Der Brief
Er fand ihn, als er gerade einen Stapel der Papiere entsorgen wollte. Vergilbt und verknittert sah der aufgerissene Umschlag aus. Als wenn der Inhalt 1000mal gelesen worden wäre, dachte er. Ohne Adresse, ohne Absender. Erst jetzt war er ihm nach Tagen der Sichtung des Nachlasses seines Vaters aufgefallen.
Sie hatten kein gutes Verhältnis zueinander gehabt. Viel gestritten. Hatten sich 15 Jahre nicht gehört oder gesehen. Hass? Nein, Hass hegte er keinen mehr gegen ihn. Er hatte sich über die Jahre auch mit dem Verhältnis zu seinem Vater beschäftigt, hatte Vieles aufgearbeitet. Hatte ihn in vielen Dingen verstehen oder nachvollziehen können. Vor ein paar Tagen nun bekam er die Nachricht von seinem Tode.
Es war schon Mittag durch und er wollte heute fertig werden mit all dem hier. Er spreizte den Umschlag auf und nahm den Brief heraus. Ein vertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Es war der Pfeifentabak seines Vaters. Er faltete den Brief auseinander und begann zu lesen......
Mein lieber Sohn,
nun haben wir uns doch nicht mehr gesehen. Wohl an die 1000mal habe ich gelesen, was ich Dir hier geschrieben habe und jedes Mal dachte daran, mich bei Dir zu melden. Doch der gleiche Stolz, der auch Dir vererbt wurde, hielt mich immer wieder zurück.
Ich habe viel über uns nachgedacht all die Jahre, genau wie Du vermutlich auch und je älter ich wurde, umso näher war ich daran, den Kontakt zu suchen. Vielleicht ist dies "weicher werden" dem Alter geschuldet. Du kennst mich so nicht und wärst sicher überrascht gewesen, hätte ich mich bei Dir gemeldet.
Mir liegt etwas sehr am Herzen, dass ich Dir mitteilen, ja "mitgeben" möchte, weil ich glaube, dass es wichtig für Dich ist.
Es gibt ein paar Dinge, für die ich Dich immer sehr bewundert habe. Ja, auch wenn Du nun vielleicht denkst, "der Alte spinnt", es ist tatsächlich so. Ich habe Dich dafür bewundert, dass Du mit einem starken Willen ausgestattet bist. Dich bewundert, dass Du Dich auch getraut hast, "weich" zu sein, wenn es angebracht war. Ich hingegen habe es nie anders gelernt, alles mit Härte auszuagieren. Du hingegen hast gelernt, beides zu leben. Verzeih' mir, aber manchmal war ich sogar ein wenig neidisch....
Ich habe Dich dafür bewundert, dass Dir Deine Freiheit und Deine Familie wichtiger waren, als alles Geld, dass Du hättest haben können. Ich habe Dich dafür bewundert, dass Du Dich nicht ins "gemachte Nest" gesetzt hast, sondern etwas Eigenes geschaffen hast.
Auch wenn Du es mir vielleicht nicht abnimmst, aber ich habe Dich so hart behandelt, weil ich Dich möglichst gut auf das Leben vorbereiten wollte. Es war meine Art, Dir meine Liebe zu zeigen. Ich habe es leider nicht anders gelernt und Du hast es nicht verstanden - wie solltest Du auch?
Ich bin so stolz auf Dich, wie man nur stolz auf einen Sohn sein kann als Vater und heute wünsche ich mir, ich hätte etwas mehr von Deinem Wesen gehabt. Ich weiss, dass Du all' mein Geld nicht haben willst, aber ich bitte Dich um Eines:
Versuche meine Beweggründe zu verstehen und erkenne, dass auch dies Liebe ist und nimm diese Liebe für Dich mit. Dort wo ich bin, werde ich merken, wenn es so ist und es würde mich sehr glücklich machen. Nimm all' das an und lass' Dich davon erfüllen - denn es gibt nichts Wichtigeres und Grösseres im Leben.
Dein Vater
Sein Handy schellte. Es war seine Frau. Sie machte sich Sorgen - es war Mitternacht geworden.
Er hatte das Gefühl, diesen Brief heute Abend auch 1000mal gelesen zu haben.....
H.A. - hier genannt Tolkien