Der kleine Augenblick

gerry

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Der kleine Augenblick

Eines Tages begab es sich, dass ein kleiner Augenblick im Haus des Lebens das Licht der Welt erblickte. Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als eines Tages auf Erden Spaß zu haben, jeden Moment auszukosten und mit Freude da zu sein.

Der kleine Augenblick war aber nicht allein in dem Haus. Da war schon jemand, sie nannte sich Zukunft. Eine recht ulkige Person, die ebenso wie der kleine Augenblick Spaß am Dasein zu haben schien. Die Zukunft schlug dem kleinen Augenblick vor, ihn groß zu ziehen. Der kleine Augenblick war dankbar, denn er wollte ja so unendlich groß werden wie die Zukunft, und so hörte er sich an, was die Zukunft zu sagen hatte.

Die Zukunft sprach davon, wie alles sein könnte, was man alles tun könnte. In den buntesten Farben legte sie ihr weites Gewand dem kleinen Augenblick zu Füßen. Der kleine Augenblick müsse nur nach ihr greifen, und schon würde er wachsen, meinte die Zukunft. Doch sobald der kleine Augenblick nach ihr griff, verblasste sein Licht und die Zukunft veränderte sich. Mit der Zeit wurde das echt anstrengend, immer schwerer fiel es dem kleinen Augenblick zu begreifen, was die Zukunft eigentlich von ihm wollte.

In seiner Not wandte sich der kleine Augenblick an die, die ihn zur Erde geschickt hatten und fragte: „Ihr Engel, was will die Zukunft von mir?“

Die Engel antworteten: „Dass du erkennst, wie groß und mächtig du bist.“

„Aber ich bin doch noch immer so klein, und mächtig bin ich auch nicht – im Gegenteil, mein Licht ist blasser geworden und stattdessen habe ich die Farben der Zukunft angenommen“, sagte der kleine Augenblick.

„Doch, du bist groß und mächtig, nur siehst du es nicht. Es ist an der Zeit, dir einen neuen Mitbewohner zu schicken, damit du begreifst, wie wertvoll du bist.“

So schickten die Engel die Vergangenheit ins Haus des Lebens. Anders als die Zukunft war die Vergangenheit alles andere als ulkig, von Farbe keine Spur. Eine große, starke Person, die mit jedem Tag größer und stärker wurde. Die Vergangenheit schlug dem kleinen Augenblick vor, ihn stark zu machen und zu festigen. Der kleine Augenblick war dankbar, denn er wollte ja so unendlich stark werden wie die Vergangenheit, und so hörte er sich an, was die Vergangenheit zu sagen hatte.

Die Vergangenheit sprach davon, wie alles war und wie alles sein hätte können, wenn man dieses oder jenes getan hätte. Sie legte dem kleinen Augenblick ihr schwarzes Gewand zu Füßen. Der kleine Augenblick müsse nur nach ihr greifen, und schon würde er stark werden, meinte die Vergangenheit. Doch sobald der kleine Augenblick nach ihr griff, verblasste sein Licht und die Vergangenheit erstarrte. Mit der Zeit wurde das echt anstrengend, immer schwerer fiel es dem kleinen Augenblick zu begreifen, was die Vergangenheit eigentlich von ihm wollte.

In seiner Not wandte sich der kleine Augenblick an die, die ihn zur Erde geschickt hatten und fragte: „Ihr Engel, was will die Vergangenheit von mir?“

Die Engel antworteten: „Dass du erkennst, wie groß und mächtig du bist.“

„Aber ich bin doch noch immer so klein, und mächtig bin ich auch nicht – im Gegenteil, mein Licht ist blasser geworden und stattdessen habe ich die Starre der Vergangenheit angenommen.“, sagte der kleine Augenblick.

„Doch, du bist groß und mächtig, nur siehst du es nicht. Es ist an der Zeit, dir einen neuen Mitbewohner zu schicken, damit du begreifst, wie wertvoll du bist.“

So schickten die Engel das Schicksal ins Haus des Lebens. Der kleine Augenblick suchte nach dem neuen Mitbewohner, doch er konnte ihn nirgendwo entdecken. Jeden Winkel hatte er durchsucht, aber da waren nur Vergangenheit und Zukunft. Die Suche war so anstrengend, dass der kleine Augenblick sein Licht verlor. Traurig und finster kehrte er zu denen zurück, die ihn einst auf die Erde geschickt hatten.

„Ihr Engel, ihr habt mir einen neuen Mitbewohner geschickt, und ich konnte ihn nicht finden. Ich habe versagt, und so ist es nur recht und billig, wenn ich das Haus des Lebens freigebe für die, die verstehen.“

Doch die Engel antworteten: „Du hast nicht versagt. Kehre zurück und du wirst verstehen.“

Der kleine Augenblick folgte den Worten der Engel und kehrte ins Haus des Lebens zurück. Dort warteten Zukunft und Vergangenheit schon sehnsüchtig auf ihn. Von der Größe und Farbenpracht der Zukunft von einst war nichts zu sehen. Verzweiflung war in ihr Gesicht geschrieben und weinerlich flehte sie den kleinen Augenblick an: „Wenn du jetzt für immer aufhörst zu leuchten und nach mir zu greifen, werden meine Farben unsichtbar! Ich existiere ohne dich gar nicht, es tut mir leid, dass ich dich nicht gebührend geachtet und gepflegt habe, bitte kehre zurück!“

Auch die Vergangenheit sah anders aus, von ihrer Stärke war nichts geblieben, das Schwarz einem Aschgrau gewichen. Verzweiflung war auch in ihr Gesicht geschrieben und weinerlich flehte sie den kleinen Augenblick an: „Wenn du jetzt für immer aufhörst zu leuchten und nach mir zu greifen, zerbröckle ich. Ich existiere ohne dich gar nicht, es tut mir leid, dass ich dich nicht gebührend geachtet und gepflegt habe, bitte kehre zurück!“

Da flüsterte eine Stimme dem kleinen Augenblick zu: „Siehst du nun deine Macht? Es gibt keine Zukunft und keine Vergangenheit ohne den kleinen Augenblick! Das, was du tun wirst, gehört der Zukunft, und wenn du es getan hast, ist es Teil der Vergangenheit. Wenn du nichts tust, gibt es keine Zukunft und auch keine Vergangenheit, und weder Zukunft noch Vergangenheit haben die Macht, etwas zu tun – die hast allein du und es liegt in deinen Händen, was du tust. Du bist alleiniger Schöpfer im Haus des Lebens.“

Der kleine Augenblick wusste, dass es das Schicksal war, dessen Stimme so klar an sein Ohr drang. Er öffnete seine Hände und machtvolles Licht von nie da gewesener Schönheit durchflutete das Haus des Lebens. Die Vergangenheit hatte ihre Stärke wieder, die Farben der Zukunft erstrahlten im Licht des kleinen Augenblicks wie am ersten Tag, und der kleine Augenblick hatte seine Größe und Macht erkannt, dank des Schicksals, das er in seinen Händen hielt.

Alles Liebe
Gerry
 
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