ihm einst sein Vater im Vertrauen, den abermaligen Schmerz vermeiden möchte. Damals gab es so etwas wie psychologische Betreuung nicht. Damals musste man alleine mit dem Schmerz und der Trauer fertig werden, was nicht immer gelang.

Dadurch, so fand er, wuchs auch das Selbstmitleid seiner Mutter, das er erkannte, als es einmal in der Nähe einen schweren Unfall mit einem Schulbus gab, an dem mindestens vier kleine Schulkinder starben. Seine Mutter brach damals in Tränen aus. Aber, so schloss er, sie weinte nicht wegen der Kinder und ihren Eltern, sondern ihretwegen, weil sie diesen Schmerz nur zu gut kannte und wieder an ihren damaligen Verlust zurück erinnert wurde.

Zum Glück war es nicht so, dass sie sich an ihn, an das zweite so erwünschte Kind klammerte, wie das so oft der Fall war. Sie ließ ihn so gewähren, wie er nun mal war. Es gab auch nie etwas an ihm auszusetzen, außer seine Vorliebe alleine zu sein, keine Freunde und schon gar keine Freundin zu haben.

Der Vater war stolz auf ihn, auf seine schulischen Leistungen und auf die Aussagen seiner Lehrer und Professoren. Nein, nicht darauf, dass er gemeinschaftsunfähig, sondern höchst intelligent sei. Man hätte ihn auf eine Schule der Hochbegabten schicken können, aber da riet man ab und es war auch gut so. Ihm selbst war ein Privatlehrer höchst willkommen.

Als die Villa abbrannte und er der alleinige Erbe des nicht kleinen Imperiums war, gab es einen Mann, der ihm sofort behilflich war, alles zu seiner Zufriedenheit zu verwalten. Der Mann wusste vom 'leichten Autismus' des jungen Erben und war sofort zur Stelle, sodass dieser sich nie mit den Menschen des Imperiums auseinander setzen musste. Er konnte also leben wie die Made im Speck, ohne auch nur einen Handgriff zu tun.

Er studierte, wie erwähnt, alle möglichen Richtungen, bis auf Geografie. Wo welches Land, wie groß oder wie die Hauptstadt heißt, war ihm gleichgültig, solange er es selbst nicht bereisen und sehen konnte. Er wollte die Geografie selbst erleben und tat dies auch. Aber es waren nie Gemeinschaftsreisen, sondern alles, zumindest das meiste, auf eigene Faust.

Er war unter anderem in Australien, im Outback, am Fuße des Uluru, dem heiligen Berg der Aborigines und traf sogar auf dieses noch zum Teil nativ lebende Volk, das mit ihm einige Kilometer zu Fuß reiste und ihm einige Überlebungstricks in dieser kargen Gegend zeigte.

Er war unter anderem auch in Nepal, am Fuße des Himalayas, wo er mit Sherpas einige Höhenmeter nach oben kletterte, es dann aber doch wegen Mangel an Sauerstoff bleiben ließ. Ebenso besuchte er ein buddhistisches Kloster, wo ihm die Ruhe besonders gut tat. So schnell wie er sich in tiefe Meditation begeben konnte, hatten die Mönche bei einem westlichen Menschen noch nie erlebt. Es braucht Jahre, ja sogar oft Jahrzehnte, bis man so tief in sich einsinken kann, dass es mehrere körperliche Stöße braucht, um wieder 'in die Welt' zurück zu kehren.

Er war in Thailand und besah sich all die herrlichen Tempel und traf nahe eines der schönsten Tempel, an der Tempelanlage Wat Rong Khun in Chiang Rai, ein sehr junges thailändisches Mädchen, das sich an seinen Arm klammerte und ihn nicht wieder loslassen wollte. Da er die thailändische Sprache teilweise beherrschte, fand er heraus, dass dieses junge Ding eine Prostituierte war. Als sich das kindliche Mädchen fester an ihn drückte, durchzuckte ihn abermals ein Blitz wie damals bei der Psychologiestudentin. Und diesmal schien es auch das Mädchen zu spüren, ließ ihn augenblicklich los und lief schreiend davon. Natürlich waren sofort Sicherheitsleute da, aber er konnte sie beruhigen, denn das Mädchen war unversehrt.

