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In hundert Jahren ist alles vorbei. Oder doch „Hundert Jahre Einsamkeit“ (ein schönes Buch von Gabriel Garcìa Màrquez)? Getrennt vom Ganzen ergibt Einsamkeit. Aber bleiben wir am (auf dem) Teppich. Auf dem fliegenden Teppich, der sich in Gittas Gummizelle befindet. Niemand anderer sieht ihn – kann ihn sehen.


Die Menschenwesen dieser Welt haben ihren sechsten Sinn verloren, den es damals noch gab, als Arima als dicker, kleiner Mann Ernst nach Hause geführt hat. Sie sehen nur gewöhnliche Teppiche, die am Boden liegen oder haften. Diese Staubfänger, die Allergiker quälen. Heute gibt es eh nur mehr Parkettböden oder Laminat oder Kork oder ähnliches. Gittas Boden federt. Er ist aus Gummi, wie wie Wände.




Wie kam der fliegende Teppich in die Zelle? Jemand brachte ihn. Dieser Jemand wurde auch nur von Gitta gesehen.


„Du erinnerst dich vielleicht nicht an mich, aber ich war es, der dich in diese Lage brachte“, sagte der Jemand, der wie aus dem Nichts urplötzlich in der Zelle erschien und einen zusammengerollten Teppich unter dem rechten Arm hielt, den er langsam ausbreitete und auf den Gummiboden legte. „Das ist ein fliegender Teppich, den nur du sehen kannst“, sprach der Jemand weiter. „Er bringt dich in andere Welten und hoffentlich in die richtige Welt, denn hier kannst du nichts mehr ausrichten. Hier ist alles zu spät, denn die Menschenwesen hier haben all ihre Magie verloren.“


„Und wie weiß ich, welche die richtige Welt ist?“ fragte Gitta ohne Scheu.


„Ganz einfach: Indem du dich auf den Teppich hockst und sagst: Bring mich in die richtige Welt.“




In hundert Jahren ist alles vorbei. Kann dies ein tröstlicher Satz sein, wenn alles zusammenbricht? Man erinnert sich an Alexis Sorbas, der in schallendes Gelächter ausbrach, als alles zusammenbrach. Er sah die Schönheit im Zusammenbruch. Als Dank dafür tanzte er Sirtaki.


Nimm das Leben nicht ernst, auch wenn es dir im Moment ernst (dramatisch, tragisch, traurig) erscheint. Kann man das so sagen? Und – worauf will ich hinaus, wenn Gitta doch eine Art Rettung bekam? Auf die (mögliche) Illusion dieser Welt, all dieser Leben. Man muss gar nicht so weit gehen. Man braucht sich nur zu sagen, welche Taten in hundert Jahren auch noch Sinn ergeben? Ein Medikament, das schwere Krankheiten ausgerottet hat? Glaubt nur das nicht, denn es kommen andere Krankheiten, neue Krankheiten nach. Und den Tod in Pension schicken macht auch keinen Sinn. Unsterblichkeit wäre ein noch größerer Fluch als immer wieder geboren zu werden. Es geht um Selbstfindung. Das ist das einzige, was zählt und ewigen Sinn macht, auch wenn es auf den ersten Blick egoistisch erscheint.


Realitätsverlust wäre, wenn wir vor einem Unglück stehen, das uns persönlich betrifft und wir sagen: „Ist alles nicht wahr. Es ist nie etwas geschehen.“ Man würde uns auf der Stelle, wie Gitta, in eine Gummizelle stecken. Aber es geht vorbei. Die Zeit heilt sicher nicht alle Wunden, denn sie bringt neue, aber sie ändert sich. Die Achterbahnfahrt des Lebens. Auf und ab. Bei manchen sind es mehr Abs als Aufs. Aber Gleichbleibend ist nie etwas. Gleichbleibend ist nur die Quelle.


Jetzt komm schon! Bringt schon deine Gedanken raus! Es ist schwer, diese Tiefe zu erklären, die man fühlt und genauso rüberbringen möchte. Es geht nicht – kann nicht gehen. Die Trennwände sind zu dick. Es lässt sich einfach nicht so sagen, schreiben, wie ich gerne möchte. Aber vielleicht sagen es doch diese Worte am besten: In hundert Jahren ist alles vorbei.




Gittas Trennwände sind es ebenso dick, denn sie hockt auf dem Teppich und weint. Gitta weint um sich selbst. Das ist etwas, was man überhaupt nicht tun soll und sofort hinterfragen muss. Wieso weine ich um mich? Gitta hört die innere Stimme und ich denke an Don Juans Mitzauberer, die es gar nicht gerne sahen, wenn sich ein Schüler selbst bemitleidete.


Das Selbstmitleid ist einer unserer schlimmsten Feinde, auch wenn es schlimmere gibt, nämlich die Angst, die Klarheit, die Macht und das Alter. Angst, Klarheit und Macht lassen sich überwinden, nicht aber das Alter. Seine Wirkung lässt sich aufschieben, aber nie lässt es sich überwinden. So schrieb Freund Carlos (Castaneda). Wir aber wollen die Welt überwinden und nach Hause zurück kehren.


Gitta will das auch. „Ein Versuch kann nicht schaden. Dann weiß ich wenigstens, dass ich wirklich verrückt bin“, sagt sie zu sich selbst und schließlich zum Teppich, auf dem sie hockt: „Bring mich in die richtige Welt!“




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