Spirituelles Erlebnis

Ecaterina Soare

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6. November 2005
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Bukarest dematerialisiert



Langsam senkt sich die Dunkelheit über die herbstlich kühle Stadt. Grau in grau verschwimmen die wenigen Menschen mit den steinernen Wänden. Ich gehe mit schnellen Schritten, vorbei an geschlossenen Geschäften, Bettlern, in Hauseingängen eingerollten Hunden. Vorbei an der U-Bahn, die ich nun doch nicht nehme, weiter durch die langsam entschlafende Stadt. Wie ein Beobachter durch mein eigenes Leben. Passiere ein eng umschlungenes Pärchen. Das Mädchen weint leise an der Schulter des Jungen. Er hält sie reglos in den Armen und starrt mit leerem Blick in die Luft. Wahrscheinlich hat er ihr gerade gesagt, daß er sie verlassen wird. Ich bin die Zeit, die an euch vorbeischreitet, denke ich sanft.

Ich bin die Zeit. Aber wer seid ihr, ihr materialisierten Wesen, die ihr mich durch eure inkarnierten Augen hilflos anblickt? Wer seid ihr, ihr in Fleisch gegossene, vergessene Seelen? Warum sprecht ihr nicht mit mir? Haltet euch fest an euren Jeansjacken, an euren Handtaschen, an euren Händen, und geht immer weiter, immer weiter geradeaus. Haltet euch fest an euren Leben. Den Blick stets nach vorne. Weil die Welt nur dort existiert, wo man hinsieht. Gelebte kosmische Weisheit, zu Glaubenssätzen materialisiert. Ich aber stehe neben euch.

Ich bin der Raum, der euch umgibt. Ich bin das Gewebe, das uns alle einhüllt und verbindet. Meine Seele ist nur ein Punkt in diesem Gewebe. Ein vorübergehend gewählter Ausblick. Wie die Spinne im Netz beobachtet sie alle eure Bewegungen. Ihr Menschen, ihr Atome, ihr Moleküle. Wenn die Spinne ein Bein bewegt, erzittert das ganze Netz. Das rhythmisch widerhallende Klangmuster meiner Schritte auf der Straße verschmilzt mit dem kosmischen Gewebe, dessen Schwingungen alle Materie hervorbringt. Mich. Euch. Uns. Die Hunde in den Eingängen. Die Pflastersteine der Straße. Wir sind eins. Wir alle ziehen an den Fäden. Wir sind aus demselben Stoff, und doch gibt es da keinen Stoff. Alles ist Schwingung. Alles ist Energie. Verwoben zu einer einzigen kosmischen Melodie. Nicht einmal die Steine sind fest. Unser Glaube macht sie zu dem, was sie zu sein scheinen. Doch ihre Atome sind so leer wie der Himmel. Von dort blinken erste Sterne. Wie Augen, die auf uns herunter sehen. Ein funkelndes Auge zwinkert mir zu. Was mag der Himmel jetzt über mich denken? Ich schmunzle und zwinkere nach oben zurück.

Ich bin der Beobachter, der dieses Universum schafft. Ihr seid, weil ich euch sehe. Und wenn ihr aufhört, mich zu sehen, dann verschwinde ich aus eurem Universum. Ist dies der Grund, warum wir Menschen Energiespiele spielen, in denen es immer um Aufmerksamkeit geht? Wir müssen wechselwirken, um zu existieren. Unsere Gedanken müssen einander berühren, ihre Schwingungsmuster in Resonanz treten. Wenn ich einen Gegenstand ansehe, dann sehe ich nicht ihn, sondern interpretiere das Ereignis des reflektierten Lichts, das auf meiner Netzhaut auftrifft in meinem Gehirn. Und doch ist dies die einzig wirkliche Natur des Gegenstandes. Denn „wirk-lich“ ist nur, was wirkt. Also wechsel-wirkt. Licht mit Auge. Auge mit Gehirn. Atom auf meiner Hand mit Tastsinn mit Nerv mit Gehirn. Filter mit Filter mit Filter. Einschränkungen, die Perspektiven schaffen. Der Gedanke als Mikroskop zur Welt. Beobachter und Beobachtetes verschmelzen zu einer einzigartigen, bewußt ausgewählten Wirklichkeit.

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Ich denke an einen Freund und sehe sein Gesicht vor meinem inneren Auge. Habe plötzlich das Gefühl, daß auch er an mich denkt. Unsere Gedanken wechselwirken. Mir wird warm ums Herz. Gedanken produzieren Gefühle. Setzen sich in der Materie der Körperchemie um. Phasen ein in die Schwingungen der Raumzeitmatrix, welche die materielle Welt um uns herum simuliert. Raumschiff Enterprise life. Warum ist dieser Freund wichtig für mich? Warum ist er in mein gedankliches Blickfeld getreten? Gibt es da eine Resonanz in unseren Schwingungen? Fühlen wir uns mit Menschen verbunden, deren Gedanken mit den unseren in Resonanz treten? Um eine neue, gemeinsame Wirklichkeit zu schaffen? Ich bin der Gedanke, mit dem du deine Wirklichkeit schaffst, lieber Freund. Unsere Wirklichkeit. Ich komme vor in deiner Welt. Das sagt mir die Intensität, mit der du meine Aufmerksamkeit erzwingst. Ich bin ein Teil von dir. Ich sehe, fühle, rieche und schmecke dich. Wenn wir uns lieben, erschaffe ich dich mit allen Sinnen. Verstärkt das unsere Wirklichkeit?