Damals war er zum zweiten Mal darauf hingewiesen worden, dass er wohl für immer eine männliche Jungfrau bleiben muss. Es war ja nicht so, dass er gar nicht wollte. Immerhin war er ein Mann, bei dem anscheinend alles funktionierte und bei dem es zur Zeit der Pubertät durchaus so genannte feuchte Träume gab. Dennoch tröstete ihn ab einer gewissen Zeit, als Männer seines Altere bereits verheiratet waren und Kinder hatten, irgendwo ganz tief in ihm, vielleicht im Unterbewusst, der Gedanke, der ihm sagte, dass die Richtige noch nicht gekommen war.

Und jetzt, nachdem das Schiff, auf dem er die einzige Reise unter vielen Menschen angetreten war, an einem sehr tiefen Punkt des Meeresgrundes angekommen war, schwebte er einer Frau gegenüber, bei der er endlich das Gefühl hatte, sie könnte die einzig Richtige sein.

Seltsam war, dass ihm dieser Gedanke, er müsse noch auf die einzig (!) Richtige warten, genau vor dem wunderschönen weißen Tempel in Thailand gekommen war. Der weiße Tempel. Die reine, weiße Unschuld.

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Ihm war vor allem die Bedeutung der jeweiligen Worte wichtig, weshalb er sich selbst die Frage stellte, was Glück wirklich ist. Vor allem die Frage, wie kann es Glücklichsein im Wissen des eigenen Todes geben und welchen Sinn dieses endliche Leben überhaupt hat.

Er erkannte durch sein inneres Fragen und sein äußeres Erkennen, dass alle trivialen Streitereien zwischen Menschen, die dann sehr oft in blutige Kriege ausarten, nichts anderes als Schutzvorrichtungen gegen die Sinnlosigkeit des Menschenlebens sind. Es ist die Aggression, welche Menschen im tiefsten Schmerz noch immer aufatmen lässt. Schlag zusammen, was zusammen geschlagen werden kann und dir ist leichter. Natürlich kann auch tröstliche Umarmung lindern, aber der Mensch tendiert eher zu Gewalt.

Seine Argumentationen lassen keinen Widerspruch zu. Jegliche Beteuerungen, der Mensch sei doch gar nicht so übel, wischte er stets mit einer Handbewegung beiseite. Immerhin hatte er auch recht damit, als er sagte, dass es weniger tote Kinder geben würde, wenn in den Entwicklungsländern weniger Kinder gezeugt würden.

Wie schon gesagt, empfand er den Menschen weder gut noch böse, sondern so wie der Mensch nun mal ist. Der Mensch denkt zu aller erst an sich selbst.

Ging er da zu sehr von sich selbst aus? Sagte man ihm deshalb Autismus, zumindest leichten Autismus nach? Dies war eine vollkommen falsche Diagnose, zumal sie nicht mal von einem entsprechenden Arzt gestellt wurde. Er war viel mehr ein Empath, einer der sich fast zu 100% in sein Gegenüber hinein versetzen konnte, fühlte und dachte, was sein Gegenüber fühlte und vor allem auch dachte, was bereits an Telepathie grenzte. Telepath war er jedoch keiner, falls es so was überhaupt gibt, sondern ein überaus guter und vor allem aufmerksamer Beobachter, was seine Vorliebe für Detektivarbeit unterstrich.

Genau das war auch ein Grund, warum er Menschenmengen mied, da ihn sonst zu viele Gefühle und Gedanken verwirrten und er sie kaum zuordnen konnte. Aber warum war er so kalt und abweisend gegenüber anderen Menschen? So etwas passt doch kaum zu einem Empathen. Empathie gibt es jedoch bei uns Menschen auf einer Skala vom radikalen Mitgefühl bis zur vollständigen Gleichgültigkeit.

