Namen ihrer Herren

Mimosina

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Rostock
„Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.(...)
Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. Das Ziel der Oberen ist, sich da zu behaupten, wo sie sind. Das der Mittelklasse, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das der Unteren,
wenn sie überhaupt ein Ziel haben, denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, dass sie durch die Mühsal zu zermürbt sind, um etwas anderes als hin und wieder ihr Alltagsleben ins Bewusstsein dringen zu lassen, besteht darin, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der alle Menschen gleich sind.
So wiederholt sich die ganze Geschichte hindurch ein in seinen Grundlinien
gleicher Kampf wieder und immer wieder. Während langen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber früher oder später kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihren Selbstglauben oder ihre Fähigkeit, streng zu regieren, oder beides verlieren. Dann werden sie von den Angehörigen der Mittelklasse gestürzt, die die Unteren auf ihre Seite ziehen, indem sie ihnen vormachen, für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drängen die Angehörigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zurück, und sie selber werden die Oberen.
Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur zeitweise
ihre Ziele zu erreichen. Es wäre eine Übertreibung, zu sagen, dass im Verlauf der Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei. Sogar heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmensch physisch besser daran, als er es vor ein paar Jahrhunderten war. Aber keine Steigerung des Wohlstandes, keine Milderung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter nähergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus, hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel anderes bedeutet, als eine Änderung
der Namen ihrer Herren.“



(aus "1984" G.Orwell)


Hab ich heute seit vielen Jahren mal wieder in "1984" gelesen und bin wieder beeindruckt ob der Klarheit und auch der Hoffnungslosigkeit.
Ist wirklich nur diese eine Struktur möglich?
 
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Mimosina schrieb:
Hab ich heute seit vielen Jahren mal wieder in "1984" gelesen und bin wieder beeindruckt ob der Klarheit und auch der Hoffnungslosigkeit.
Ist wirklich nur diese eine Struktur möglich?

Wer auch heute noch einen Herren oder Herrin braucht, der wird sich einen suchen bzw. sich unterdrücken lassen. Die anderen werden sich entziehen, vielleicht selbst den Herrn, die Herrin spielen.....

Für mich ist das keine Hoffnungslosigkeit, sondern die Psychologie und das Muster/die Prägung, welche man aus der Kindheit ins Erwachsenleben überträgt und auslebt. Man lebt das aus, was man kennt/gewohnt ist.



LG
Urajup
 
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