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Ich schwebe weiter, in einem Netz aus Energie. Meine Schritte treten ins Leere. Nichts um mich herum fühlt sich mehr fest an. Es ist alles nur Fassade. Rechts der Victoriapalast aus massivem Beton. Er scheint meine Gedanken zu verhöhnen. Ich blicke einfach durch ihn hindurch. Potjemkinsches Dorf, ich durchschaue dich! Ich habe mir eine Bühne geschaffen, und ein Rollenspiel geschrieben. Dir, mir, euch, die ihr hier neben mir geht und mich ignoriert. Seht mich nur nicht an! Denn wer zusehen will, muß unweigerlich mitspielen, in diesem Materiespiel.

Ihr tut dies schon mit großem Ernst. Aber so war das nicht geplant. Seht ihr hier vielleicht irgendwo einen Regisseur? Das ist eure Welt, Jungs. Das ist eure Materie! Nicht sie hat euch geschaffen, sondern umgekehrt. Ihr könnt Wunder wirken. Ihr tut es täglich, mit erschreckender Routine. Nun kümmert euch gefälligst darum. Schaut euch doch den Scheiß an, den wir alle miteinander täglich produzieren. Tierversuche, Umweltsünden, Massenproduktion, künstliche Lebensmittel, Hunger, Krieg und Terror. Aber das will jetzt keiner gewesen sein. Wir sind die Maler, die sich selbstverliebt in die Zweidimensionalität ihrer Bilder zurückgezogen haben. Die Figürchen auf der Leinwand, die sich nach dem Schöpfer sehnen. Es ist so viel leichter ohne die Verantwortung. Erkenntnis ist wie ein Giftpilz, den man nur einmal essen kann. Sonst droht Transformation. Und Transformation ist ein kleiner Tod. Über den Tod aber spricht man nicht. Der Tod ist ein Tabu. Ein Tabu zur Verhinderung von Schmerz. Seht mich nur nicht an! Denn ich bin euer Schmerz.

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Bukarest im Nebel der Dämmerung. Die Welt wird transparent. Das Kopfsteinpflaster dematerialisiert vor meinen Augen. Der Aviatorilor schlägt dreimal mit den Schwingen, als wollte er sich in die Lüfte erheben. Meine Augen tränen in der kalten Luft. Ich ziehe mich in mein Inneres zurück. Finde mich wieder in Deinen Armen. Nicht den Armen aus Fleisch und Blut, denn Materie ist träge. Aber auch die materielle Realität wird meinen Gedanken folgen. Ich schwebe durch die Allee aus Linden wie ein Geist ohne Beine. Es gibt keine Zeit mehr. Bin ich unterwegs oder angekommen? Die Zustände überlagern sich und ich suche mir einen aus. Stecke den metallenen Schlüssel in das kalte, harte Schloß. Welch symbolische Handlung, die sich hier materialisiert hat. Zu welchem Geheimnis erhalte ich hier tagtäglich Zugang? Sind es meine eigenen Glaubenssätze? Habe ich sie jemals hinterfragt?
Ich trete ein in die Magie des Alltags, die alle Sekundenbruchteile meine vier Wände erschafft. Durchscheinende Wände zu anderen Welten, mit anderen Wesen. Wenn ich es zulasse. Ein leuchtendes Wesen schwebt plötzlich über mir im Raum, durchflutet von Licht und Wärme. Es ist nicht aus dem Fernseher gekommen. Aber ist es deswegen weniger beachtenswert? Wer bist du, bärtiger Fremder mit den starken Armen? Ich weiß es im gleichen Augenblick. Habe ich dir diese Gestalt gegeben? Oder hast du sie meinetwegen gewählt? Ein Schmunzeln blitzt über mein Gesicht. Ertappt. Glaubenssätze, nicht nur in der materiellen Welt. Ich habe dich nicht gerufen. Oder vielleicht doch? Habe ich aus Versehen den Hörer von der Gabel gestoßen, der mich mit anderen Welten verbindet? Der Raum flimmert in transparentem Licht. Das Wesen sendet auf allen Kanälen. Ich öffne meine Seele und empfange seine Botschaft mit allen Sinnen:

Wer liebt, ist untrennbar.


Es ist nicht der einfache kleine Satz. Es ist die spontane emotionelle Intensität dieser Erkenntnis, die den Raum durchflutet. Ich bin überwältigt. Tränen der Freude laufen über meine Wangen. Denn plötzlich weiß ich es, mein lieber Freund. Das Schicksal wird unsere Lebensbänder miteinander verweben. Irgendwie, irgendwann. Es wird uns unvermeidlich vereinen. Ich muß nichts dazu tun. Außer dich zu lieben. Was könnte leichter sein als das?
Das Wesen sagt mir jetzt, ich sei der Kelch der Liebe! Ich fühle seine Worte in meinem Herzen. Sie sind der Schlüssel zu allen Wünschen - zu allem, was ich jemals wissen wollte.

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Ich bin die Zeit. Ich bin der Raum. Ich bin ein Auge in der Raumzeit, das durch viele Brillen sieht.

Ich bin der Schmerz, der ohne Raum und Zeit nicht sein kann. Der Schmerz durch all die längst zu schweren und zu starken Brillen. Der Schmerz der Angst vor dem Tod.

Ich bin der Kelch der Liebe. Denn Liebe transzendiert den Schmerz. Liebe ist Wissen und Wahl. Liebe ist Veränderung, Schaffen und Weitergehen. Liebe ist Licht und zieht Liebe an. Liebe ist das Wissen um die Einheit aller Dinge.

Die Erkenntnis von der Transformation des Schmerzes ist jetzt 2005 Jahre alt. Sie ist die eigentliche Botschaft der Auferstehung. Jesus ist zu Lebzeiten nie in Bukarest gewesen. Aber vielleicht hat das Ende der Suche nach dem heiligen Gral jetzt hier begonnen?


(Erlebt am 29.10.05, geschrieben am 05.11.05)
 
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