War er tatsächlich so kalt, dass er nie, wirklich nie, an Mitmenschen, ob vollkommen fremd oder ein wenig bekannt, dachte. Freunde hatte er wirklich nie, also niemanden, der ihn besucht oder eingeladen hätte. Man schimpfte hinter seinem Rücken und nannte ihn, wie auch bereits erwähnt, ein arrogantes, überhebliches Arschloch. Kein Wunder, wusste doch jeder, wie reich er war und dass er nie etwas spendete und dann auch noch die Mieten in dem Mietshaus, das er gekauft hatte, erhöhte und damit einige Familien in Geldnot stürzte. Warum tat er das?

Ganz einfach, er tat es, weil er an die Kraft der Menschen glaubte. Dies war keineswegs fies von ihm, wie viele denken und dachten. Er war überzeugt davon, dass sich jeder, wirklich jeder Mensch, wenn er nur genug an sich arbeitet, selbst am eigenen Schopf aus jeglicher Misere ziehen kann. Er traute es allen Menschen auch zu und das mit Recht, denn keiner der Mieter zog aus oder wurde ein Sozialfall.

Menschen brauchen keine anderen Menschen. Und wenn sie es tun, ist es reiner Egoismus und reines Selbstmitleid. Kein Mensch liebt einen anderen Menschen. Er liebt vielleicht das, was der andere tut, vor allem das, was der andere für ihn tut. Bedingungslose Liebe? So was gibt es nur in schmalzigen Büchern oder Filmen. Er wusste das. Er sah das in den Menschen. Er konnte bezeugen, dass er in seinem ganzen Leben keinen einzigen Menschen gefühlt hätte, der so einem Phantasiegebilde entsprach, - ein Mensch, der für andere alles tun, sogar sein eigenes Leben geben würde.

Das Schiffsdrama erschütterte die ganze Welt. Unter anderem auch die Welt des kleinen Städtchens, in dem er gewohnt hatte. Vor allem das Mietshaus, in dem er gewohnt hatte.

Niemand wusste, dass er schon lange, als er noch seine Weltreisen auf festem Boden machte, bei einem Notar geregelt hatte. Das war ihm ein Bedürfnis, denn er hatte keinen Erben, niemandem, dem er seine Millionen vermachen hätte können. Also legte er alles testamentarisch fest.

Unter anderem bekam das Mietshaus, mit einem beträchtlichem Eigenkapital, jene Familie, die beinahe Notstand anmelden hätte müssen, einige Millionen erbte die Stadtverwaltung, und die anderen Millionen wurden zwischen allen möglichen, von ihm genauestens geprüften Hilfsorganisationen aufgeteilt. Plötzlich war er nicht mehr das arrogante, überhebliche Arschloch.

Dies wäre ein entsprechender Schluss, aber es könnte auch einen anderen geben. Nämlich, dass viele Menschen gerettet wurden, darunter auch er und die Meerjungfrau. Denn wozu sonst hätte sie erwähnt werden müssen, sie und seine 'Blitzbekanntschaften'? Doch nur, weil sie die Richtige war und ist. Beide wurden an einem Strand gefunden und wieder belebt. In einem Krankenhaus standen sie sich, als sie entlassen wurden, gegenüber und umarmten sich schweigend, ohne dass irgendetwas Elektrisierendes zwischen ihnen gefunkt hätte. Und schließlich zogen sie zusammen in ein Haus, mit einem riesigen Park, zu dem niemand Zutritt hatte, denn sie liebten beide die Abgeschiedenheit und Einsamkeit.

Man könnte auch beides in Betracht ziehen, dass die beiden sich selbst irgendwie gerettet hätten und sie so reich war, dass seine Millionen gar nicht gebraucht wurden und vom Notar auf seinen Wunsch verteilt wurden. Unerkannt lebten beiden in einem bescheidenen Häuschen mit Garten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihres Lebens.

Man kann es sich aussuchen oder eben nach ihm beurteilen, was denn besser zu so einem arroganten, überheblichen Arschloch (?) passen würde.

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