(Ver)Urteil(t)

D

Damura

Guest
Wie jeden Morgen ging ich die Straße entlang. Am Straßenrand stand eine alte Dame. Sie wollte gerade die Straße überqueren, wartete aber noch, weil sich ein Wagen näherte.
Als ich mit ihr auf einer Höhe war, stieß ich sie auf die Straße. Sie stolperte und fiel. Genau vor den Wagen, der mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Er berührte die alte Frau nur noch an der rechten Hand, die zerbrach. Ein Mann stieg völlig aufgelöst aus dem Wagen und kniete neben der alten Dame nieder.

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Der Mann hatte sich wieder mit seiner Frau gestritten, wie so oft. Doch heute morgen war es so schlimm gewesen, dass er sie geschlagen hatte und dann aus der Wohnung gestürmt war. Unterbewusst hatte er entschieden, dass er so nicht weiterleben wollte.
An der nächsten großen Kreuzung wäre er über die rote Ampel gefahren, tief in seinem Groll und seinen Gedanken und seiner Verzweiflung versunken. Er hätte den Unfall nicht überlebt. Der Schock, als er die alte Dame vor seinem Wagen liegen sah, machte ihm klar, wie schnell ein Leben vorbei sein kann.
Nach dem Büro an diesem Tag fuhr er an einem Blumenladen vorbei, kaufte seiner Frau einen Strauß Rosen und in einem Gespräch am Abend sagte er ihr, dass er so nicht mehr weiterleben wolle, dass er sie immer noch liebe und deshalb für einige Zeit ausziehen wolle. Sie beide sollten Zeit haben und Abstand voneinander bekommen, um sich darüber klarzuwerden, was ihnen ihre Ehe noch bedeute und wie es weitergehen soll.
Dann packte er ein paar Sachen zusammen und zog vorerst in die Pension eines befreundeten Paares.

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Die alte Dame war gerade mal wieder auf dem Weg einkaufen zugehen. Immer und immer wieder hatten die netten Nachbarn ihr angeboten, die schwereren Dinge für sie zu besorgen, aber sie hatte immer wieder stolz abgelehnt, obwohl sie es kaum noch schaffte die schweren Einkäufe in ihre Wohnung zu tragen. Auch der Haushalt fiel ihr immer schwerer, doch alle versuche des Sohnes und seiner Frau, ihr zu helfen, schlugen sie entrüstet aus.
Die Menschen um sie herum zogen sich mehr und mehr zurück. Sie war allein und wurde immer einsamer.
In dem Moment, als sie da auf dem Boden lag und die Räder des Wagens auf sich zukommen sah, sah sie ihr Leben in aller Klarheit. Den Tod vor Augen wurde ihr plötzlich klar, dass sie eigentlich schon tot war, dass sie sich selbst vom Leben vollkommen ausgeschlossen hatte und im Krankenhaus ließ sie ihren Sohn anrufen, der sofort zu ihr kam. Er besorgte ihr, was sie brauchte und noch am selben Nachmittag klingelte sie bei ihrem Nachbar, der sie schon so oft auf einen Kaffee eingeladen hatte und jeden Tag kam nun jemand, um nach ihr zu sehen und der Sohn engagierte eine Putz- und Zugehfrau, die der alten Dame die schwersten Arbeiten abnahm. Die alte Dame blühte auf und mit der Zeit wurde es zur Gewohnheit, dass sie und der nette ältere Herr von nebenan gemeinsam ihr Frühstück einnahmen.
Sie besuchten einen Seniorentreff und unternahmen zusammen noch viele schöne Reisen und Ausflüge.

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Ich wurde verhaftet und verurteilt wegen versuchten Totschlages.


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